Heinrich von Kleist
Die Marquise von O....
dtv, 2010
Was ist drin?
Kleists verstörende Geschichte einer Liebe wider jede Vernunft.
- Novelle
- Romantik
Worum es geht
Existenzielle Krise und Selbstfindung
Als Heinrich von Kleists Marquise von O.... 1808 erschien, waren sich Leser und Kritiker einig: Ein unerhörter Skandal! Und auch heute noch wirkt die Geschichte der Frau, die ohne ihr Wissen schwanger wird und am Ende ihren Vergewaltiger nicht nur heiratet, sondern auch noch von Herzen liebt, ungeheuer verstörend. Die Titelheldin Julietta von O... verstößt gegen alle familiären und gesellschaftlichen Konventionen. Ganz auf sich allein gestellt durchläuft sie eine schwere existenzielle Krise – und findet schließlich zu sich selbst. Man mag darin frühe Ansätze einer weiblichen Emanzipation, Kritik an der bürgerlichen Familie oder auch die präzise psychologische Studie einer Traumatisierung erkennen. Kleists vollkommen nüchtern und unsentimental geschriebene, dabei aber atemlos vorwärtsdrängende Novelle lässt vielerlei Lesarten zu – und genau darin liegt ihre Modernität. Gegen das optimistische Menschenbild der Aufklärung, das der Vernunft höchste Priorität einräumt, lässt Kleist seine Figuren an ihrem eigenen Denken, Fühlen und Handeln zweifeln. Ein Klassiker, der mit Leidenschaft die klassische Balance von Gefühl und Verstand zerstört.
Take-aways
- Kleists Novelle Die Marquise von O.... gehört zu den meistinterpretierten Texten der deutschen Literatur.
- Inhalt: Die Marquise von O…, eine Witwe, ist unwissentlich geschwängert und von der eigenen Familie verstoßen worden. Auf ihre Zeitungsannonce, mit der sie den Erzeuger sucht, meldet sich Graf F…; er hat sie im Krieg vergewaltigt, als sie bewusstlos war. Um das Ungeborene vor Schande zu bewahren, heiratet sie ihn – und lernt mit der Zeit, ihn zu lieben.
- Die Novelle ist spannend wie eine Kriminalgeschichte und in nüchternem, aber mitreißendem Stil geschrieben.
- Das Motiv der unwissentlichen Schwangerschaft übernahm Kleist wahrscheinlich von Michel de Montaigne und Jean-Jacques Rousseau.
- Die Marquise von O.... ist eine Geschichte früher weiblicher Emanzipation.
- Kleist thematisiert darin die Brüchigkeit der patriarchalischen, bürgerlichen Familie.
- Dem optimistischen Menschenbild der Aufklärung setzt er die Unzuverlässigkeit menschlichen Handelns und Fühlens entgegen.
- Bei ihrem Erscheinen wurde die Erzählung als skandalös und unsittlich empfunden.
- Eric Rohmer verfilmte die Geschichte 1976 mit Edith Clever und Bruno Ganz.
- Zitat: „Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen.“
Zusammenfassung
In den Wirren des Krieges
Nach dem Tod ihres Mannes lebt die Marquise Julietta von O... zusammen mit ihren beiden Kindern im Haus ihres Vaters, des Kommandanten von G... Dort widmet sich die Dame, die in der der Gesellschaft den besten Ruf genießt, neben der Erziehung ihrer Kinder den schönen Künsten, der Malerei und der Lektüre von Büchern. Doch der Krieg reißt sie aus ihrem beschaulichen Leben: Die Festung, in der sich ihre Familie aufhält, wird von russischen Truppen belagert, bombardiert und gestürmt. In dem allgemeinen Durcheinander verliert man einander aus den Augen, und die Marquise fällt einer Horde Soldaten in die Hände.
„In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwittwete Marquise von O.... (...) durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sey; daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebähren würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familien-Rücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heirathen.“ (S. 7)
Da taucht plötzlich ein vornehmer russischer Offizier auf und gebietet dem brutalen Treiben Einhalt. Er führt die Dame in einen anderen Teil des brennenden Schlosses, wo sie bewusstlos niedersinkt. Nachdem sie aus ihrer Ohnmacht erwacht ist, möchte sie ihrem Retter danken. Sie erfährt, dass es sich um den hochdekorierten Offizier Graf F... handelt. Doch der Graf ist angesichts des Krieges zu beschäftigt, um bei ihr vorzusprechen. Am nächsten Tag dankt der Kommandant dem russischen General für die Schonung seiner Leute und hebt besonders die gute Tat des Grafen F... hervor. Dieser wirkt beschämt, als er öffentlich vom General gelobt wird. Auf dessen Frage, wer die Soldaten seien, die die Marquise so schändlich behandelt hätten, gibt er vor, in der Dunkelheit niemanden erkannt zu haben. Dennoch werden die fünf Männer gefasst und nach einem kurzen Verhör erschossen.
