Nagib Machfus
Die Midaq-Gasse
Unionsverlag, 2007
Was ist drin?
Kairo und die Welt im Umbruch: eine Gasse als Mikrokosmos.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Eine Gasse als Spiegel der Welt
Die Midaq-Gasse ist alles andere als ein Prachtboulevard. Ihr Ruhm ist längst verblichen, ihre Häuser sind verkommen. Hier wohnen einfache Friseure, Bonbonverkäufer, Bäcker und Kaffeehausbesitzer. Machfus’ Roman zeichnet kein schmeichelhaftes, aber ein sympathisches Bild einer Gasse, wie er sie selbst in den ersten Jahren seines Lebens bewohnte. Der Mikrokosmos zeigt eine Gesellschaft im Umbruch: Die Welt der Moderne, repräsentiert durch den Krieg und die britische Besatzung, bietet ungeahnte Möglichkeiten des Aufstiegs. Doch all jene, die als Schwarzmarkthändler, Söldner oder Prostituierte aus der Gasse auszubrechen wagen, scheitern. Armut und Not sind allgegenwärtig, und menschliche Beziehungen werden vor allem unter materialistischen, monetären Aspekten betrachtet. In ihrer Verschränkung vieler Handlungsstränge erinnert Die Midaq-Gasse an die episodische Struktur von Daily Soaps. Als Vorläufer der berühmten Kairoer Trilogie ist der Roman einer der zugänglichsten und lesenswertesten von Machfus.
Take-aways
- Die Midaq-Gasse ist eines der wichtigsten und zugleich zugänglichsten Werke des ägyptischen Autors Nagib Machfus.
- Inhalt: In der Midaq-Gasse in der Kairoer Altstadt spielt sich das Leben der kleinen Leute ab. Liebe, Eifersucht, Enttäuschung und Verrat finden hier auf kleinstem Raum statt. In einer Zeit des Umbruchs sinnen die Jungen auf Wegzug und sozialen Aufstieg, während die Alten der Vergangenheit verhaftet sind.
- Machfus kommt ohne Protagonisten oder eine Haupthandlung aus: Es gibt eine Vielzahl von Figuren und miteinander verknüpften Handlungssträngen.
- Die Figuren sind in ihrer Überzeichnung leicht wiedererkennbare Typen, etwa die rebellische Tochter oder der weise Gläubige.
- Der Roman steht in der sozialkritisch-realistischen Tradition von Dickens und Balzac.
- Er spiegelt die Stimmung in Ägypten in den letzten Jahren der britischen Besatzung.
- Die schöne Hamida, die als Prostituierte endet, wurde als Personifikation Ägyptens interpretiert.
- Der Roman ist autobiografisch gefärbt. Machfus verbrachte die ersten Jahre seines Lebens in einem ähnlichen Viertel in Kairo.
- 1988 erhielt Machfus als erster arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur.
- Zitat: „Viele Zeugnisse sprechen dafür, dass die Midaq-Gasse zu den Kostbarkeiten vergangener Jahrhunderte gehört und einstmals in der Geschichte des mächtigen Kairo wie ein strahlender Stern geglänzt hat.“
Zusammenfassung
Treffpunkt Kaffeehaus
Abenddämmerung in der Midaq-Gasse. Die Läden schließen, die Männer versammeln sich im Kaffeehaus. Der beleibte und einfältige Onkel Kamil, ein Bonbonverkäufer, klagt über seine Armut. Ein verbitterter Dichter spielt auf einem Streichinstrument und betet laut. Der in sich versunkene Scheich Darwisch bleibt bis spät in die Nacht hier, weil er kein Zuhause hat. Der großmütige Radwan al-Husaini ist das moralische Gewissen der Runde: Nach vielen Schicksalsschlägen hat er zum Glauben gefunden und ist seitdem Ratgeber und Schiedsrichter der Anwohner. Meister Kirscha, der verdrießliche Kaffeehausbesitzer, wettert gegen den Dichter und seine Gebetsrezitationen und möchte lieber das Radio einschalten.