„Alle kamen darin überein, daß sein Betragen sehr sonderbar sei, und daß er Damenherzen durch Anlauf, wie Festungen, zu erobern gewohnt scheine.“ (über Graf F..., S. 25)
Als die Marquise nach Abzug der Truppen den Grafen ausfindig machen möchte, um ihm für seinen lebensrettenden Einsatz zu danken, erhält sie die Nachricht von seinem Tod. Es heißt, er sei auf dem Schlachtfeld gefallen und habe sterbend Juliettas Namen ausgerufen. Die Marquise ist zunächst traurig und versucht herausfinden, wer ihre Namensvetterin ist, an die der Graf so kurz vor seinem Tod dachte. Doch bald vergisst sie den Vorfall und kehrt in ihren Alltag zurück. In der Stadt M..., in die sie mit der Familie nach dem Ende des Krieges gezogen ist, nimmt sie ihr altes Leben wieder auf. Allein die wiederholten Übelkeitsschübe und Schwindelanfälle bereiten ihr Sorge, und wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie meinen, sie sei schwanger.
Ein stürmischer Heiratsantrag
Nach dem Krieg stößt der Forstmeister von G..., Sohn des Kommandanten und Bruder der Marquise, zur Familie. Und er ist nicht der Einzige: Zur Überraschung aller steht eines Tages der tot geglaubte Graf F... vor der Tür und macht der Marquise unumwunden einen Heiratsantrag. Er sei schwer verwundet gewesen und habe während seiner Genesung nur an die Marquise gedacht. Der Kommandant betont die Dankbarkeit seiner Tochter gegenüber ihrem Lebensretter, bittet sich aber zugleich Bedenkzeit aus. Doch der Graf drängt zu einer schnellen Entscheidung: Er sei in einem wichtigen dienstlichen Auftrag nach Neapel unterwegs und wolle sich noch vor seiner Abreise Gewissheit über die Heiratsabsicht der Marquise verschaffen. Im Übrigen sei er ein ehrbarer Mann, der in seinem Leben nur einen einzigen Fehler begangen habe. Und er sei in diesem Augenblick dabei, ihn wiedergutzumachen.
„Die Marquise antwortete, mit einiger Verlegenheit: er gefällt und mißfällt mir; und berief sich auf das Gefühl der Anderen.“ (über Graf F..., S. 30)
Der Kommandant zweifelt weder am vornehmen Charakter des Grafen noch an seinen guten Absichten, will die Sache aber nicht überstürzen. Eine so weit reichende Entscheidung, die das künftige Lebensglück der Marquise betreffe, müsse sehr sorgfältig bedacht werden. Er schlägt vor, dass die beiden sich erst einmal näher kennen lernen und lädt Graf F... ein, nach seiner Rückkehr für einige Zeit bei ihnen zu wohnen. Doch der Graf zeigt sich ungeduldig und lässt sich nicht auf später vertrösten: Wenn ein Kennenlernen denn unbedingt nötig sei, so werde er seine Dienstreise eben absagen und noch heute für ein paar Wochen in das Haus des Kommandanten einziehen.
„Welch ein Zustand? Wenn dein Gedächtniß über die Vergangenheit so sicher ist, welch ein Wahnsinn der Furcht ergriff dich?“ (Frau von G... zur Marquise, S. 39 f.)
Nach der anfänglichen Freude über den Heiratsantrag schwankt die Familie der Marquise nun zwischen Befremden und Ärger. Das überstürzte, ja fast schon unverschämte Verhalten des Grafen, seine allzu feurige Liebeserklärung und seine Pflichtvergessenheit erscheinen dem Vater und dem Bruder der Marquise vollkommen inakzeptabel. Dagegen hebt Frau von G..., die sich schon seit Längerem die Wiederverheiratung ihrer Tochter wünscht, die guten Eigenschaften des Grafen hervor. Die Marquise selbst ist beschämt und irritiert, zeigt sich aber bereit, den Grafen – sofern er sich erst einmal um seine Dienstangelegenheiten kümmert – nach seiner Rückkehr zu heiraten.
Wer ist der Vater?
Während der Graf in Neapel weilt, zieht man Erkundigungen über ihn ein. Alles scheint bestens, einer Verlobung steht nun nichts mehr im Weg. Allerdrings verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Marquise rapide. Der herbeigerufene Arzt bestätigt ihren vollkommen verrückten Verdacht: Sie ist schwanger. Wie die Marquise selbst ist auch Frau von G... zutiefst entsetzt. Der Arzt muss sich entweder getäuscht haben oder einen üblen Scherz mit ihnen treiben! Als die Marquise indes eine Hebamme holen will, um sich Gewissheit über ihren Zustand zu verschaffen, beginnt Frau von G... an ihrer Tochter zu zweifeln. Wozu eine Hebamme, wenn sie sich doch sicher ist, dass sie mit keinem Mann geschlafen hat? Einen Fehltritt könnte sie ihrer Tochter noch verzeihen, eine Lüge aber nicht. Doch auch nach dem Besuch der Hebamme, die zweifelsfrei eine Schwangerschaft feststellt, ist die Marquise nicht imstande, den Namen des Vaters zu nennen. Sie ist sich keiner Schuld bewusst, sondern glaubt vielmehr, wahnsinnig geworden zu sein.
„Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eignen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.“ (über die Marquise, S. 45)
Der Verzweiflung der Marquise zum Trotz bestehen ihre Eltern darauf, dass sie das Haus verlässt, und weigern sich, auch nur mit ihr zu reden. Als sie ihren Vater anfleht, sie anzuhören, greift er nach der Pistole, aus der sich ein Schuss löst – zum Schrecken der Marquise, die aus dem Zimmer flieht. Auch der Bruder wendet sich gegen sie; kalt richtet er lediglich die Anweisungen der Eltern aus. Dem Befehl des Vaters, ihre beiden Kinder dazulassen, verweigert sich die Marquise. Mit erhobenem Haupt reist sie in der Kutsche ab. Sie ist zufrieden mit sich selbst und von ihrer Unschuld überzeugt. Nun freut sie sich sogar auf die Geburt ihres Kindes, von wem auch immer es sein mag. In der stillen Abgeschiedenheit des Familiengutes, auf das sie sich zurückgezogen hat, bereitet sie sich darauf vor. Sie will sich künftig von aller Welt fernhalten und damit auch ihr unschuldiges Kind vor der drohenden Verachtung durch die bürgerliche Gesellschaft bewahren. Gestärkt aus ihrer erzwungenen Selbstständigkeit hervorgegangen, gibt sie in der Zeitung eine Anzeige auf: Sie, die Marquise von O..., sei ohne ihr Wissen schwanger geworden und fordere den Vater ihres ungeborenen Kindes dazu auf, sich zwecks Heirat bei ihr zu melden.
„Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen.“ (über die Marquise, S. 45)
Als der Graf F..., inzwischen aus Neapel zurückgekehrt, von der ganzen Angelegenheit erfährt, besteht er zur Überraschung der Familie von G... erst recht auf einer Heirat. Er sucht die Marquise auf ihrem Landsitz auf. Obwohl sie die Anweisung gegeben hat, niemanden einzulassen, gelangt er heimlich in den Garten, wohin sie sich zurückgezogen hat. Tief gerührt vom Anblick der Hochschwangeren umarmt er sie und beteuert ihr seine Liebe, die stärker sei als alle widrigen Umstände. Doch die Marquise weist ihn zurück, flüchtet vor ihm und schließt sich im Haus ein. Erst später erfährt der Graf durch den Forstmeister von der Anzeige, die die Marquise aufgegeben hat. Jetzt weiß er, was zu tun ist.
Der Beweis der Unschuld
In der Familie der Marquise hat die Anzeige unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Während Frau von G... milde gestimmt und zu einer Versöhnung bereit ist, hat sich der Kommandant mit aller Konsequenz von seiner Tochter losgesagt. Selbst als sich in der nächsten Zeitungsausgabe ein Unbekannter als der Vater des Kindes offenbart und für einen bestimmten Tag seinen Besuch bei der Familie ankündigt, ist er überzeugt davon, dass es sich nur um eine List der Marquise handle, die damit von ihrer Schuld ablenken wolle. Gemeinsam mit ihrem Liebhaber habe sie die Geschichte mit den Anzeigen inszeniert. Seiner Frau, die inzwischen geneigt ist, ihrer Tochter zu glauben, fährt er barsch über den Mund und verbietet ihr jeden Kontakt zur Marquise.