„Viele Zeugnisse sprechen dafür, dass die Midaq-Gasse zu den Kostbarkeiten vergangener Jahrhunderte gehört und einstmals in der Geschichte des mächtigen Kairo wie ein strahlender Stern geglänzt hat.“ (S. 5)
Umm Hamida bekommt unterdessen von der geizigen Hausbesitzerin Sanija Afifi Besuch. Den Verlust ihres Ehemanns kompensiert Frau Afifi mit krankhaftem Geiz; nun jedoch wäre sie nicht abgeneigt, sich von der Brautwerberin Umm Hamida einen Bräutigam zuführen zu lassen. Umm Hamida hat unterdessen andere Sorgen: Ihre hübsche, aber widerspenstige Adoptivtochter Hamida gerät ständig mit ihr aneinander.
Verlockung des Geldes
Der Sohn des Kaffeehausbesitzers, Husain Kirscha, ist ein Neureicher, der zur britischen Armee gegangen ist, nun gern Fleisch isst und Wein trinkt und außerdem Nachtklubs besucht. Er lässt sich am Morgen bei seinem Jugendfreund Abbas al-Hilu, einem frommen und bescheidenen Friseur, die Haare schneiden. Husain rät Abbas, wegzuziehen und sein Glück bei der britischen Armee zu versuchen, um reich zu werden; der genügsame Abbas jedoch liebt das Leben in der Gasse. Er sehnt sich nur nach der jungen Hamida. Für Hamida allerdings ist Geld der Schlüssel zur Macht. Sie beneidet die gut gekleideten Fabrikarbeiterinnen, die Geld verdienen. Als Abbas sich ein Herz nimmt und die Angebetete auf der Straße anspricht, hat sie nur Verachtung für ihn übrig.
Die Nachtaktiven
Für den Kaffeehausbesitzer Meister Kirscha beginnt das wahre Leben erst nachts, wenn er mit Rauschgift handelt und hübschen Jungen folgt, um seine Leidenschaften auszuleben. Ähnlich zwielichtigen Geschäften geht der dunkelhäutige Krüppelmacher Zita nach, der Menschen zu Krankheiten verhilft und sie zu berufsmäßigen Bettlern macht. Einst selbst ein umherziehendes Bettelkind, lebt er nun davon, seinen Anteil von den von ihm so zugerichteten Bettlern – Blinden, Lahmen und anderen – einzutreiben. Stinkend und fast schwarz vor Dreck lebt Zita in einem schmuddligen Zimmer der Bäckerei.
Der Kaufmann
Der 50-jährige Salim Alwan ist durch Schwarzmarkthandel während der Weltkriege reich geworden und leitet ein Exportgeschäft. Seine drei Söhne sind Richter, Anwalt und Arzt geworden und verachten sein Gewerbe. Er sorgt sich um die Zukunft seiner Firma und mag den Rat seiner Söhne, in die Politik oder ins Baugeschäft einzusteigen, nicht annehmen. In der Gasse tratscht man darüber, dass Salim Alwan täglich einen potenzsteigernden Brei zu sich nehme. Auch er, der siebenfache Vater, hat es auf die junge Hamida abgesehen und hadert mit der mangelnden Willigkeit seiner Frau.
Ehestreit
Zu einem Ehestreit weit schwerwiegenderer Art kommt es zwischen Umm Husain und Meister Kirscha. Die energische Frau erkennt, dass ihr Mann nächtlichen Umgang mit einem jungen Verkäufer pflegt. Sie will ihren sündhaften Gatten bekehren und stellt ihn um Mitternacht zur Rede; er jedoch lässt sich nicht davon abhalten, seinen Jüngling aufzusuchen. Umm Husain sucht Rat bei dem Gelehrten Herrn Radwan und beklagt sich über die Schamlosigkeit ihres Mannes. Er will die Sache in die Hand nehmen und Meister Kirscha zum rechten Glauben zurückführen. Doch selbst als Herr Radwan den Kaffeehausbesitzer gezielt auf sein Benehmen anspricht, verteidigt sich der Angeklagte und behauptet, er wolle dem Jungen nur aus seinem Elend heraushelfen; man solle es ihm selbst überlassen, wie er den rechten Weg zu Allah finde. Da keine Änderung in Sicht ist, schwört Umm Husain Rache. Um Mitternacht betritt sie das Kaffeehaus und schlägt dem Jungen, dem ihr Mann verfallen ist, das Teeglas aus der Hand. Sofort strömen Menschen herbei, es kommt zu Handgreiflichkeiten, und der Mittler Radwan muss die Eheleute voneinander trennen. Meister Kirscha schwört in der Männerrunde, er werde seine Frau verprügeln. Die Anwohner allerdings haben den wahren Grund seines Handelns – seine Homosexualität – längst erkannt.