„Nur der Gedanke war ihr unerträglich, daß dem jungen Wesen, das sie in größter Unschuld und Reinheit empfangen hatte, ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben sollte.“ (über die Marquise, S. 46)
Ohne das Wissen ihres Mannes reist Frau von G... zum Landsitz der Familie. Nach einer tränenreichen Begrüßung offenbart sie der Marquise, der gesuchte Vater des Kindes habe sich schon am Tag zuvor bei ihnen eingefunden – eine Lüge, mit der sie die Tochter auf die Probe stellen will: Akzeptiert sie den Mann, der ihr als Vater ihres Kindes vorgesetzt wird, so kann sie ihre Anzeige nur ehrlich gemeint haben. Widersetzt sie sich hingegen, weil sie genau weiß, dass ein anderer sie geschwängert hat, dann liegt der Kommandant mit seinem Verdacht, das Ganze sei ein abgekartetes Spiel, tatsächlich richtig.
„Der Graf erwiederte, daß sie mehr werth wäre, als die ganze Welt, die sie verachtete; daß ihre Erklärung über ihre Unschuld vollkommnen Glauben bei ihm fände; und daß er noch heute nach V... gehen, und seinen Antrag bei ihr wiederholen würde.“ (S. 48)
Die Tochter scheint über diese Nachricht ehrlich überrascht. Auf die drängende Frage der Marquise, wer sich denn als Vater ihres Kindes gemeldet habe, nennt Frau von G... Leopardo, einen Diener ihres Mannes, der bereits draußen vor der Tür warte. An der tiefen Erschütterung der Tochter und ihrer Bereitschaft, den Mann trotz seines niederen Standes zu heiraten, erkennt die Mutter ihre Unschuld. Reumütig bittet sie die Marquise, nach Hause zurückzukehren, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Gegen den Vater, den Bruder und die ganze Welt will sie in Zukunft zu ihrer Tochter halten, wenn diese ihr bloß verzeihe, dass sie verstoßen wurde.
Versöhnung mit der Familie
Die Rückkehr von Mutter und Tochter ins väterliche Haus gleicht einem Triumphzug. Schon bald gelingt es Frau von G..., ihren Mann von der Unschuld der Marquise zu überzeugen. Er sei untröstlich über sein Fehlverhalten, berichtet sie der Tochter, und weine wie ein kleines Kind. Wenn er jedoch nicht noch am selben Abend persönlich vor der Marquise erscheine und sie um Verzeihung bitte, werde Frau von G... sich von ihm abwenden und gemeinsam mit der Marquise das Haus verlassen. Da betritt der Kommandant den Raum, laut heulend und in tiefster Demut. Er kann sich vor Scham und Schmerz kaum gerade halten. Doch zu einer Entschuldigung ist er zum Ärger seiner Frau, die den Raum verlässt, nicht in der Lage. Frau von G... sorgt sich um den Gesundheitszustand ihres Mannes. Hat ihm die Aufregung vielleicht doch allzu sehr zugesetzt? Aus dem Zimmer, in dem der Kommandant und die Marquise sind, dringt leises Murmeln. Sie wirft einen Blick durch das Schlüsselloch und traut ihren Augen kaum. Ihre Tochter sitzt auf dem Schoß des Vaters, was er noch nie zugelassen hat. Als sie die Tür öffnet, findet sie die beiden eng umschlungen wie zwei Verliebte. Ohne die Mutter zu bemerken, streicheln und küssen sie sich. Diese ist gerührt von dem Anblick und führt Vater und Tochter, die wie ein Brautpaar auftreten, zum Abendbrot.
Teufel oder Engel?
Am Morgen des nächsten Tages, für den der Vater des ungeborenen Kindes sein Erscheinen angekündigt hat, herrscht große Spannung. Die Eltern der Marquise und auch ihr Bruder sind nun für eine Hochzeit – es sei denn, der Bräutigam stehe zu weit unter ihren Verhältnissen. Die Marquise selbst neigt in jedem Fall zur Heirat, weil sie ihrem Kind einen Vater geben will. Festlich gekleidet erwarten Mutter und Tochter den Unbekannten. Zur vereinbarten Uhrzeit wird ein Gast angekündigt: Es ist Graf F... Der kommt nun ganz und gar ungelegen, aber es ist zu spät, um ihn fortzuschicken. Als er weinend vor der Marquise in die Knie geht, erkennt sie wie vom Schlag getroffen, dass er der Gesuchte ist. Die Mutter, ebenfalls völlig überrascht, spricht ihr gut zu, doch die Marquise ist wie von Sinnen. Auf alles sei sie gefasst gewesen, aber nicht auf den Teufel, ruft sie. Diesen Mann könne sie nicht heiraten.
„Er ließ sich von Neuem vor der Marquise nieder, er faßte leise ihre Hand, als ob sie von Gold wäre, und der Duft der seinigen sie trüben könnte. Doch diese – : gehn Sie! gehn Sie! gehn Sie! rief sie, indem sie aufstand; auf einen Lasterhaften war ich gefaßt, aber auf keinen – – – Teufel!“ (der Graf und die Marquise, S. 71)
Die Eltern der Marquise jedoch zeigen sich versöhnlich gegenüber dem Grafen, und schon am nächsten Morgen findet die Hochzeit statt. Die Marquise, nunmehr Gräfin, würdigt ihren Mann indes keines Blickes. Allein kehrt sie in ihr Elternhaus zurück, während ihr Gatte, der auf alle Rechte verzichtet und ihr für den Fall seines Todes sein gesamtes Vermögen überträgt, eine Wohnung in der nahen Stadt bezieht. Erst allmählich erlangt er durch sein tadelloses Verhalten das Vertrauen und die Zuneigung der Marquise, die inzwischen auch die Mutter seines Sohnes ist. Nach einem Jahr heiraten die beiden erneut – diesmal verliebt und glücklich. Als der Graf seine Frau später einmal fragt, warum er ihr an jenem Tag als Teufel erschienen sei, erwidert sie: Weil sie ihn bei ihrer ersten Begegnung für einen Engel hielt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Marquise von O.... ist ein Text aus einem Guss, lediglich unterteilt in einige Absätze. Bereits im ersten Satz wird der Kern der Handlung – eine adlige Frau ist unwissentlich schwanger geworden und bietet sich per Anzeige dem Vater des Kindes zur Heirat an – auf plakative Weise zusammengefasst. Kleists Erzählung entspricht dem Typus der Novelle, die nach Goethe „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ zum Inhalt haben sollte. In Rückblenden wird die Vorgeschichte, spannend wie in einem Kriminalroman, nach und nach aufgedeckt. Die Novelle ist reich an Dialogen, die in den Erzähltext eingefügt sind. Plötzliche Abbrüche und Ellipsen sind bezeichnend für Kleists Stil, der etwas Atemloses, Drängendes, ja fast Überstürztes hat. Auf eine Innensicht der Figuren verzichtet der Autor gänzlich. Dafür beschreibt er ausgiebig deren Gestik und Mimik. Gerne spielt Kleist in der Marquise von O.... mit dem Bedeutungsgehalt von Zeichen. So etwa deutet der Gedankenstrich in dem Satz „Hier – traf er (...)“ bereits am Anfang der Erzählung an, dass der Graf sich an der ohnmächtigen Marquise vergeht. Der hervorstechende Buchstabe „O“ in ihrem Namen kann als Symbol für die Schwangerschaft gelesen werden.
Interpretationsansätze
- Kleists Novelle ist eine frühe Geschichte weiblicher Emanzipation. Indem die Marquise sich von allen familiären und gesellschaftlichen Konventionen löst, findet sie zu sich selbst. Zwar beugt sie sich ihrem Kind zuliebe dem Zwang der bürgerlichen Gesellschaft und heiratet den Grafen, doch nur im Besitz ihrer neu gewonnenen Eigenständigkeit.
- Eine zentrale Rolle spielt das Motiv des Militärischen: Zum einen trägt sich die Geschichte im Krieg zu, zum anderen belagert der Graf die Familie von G... förmlich und will die Marquise im Sturm erobern.
- Das Motiv der unwissentlichen Empfängnis ist in der Literaturgeschichte von Boccaccio und Cervantes bis Rousseau bekannt. Vermutlich wurde Kleist durch eine Anekdote in Michel de Montaignes Essay über die Trunksucht sowie durch Jean-Jacques Rousseaus Julie oder die neue Héloїse inspiriert.