Neuanfänge
Abbas al-Hilu gesteht Hamida offen seine Liebe. Diese fühlt sich zwar geschmeichelt, doch ist ihr der Friseur zu arm. Dennoch macht sie ihm jetzt Hoffnungen, und schließlich verloben sie sich. Um Hamidas Sehnsucht nach Wohlstand erfüllen zu können, entscheidet sich Abbas, zur britischen Armee zu gehen, auch wenn das bedeutet, dass er sein Friseurgeschäft in der Midaq-Gasse aufgeben muss und Hamida für eine Weile nicht wiedersieht.
„Ist das überhaupt ein Leben? In dieser Gasse sind doch schon alle tot. Wenn du hierbleibst, musst du nicht einmal mehr begraben werden.“ (Husain, S. 46)
Auch Husain Kirscha will aus der Midaq-Gasse ausziehen. Seine Mutter beschimpft ihn deswegen, sein Vater bezeichnet ihn spöttisch als „feinen Pinkel“ und „Gänsekonsul“. Als der Sohn bekennt, er wolle in ein Haus mit elektrischem Licht ziehen und ein Gentleman werden, schlägt er ihn. Husain Kirscha flüchtet aus dem Haus, die Midaq-Gasse verfluchend.
„Dieser Krieg ist gar kein Unglück, wie manche Idioten meinen. Er ist das höchste Glück! Allah hat ihn uns geschickt, um uns aus Elend und Armut herauszuholen.“ (Husain, S. 46)
Sanija Afifi, die ungeduldig auf die Vermittlung eines möglichen Bräutigams wartet, will ebenfalls neu anfangen. Umm Hamida schwärmt ihr von einem jungen Polizisten vor, mit dem sie sie verloben will. Sie gibt ihr aber zu verstehen, dass der Heiratswillige keine Brautgabe zahlen wolle und dass sie selbst für die Kosten aufkommen müsste.
„Die Gasse ging nicht gerecht mit ihren Menschen um.“ (S. 49)
Angesichts der potenzsteigernden Mittel ihres Ehemanns möchte Salim Alwans Ehefrau nicht länger bei seinen Liebesspielen mitmachen; daher versucht der Kaufmann, über Umm Hamida an Hamida heranzukommen. Zwar ist diese bereits verlobt, doch Mutter und Tochter wittern ein gutes Geschäft und sind bereit, die alte Verbindung aufzulösen. Hamida hat keine Hemmungen, den Friseur Abbas al-Hilu aufzugeben, um zu Geld und Aufstieg zu kommen. Dann jedoch erleidet Salim Alwan einen Herzanfall und ringt mit dem Tod, was Mutter und Tochter einen Strich durch die Rechnung macht.
Ein neuer Verehrer
In der Midaq-Gasse wird ein Zelt für Wahlkampfveranstaltungen aufgebaut. Der Kandidat möchte Meister Kirschas Stimme für Geld kaufen und schmeichelt sich bei ihm ein, da er weiß, wie viel Einfluss der Kaffeehausbesitzer hat. Im Zelt wird zunächst der Koran rezitiert, dann treten Musiker auf, schließlich folgt eine halbnackte Sängerin. Hamida wohnt der Feier im Zelt staunend bei, bis sie merkt, dass ein Unbekannter sie anstarrt. Wütend läuft sie nach Hause und beobachtet den aufdringlichen Mann vom Fenster aus. Einerseits fühlt sie sich geschmeichelt, dass ein richtiger Herr sie begehrt; andererseits ist sie angewidert von seiner Arroganz. Der Unbekannte wird Stammgast im Kaffeehaus, von wo aus er sie beobachtet. An einem der nächsten Nachmittage putzt sich Hamida besonders heraus und geht auf die Straße in der Gewissheit, der Mann werde ihr folgen. Er jedoch bleibt im Kaffeehaus sitzen. Als sie ihn am nächsten Tag auf der Straße trifft, spricht er sie an, nennt sie „Prinzessin“ und schmeichelt ihr. Auch wenn Hamida scheinbar auf Konfrontationskurs geht, ist sie überglücklich und möchte von ihren Freundinnen mit dem neuen Verehrer gesehen werden.
Veränderungen
Frau Afifi macht einen Zahnarztbesuch bei Dr. Buschi, weil sie sich in Vorbereitung auf den zukünftigen Bräutigam ein neues Gebiss leisten möchte. Dafür, aber auch für neue Möbel und Kleidung sowie eine neue Haarfarbe, braucht sie einen großen Teil ihres Vermögens auf. Die Aussicht auf einen Ehemann hat sie ihren Geiz überwinden lassen.
„Gewiss, er war wie alle jungen Burschen an Frauen interessiert. Aber seine Wesensart glich der einer Taube, die mutig in den Himmel aufsteigt, ein wenig herumflattert und gehorsam zum Turm zurückkehrt, wenn der Herr pfeift. Hamida war sein großer Traum, seine ganze Hoffnung – wie sollte er darin enttäuscht werden?“ (über Abbas, S. 58)
Der Kaufmann Alwan kehrt blass, schwach und gealtert in die Gasse zurück. Der Herzanfall hat einen anderen Menschen aus ihm gemacht: Nun ist er bösartig, hasserfüllt und mürrisch, verbietet Mitarbeitern das Rauchen und traut seinem Geschäftsführer nicht mehr über den Weg. Hamida ist vergessen. Radwan al-Husaini besucht ihn und deutet an, dass die Krankheit eine Prüfung Gottes sein könnte.
Ausbruch
Hamida malt sich aus, wie sie bei ihrem neuen Verehrer weder Not noch Mangel leiden wird. Als sie wieder einmal aus dem Haus geht, ist er zur Stelle, ergreift ihre Hand, redet sie mit „Liebling“ an und bietet ihr an, mit dem Taxi nach Hause zu fahren. Wie berauscht sitzt sie im fahrenden Wagen, er küsst sie und lädt sie in seine Wohnung ein. Dort erkennt sie jedoch, dass er ein Zuhälter ist, was der Mann auch nicht abstreitet. Er verspricht ihr Glück, Liebe und Wohlstand, die sie in der Midaq-Gasse nie haben werde. Insgeheim weiß er, dass sie die perfekte Prostituierte für ihn wäre. Hamida will in der Tat nicht länger im Haus und in der Gasse ersticken, sie lehnt Mutterschaft ab und will den Weg der Zukunft gehen. Nach einer letzten schlaflosen Nacht zu Hause geht sie, ohne sich von der Mutter zu verabschieden.
Aufstieg und Fall
Husain Kirscha kehrt missmutig und bedrückt mit einer Ehefrau und deren Bruder in die Midaq-Gasse zurück. Er hat ohne Wissen der Eltern geheiratet, ist arbeitslos geworden und muss nun wieder zu Hause einziehen. Meister Kirscha demütigt und beschimpft ihn, akzeptiert die Situation jedoch letztlich.
„Schließlich war er ihr Mann und Herr, um den sie kämpfen würde, um ihn ganz für sich zu haben und ihn immer, wenn die Sünde die Hand nach ihm ausstreckte, für sich zurückzugewinnen.“ (über Meister Kirscha und Umm Husain, S. 98)
Hamida erhält einen neuen Namen: Als „Titi“ besucht sie unter Anleitung ihres Zuhälters, der sich als Schuldirektor ausgibt, die Klassen für Tanz und Englisch. Ihr Verehrer küsst und verführt sie, hält jedoch rechtzeitig inne, um ihren Wert nicht zu zerstören, denn die Engländer zahlen viel Geld für eine Jungfrau.
„Wahlen und alles, was damit zusammenhing, interessierten ihn von nun an als gute Absatzmärkte, das heißt: Er half dem, der am meisten zahlte.“ (über Meister Kirscha, S. 189)
Dr. Buschi trifft sich nachts mit dem Krüppelmacher Zita; die beiden wollen einem gerade Verstorbenen das Gebiss entnehmen, werden jedoch auf frischer Tat ertappt. Die Nachricht verbreitet sich in Windeseile. Frau Sanija Afifi ist so entsetzt, dass sie ihr von Dr. Buschi eingesetztes goldenes Gebiss herausreißt und wegwirft.