- Wie vor ihm schon Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller im bürgerlichen Trauerspiel thematisiert Kleist die Brüchigkeit der patriarchalen Familienverhältnisse. Vordergründig herrscht der Vater, im Hintergrund aber zieht die Mutter die Fäden.
- Kleist zeichnet den Grafen F... als widersprüchlichen Charakter – weder edler Retter noch böser Verführer. Am Ende erkennt die Marquise ihren einstmals idealisierten, später dann dämonisierten Gatten als Menschen mit Stärken und Schwächen und wird erst dadurch zur wahren Liebe fähig.
- Ob die Marquise bei der Vergewaltigung tatsächlich ohnmächtig war, Bewusstlosigkeit vortäuschte oder sich aufgrund einer Traumatisierung schlicht nicht erinnerte, bliebt offen. Kleist selbst gab den Spekulationen Nahrung, indem er nach Erscheinen der Erzählung ein Gedicht veröffentlichte, in dem er die moralische Entrüstung seiner Kritiker spöttisch nachahmte und behauptete, seine Heldin habe nur die Augen zugemacht.
- Dem optimistischen Menschenbild der Aufklärung setzte Kleist mit seiner Novelle die Unberechenbarkeit menschlichen Fühlens und Handelns entgegen. So unzuverlässig das Verhalten aller Figuren ist, so wenig lässt es sich rational erklären.
Historischer Hintergrund
Familie und Ehe im Umbruch
Bereits im 18. Jahrhundert war die patriarchalische Familie als Hausgemeinschaft mit dem Paterfamilias als unangefochtenem Oberhaupt in Auflösung begriffen. Die einstige Großfamilie, zu der auch das Gesinde zählte, wich der bürgerlichen Kleinfamilie, die sich als intime, private und emotionale Einheit klar von der Außenwelt abgrenzte. Dennoch waren Frau und Kinder dem Ehemann und Vater, der in seinem kleinen Herrschaftsbereich mit nahezu absoluter Macht regierte, weiterhin unterworfen. Eine bürgerlich gesicherte Existenz außerhalb der Ehe war für Frauen kaum möglich. Selbst eine mündige Tochter unterstand der väterlichen Gewalt, sofern sie noch im Haus der Eltern lebte. Die Zweckgebundenheit der Institution Ehe spiegelte sich auch in der Gesetzgebung wider: Nach dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 diente die Ehe allein der Zeugung und Aufzucht der Nachkommenschaft – Gefühle oder gar Liebe dagegen spielten eine untergeordnete Rolle. Eine ähnlich pragmatische Sich vertrat noch Immanuel Kant, für den die Ehe eine gesetzliche Einrichtung zur Regelung des Geschlechtstriebs war.
Dagegen entwickelte Johann Gottlieb Fichte um die gleiche Zeit eine differenzierte und zugleich gefühlsbetontere Sichtweise der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Der Jenaer Philosoph nannte die Liebe als primären Grund für die Ehe und übte damit großen Einfluss auf Romantiker wie Novalis und Friedrich Wilhelm Schlegel aus. Ehe und Familie erklärte er zur Privatsache, in die der Staat sich nicht einzumischen habe. Individuelle Gefühle sollten eine größere Rolle spielen als institutionelle Vorgaben, freilich ohne dass an der Rollenverteilung der Geschlechter gerüttelt wurde. Die Frau, deren Geschlechtstrieb sich nur in reiner Liebe äußern dürfe, solle sich ganz den häuslichen Pflichten widmen, sich um das Wohl des Mannes kümmern und sich diesem völlig unterwerfen – allerdings nicht aus rechtlichen, sondern allein aus moralischen Gründen.
Entstehung
Als erfolgloser, junger Dichter zog Heinrich von Kleist in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts rastlos umher. Während eines längeren Aufenthalts in Paris erlebte er eine schwere Lebens- und Schaffenskrise. In einem Anfall von Lebensüberdruss meldete er sich freiwillig als Soldat bei der napoleonischen Armee. Wenn er schon als Dichter scheitern sollte, dann wollte er wenigstens den Soldatentod sterben – ganz gleich auf welcher Seite. Daraus wurde jedoch nichts. In der Folgezeit bemühte er sich um eine geordnete, bürgerliche Existenz. 1805 begann er eine Ausbildung im Finanzministerium und wurde nach Königsberg geschickt. Frei von finanziellen Sorgen erlebte Kleist hier eine sehr produktive literarische Phase. Im Sommer 1806 entschloss er sich endgültig, die Beamtenlaufbahn aufzugeben und als freier Schriftsteller zu leben.