Enttäuschung und Verrat
Abbas, Hamidas Verlobter, kehrt in die Gasse zurück, da er Urlaub hat. Er sieht gesund aus und spricht Englisch. Als er von Hamidas Verschwinden erfährt, ist er wie versteinert. Nachdem er von ihren Freundinnen erfahren hat, dass sie mit einem feinen Herrn zusammen war, befürchtet er, sie sei durchgebrannt und sinne auf Rache. Husain Kirscha besucht den verzweifelten Abbas. Er ist selbst frustriert, entlassen worden zu sein, und überredet Abbas, im Judenviertel Wein trinken zu gehen.
„Verwundert und vergnügt zugleich stellte sie fest, dass sie ohne den geringsten Anflug von Scham oder Verlegenheit mit einem völlig Fremden gegangen und auch noch mit ihm gesprochen hatte. Genau das war es, was sie sich so wünschte, nämlich einfach das zu machen, was sie wollte.“ (über Hamida, S. 211)
Hamidas Lebensstil hat sich radikal gewandelt: Sie parfümiert und schminkt sich, trägt aufreizende Kleidung und hat sich als Naturtalent in Sachen Prostitution erwiesen. Sie genießt Geld, Männer und Macht, auch wenn sie weiß, dass sie emotional und geschäftlich an ihren Zuhälter gebunden ist. Als sie angesichts seiner permanenten Demütigungen aus dem Haus flieht, entdeckt Abbas sie zufällig in einer vorbeifahrenden Droschke. Er sieht sich in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Hamida gelingt es, sich als Opfer darzustellen und ihn gegen ihren Zuhälter aufzuhetzen.
„O Allah, sollst du wirklich eines Tages eine von diesen Bräuten der Midaq-Gasse werden? Ständig schwanger und ständig gebärend? Die Kinder am Straßenrand stillend? Überall Fliegen und täglich Saubohnen, mal auf diese, mal auf jene Weise? Frühzeitig gealtert und aufgedunsen?“ (der Zuhälter zu Hamida, S. 246)
Radwan al-Husaini möchte eine Pilgerreise nach Mekka antreten, und die Gassenbewohner nehmen von ihm Abschied. Inbrünstig malt er sich die Glückseligkeit aus, auf dem Boden des Propheten zu stehen. Auch gesteht er, dass er gerade jetzt nach Mekka pilgern will, weil er sich an den Geschehnissen in der Midaq-Gasse schuldig fühlt und Buße tun möchte. Abschließend rät Herr Radwan Abbas, dem Kummer zu trotzen, fortzugehen und zu arbeiten. Abbas jedoch will sich an seinem Nebenbuhler rächen und ihn, wie mit Hamida abgesprochen, in einer Bar verprügeln. Husain Kirscha wird in die Pläne eingeweiht. Auf ihrem Spaziergang durch die Stadt gelangen sie zu der Bar, in der Abbas Hamida erblickt: Umringt von einer Schar britischer Soldaten geht sie ihrem Gewerbe nach. Er stürzt hinein und schleudert ihr ein Bierglas ins Gesicht, woraufhin die Soldaten über Abbas herfallen und ihn zu Tode prügeln. Die Gasse trauert um den Toten, doch bald kehrt wieder Alltag ein.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Midaq-Gasse spielt zwischen 1944 und 1945, doch die damalige Weltpolitik wird nur am Rand gestreift – einmal wird erwähnt, dass der Krieg zu Ende ist. Die titelgebende Gasse bildet eine in sich geschlossene Welt. Machfus erzählt atmosphärisch dicht im Stil des psychologischen Realismus. Häuser, Straßen und Menschen werden mit großer Detailtreue beschrieben, die einzelnen Episoden aus der Sicht verschiedener Figuren geschildert. So verschieden die Handlungsstränge auch sein mögen, sie greifen immer wieder ineinander und treiben die Handlung vorwärts. Unter allen Figuren kommt Hamida noch am ehesten einer Protagonistin nahe; ihr Werdegang nimmt viel Raum ein und bestimmt das tragische Finale des Romans.
Interpretationsansätze
- Der Roman schildert eine Gesellschaft im Wandel, in der Moderne und Tradition aufeinanderprallen: Für die Alten symbolisiert die Gasse Geborgenheit, für die Jungen Armut und Ausweglosigkeit. Die junge Generation sucht ein besseres Leben, will elektrischen Strom und orientiert sich am Ideal des Gentlemans der britischen Kolonialmacht. Dieser Konflikt deutet sich bereits im ersten Kapitel an, als der alte Dichter mit seinem Instrument aus dem Kaffeehaus vertrieben wird, da die Gäste nun Radio hören wollen. Die Jungen hassen die Gasse und träumen von Macht und Wohlstand, die ältere Generation ist genügsam. Alle sind jedoch in größeren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhängen gefangen, die sie nicht selbst bestimmen können. Ihr Leben wird von sozioökonomischen Zwängen bestimmt, so sehr sie sich auch um einen Ausbruch bemühen.
- Machfus übt deutliche Kritik an der Politik: Der „Kandidat“ ist ein Hohlkopf par excellence, der nur Slogans und Klischees wiederholt und Stimmen kauft. Meister Kirscha ist ein Opportunist ohne politische Überzeugungen, der sich bei den Wahlen 1925 hat bestechen lassen und 1936 die Politik zugunsten von Vergnügungen aufgegeben hat. Onkel Kamil wiederum wird als dümmlicher Ignorant gezeichnet, der in seinem Laden Politikerplakate aufhängt, ohne zu wissen, welche Standpunkte die Menschen darauf vertreten. Das Wahlzelt, in dem schließlich Nackttänzer auftreten, steht symbolisch für die Travestie des politischen Prozesses.
- Die schöne Hamida, die aus der Midaq-Gasse ausbricht und dafür als Prostituierte den Preis bezahlt, wurde als Personifikation Ägyptens interpretiert. Anstatt Prostitution moralisch zu verurteilen, schildert Machfus sie als soziales Problem. Auch wenn Hamida viele Charakterfehler hat, so ist ihr Abdriften und die damit verbundene Ausbeutung vor allem den sozialen Umständen geschuldet.
- Den Zerfall der Werte zeigt auf morbideste Weise der Krüppelmacher Zita, der weder menschliche Gefühle noch Skrupel hat.
- Der Roman erinnert in seiner episodischen Struktur an die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, transportiert jedoch keineswegs das orientalistische Harems-Bild: Bei Machfus sind die traditionellen Geschlechterrollen ins Wanken geraten: Frauen verprügeln ihre Männer, und Männer leben ihre Homosexualität relativ offen aus.
Historischer Hintergrund
Ägypten im frühen 20. Jahrhundert
Ägypten, lange Zeit Teil des Osmanischen Reichs, geriet mit der Eröffnung des Suezkanals 1869 in die Abhängigkeit von Frankreich und Großbritannien. Der Kanal war mit französischem Kapital gebaut worden, erwies sich aber als so unrentabel, dass die Briten 1875 die ägyptischen Kanalaktien übernahmen und sich so den Seeweg nach Indien sicherten. Das bankrotte Land wurde unter die Vormundschaft ausländischer Mächte gestellt und dem ägyptischen Regierungskabinett ein britischer Finanzminister sowie ein französischer Arbeitsminister aufgezwungen. Das stieß auf den Unmut der Ägypter, die sich in der Urabi-Bewegung sammelten und sich 1882 gewaltsam gegen die Briten auflehnten. Diese schlugen den Aufstand nieder und besetzten das Land, 1914 machten sie es zu einem Protektorat.
Der Erste Weltkrieg schürte die Unzufriedenheit weiter, und die nationalistische Wafd-Partei erhielt rasanten Zulauf. Als Amerikaner und Franzosen 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz Ägypten als britisches Protektorat anerkannten, kam es in Kairo zu antibritischen Massenprotesten, die sich rasch über das ganze Land ausbreiteten. 1922 erklärte Großbritannien zwar die Unabhängigkeit Ägyptens, britische Truppen blieben jedoch im Land.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erklärte sich Ägypten für neutral. Mit dem Kriegseintritt Italiens wurde jedoch auch Nordafrika zum Kriegsschauplatz. Im Nordwesten Ägyptens kämpften italienische Truppen gegen die Briten, während der ägyptische König mit den Achsenmächten sympathisierte. 1942 zwangen die Briten den König, die Regierung zu entlassen. Die Wafd-Partei verlor dadurch massiv an Glaubwürdigkeit, die Muslimbrüder legten zu. Im Mai 1943 kapitulierte die italienische Armee; britische Truppen blieben jedoch bis 1946 im Land. Die faktische Unabhängigkeit erlangte Ägypten erst 1952 mit dem Sturz der Monarchie durch den Militärputsch von General Ali Muhammad Nagib und Oberst Gamal Abdel Nasser. 1953 wurde die Republik Ägypten ausgerufen, 1954 ernannte sich Nasser zum Präsidenten. Er setzte auf eine autoritäre Herrschaft und eine Mischung aus Panarabismus, sozialistischen Ideen (unter anderem Verstaatlichung von Großgrundbesitz) und einer antiimperialistischen Grundhaltung.