Nach der Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806, die das Ende Preußens als europäische Großmacht besiegelte, wurde Kleist unter dem Verdacht der Spionage verhaftet. Scheinbar unbeeindruckt von den äußeren Umständen dichtete er in französischer Gefangenschaft weiter. Auf einer Festung im Juragebirge arbeitete er an seinem Drama Penthesilea und auch an der wahrscheinlich schon in Königsberg begonnenen Marquise von O.... In Dresden, wo er sich nach seiner Freilassung 1807 niederließ, gründete er zusammen mit Adam Müller die Zeitschrift Phöbus, die sich deutlich von den vielen Kulturjournalen jener Zeit abhob. Sie brach mit den ästhetischen Gewohnheiten ihrer klassisch gebildeten Leserschaft. Die Marquise von O.... erschien in der zweiten Nummer der Zeitschrift, die bereits nach einem Jahr wieder eingestellt wurde.
Wirkungsgeschichte
Wie schon auf das in der ersten Nummer des Phöbus abgedruckte Fragment aus Penthesilea reagierte das Publikum auch auf die Marquise von O.... mit Befremden. Die meisten Leser wie auch die Kritiker empfanden die Novelle als skandalös und unmoralisch. Kleists Sprache wurde als steif, hölzern und „undeutsch“ bezeichnet. Erst gegen Ende des Jahrhunderts begann man allmählich die literarische Qualität und psychologische Tiefendimension des Werks zu erkennen, das die Literaturwissenschaft bis heute beschäftigt. Zugleich erfuhr die Novelle eine Reihe von filmischen und dramatischen Bearbeitungen. Deutlich verfremdet erscheint sie in der Bearbeitung des Schriftstellers Hartmut Lange, der die Marquise in seiner Adaption Die Gräfin von Rathenow (1969) als Parabel auf die französisch-preußische Geschichte zur Zeit Kleists deutete. Auf originalgetreue Weise verfilmte Eric Rohmer Die Marquise von O.... 1976 mit Edith Clever und Bruno Ganz in den Hauptrollen.
Über den Autor
Heinrich von Kleist wird am 18. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder geboren, er stammt aus einer preußischen Offiziersfamilie. Als junger Gefreiter-Korporal nimmt er im ersten Koalitionskrieg gegen Napoleon an der Belagerung von Mainz und am Rheinfeldzug (1793 bis 1795) teil. Bald fühlt er sich vom Offiziersberuf abgestoßen und wendet sich der Wissenschaft zu. Durch seine Kant-Lektüre verliert er jedoch den Glauben an einen objektiven Wahrheitsbegriff und erkennt, dass er nicht zum Gelehrten geschaffen ist. Ebenso wenig fühlt sich der enthusiastische Kleist zum Staatsdiener berufen. 1801 bricht er aus seiner bürgerlichen Existenz aus, reist nach Paris und später in die Schweiz, wo er als Bauer leben will. Doch auch daraus wird nichts. Schon während seiner Zeit in Paris beginnt Kleist zu dichten. Seine Theaterstücke, die heute weltberühmt sind, bleiben zunächst erfolglos. Von 1801 bis 1811 entstehen unter anderem die Tragödien Die Familie Schroffenstein (1803), Robert Guiskard und Penthesilea (beide 1808), außerdem Das Käthchen von Heilbronn (1808), Die Hermannsschlacht (1821 postum erschienen), die Komödien Amphitryon (1807) und Der zerbrochne Krug (1808) sowie die Erzählungen Die Marquise von O.... (1808), Das Bettelweib von Locarno (1810) und Die Verlobung in St. Domingo (1811). 1810 verweigert der preußische Staat Kleist, der nach Stationen in Königsberg und Dresden wieder in Berlin lebt, eine Pension. Auch aus dem Königshaus erhält er keine Anerkennung, obwohl er der Schwägerin des Königs das patriotische Stück Prinz Friedrich von Homburg widmet. Dennoch ist es wohl weniger äußere Bedrängnis als innere Seelennot, die Kleist schließlich in den Freitod treibt. Am 21. November 1811 erschießt er zunächst seine unheilbar kranke Freundin Henriette Vogel und danach sich selbst am Kleinen Wannsee in Berlin.
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