Entstehung
Die Midaq-Gasse fällt in Nagib Machfus’ sogenannte realistische Epoche und entstand nur wenige Jahre vor seiner bekannten Kairoer Trilogie. Der Roman beruht auf Machfus’ Kindheitserinnerungen: Seine Familie lebte bis 1924 in Gamalija, einem Altstadtbezirk von Kairo.
Machfus begann in den 1930er-Jahren zu schreiben, während er eine Beamtenlaufbahn im Ministerium einschlug. Literatur war zwar weder sein Studienfach, noch diente sie seinem Lebenserwerb, aber sie war seine lebenslange Leidenschaft. Zunächst entstanden historische Romane, in denen Machfus die Geschichte Ägyptens von den Pharaonen an rekapitulierte. In diese „pharaonische Phase“ (1939 bis 1944) fallen etwa Cheops, Radubis und Ein Kampf um Theben.
Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, die anhaltende britische Präsenz und die wachsenden sozialen Gegensätze lenkten den Blick des Autors dann jedoch auf den Alltag im Kairo der Gegenwart. Als eines der ersten Werke dieser realistischen Phase entstand 1947 Die Midaq-Gasse. Nach dieser Phase zog Machfus sich jahrelang zurück und veröffentlichte nichts. Desillusioniert von der sozialistischen Revolution durch Nasser und ihre Repressionen, schrieb er erst 1959 wieder und ließ ab dann den realistischen Stil hinter sich, auch wenn das Thema der sozialen Ungerechtigkeit brennend aktuell blieb.
Wirkungsgeschichte
Mit der Midaq-Gasse gelang Machfus der Durchbruch in der arabischen Welt. Der Roman war auch das erste Werk des Autors, das ins Deutsche übersetzt wurde – noch bevor Machfus 1988 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Die Midaq-Gasse wurde 1994 vom mexikanischen Regisseur Jorge Fons mit Salma Hayek verfilmt. Allerdings wurde die Handlung nach Mexiko-Stadt verlegt und dem mexikanischen Kontext angepasst.
Über den Autor
Nagib Machfus wird am 11. Dezember 1911 als jüngstes von sieben Kindern in eine Kleinbürgerfamilie in Kairo geboren. Nach einem Philosophiestudium in Kairo arbeitet er von den 30er-Jahren an bis zu seiner Pensionierung 1971 als Beamter in Verwaltungen und Ministerien. Sein Lebenswerk umfasst an die 40 Romane, Drehbücher, Reiseberichte, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Novellen. Machfus schreibt zunächst historische Romane über das Ägypten der Pharaonen. Dann folgt seine realistische Werkphase mit seinem wohl bekanntesten Werk, der sogenannten Kairoer Trilogie, bestehend aus Zwischen den Palästen, Palast der Sehnsucht und Zuckergässchen (1956/57); das Epos schildert die Geschichte einer Kaufmannsfamilie über drei Generationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die dritte Schaffensperiode des Autors ist von eher allegorischen oder fantastischen Werken wie Die Kinder unseres Viertels (1959) geprägt, das in Ägypten aufgrund seiner religiösen Anspielungen 30 Jahre lang verboten bleibt. 1988 erhält Machfus die Ehrendoktorwürde der Universität Kairo und wird – als erster arabischer Schriftsteller – mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Als Verfechter von Demokratie, Meinungsfreiheit und religiöser Toleranz schreibt er wöchentliche Kolumnen für Al-Ahram, die größte Tageszeitung Ägyptens. Zugleich wird Machfus immer wieder mit dem Vorwurf der Gotteslästerung und Schändung des Islams konfrontiert und 1994 von islamischen Extremisten niedergestochen und schwer verletzt. Er stirbt am 30. August 2006. Bis heute gilt er als „Vater des ägyptischen Romans“.
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