Aristoteles
Die Nikomachische Ethik
Artemis & Winkler, 2005
Was ist drin?
Das ethische Hauptwerk des Aristoteles. In der „Nikomachischen Ethik“ legt er detailliert dar, welches die ethischen Tugenden des Menschen sind.
- Philosophie
- Griechische Antike
Worum es geht
Der Weg zum glücklichen Leben
Wie ist ein glückliches Leben möglich? Vor mehr als zwei Jahrtausenden unternahm es der griechische Philosoph Aristoteles, auf diese uralte Menschheitsfrage eine umfassende Antwort zu finden. Das Resultat ist eine systematische Abhandlung ethischer Fragen, die die Ethik als eigenständigen Zweig der Philosophie etablierte und das Philosophieren endgültig auf den Boden der praktischen Realität stellte. Wo sich die Vorsokratiker in kosmischen Überlegungen ergingen und Platon vor allem idealistische Antworten suchte, gelang es Aristoteles, mit seiner Nikomachischen Ethik (die nach seinem Sohn oder seinem Vater benannt ist) eine Grundlage der praktischen Philosophie zu legen. Sie sollte die Jahrhunderte überdauern und zu einem Kernelement der westlichen Kultur werden. Angesichts des zunehmenden Werteverfalls wirkt Aristoteles' Tugendethik auch heute noch erstaunlich aktuell - sofern man davon absieht, dass er, trotz allem ein Kind seiner Zeit, nur den männlichen, reifen Staatsbürgern das Vermögen zu Tugend und Glückseligkeit zutraute und es Frauen, Kindern und Nichtgriechen generell absprach.
Take-aways
- Die Nikomachische Ethik ist Aristoteles' ethisches Hauptwerk. Sie ist nach seinem Sohn oder nach seinem Vater Nikomachos benannt.
- Mit seinen ethischen Schriften begründete Aristoteles die Ethik als eigenständigen Zweig der Philosophie.
- Für Aristoteles ist die Ethik Vorläufer und Voraussetzung für die Politik(wissenschaft).
- Ein glückliches Leben - sowohl individuell als auch kollektiv - kann nur durch tugendhaftes Verhalten erreicht werden.
- Grundsätzlich können die Menschen entweder ein tugendlos-lustvolles Leben, ein verantwortlich-politisches Leben oder ein betrachtend-philosophisches Leben führen.
- Es gibt zwei Arten von Tugenden: die auf Gewohnheit beruhenden ethischen Tugenden und die Tugenden des Verstandes.
- Der Schlüssel zu einem tugendhaften Leben liegt im geschickten Ansteuern der "goldenen Mitte". Ein Übermaß im Zuviel oder Zuwenig kennzeichnet die Untugend.
- Die Gerechtigkeit ist eine Kardinaltugend, weil sie das harmonische Zusammenleben der Menschen fördert.
- Schlechtigkeit, Unbeherrschtheit und Rohheit sind Kennzeichen moralischer Mangelhaftigkeit.
- Eine stabile politische Gemeinschaft basiert auf der Freundschaft und dem Wohlwollen ihrer Mitglieder.
- Da die meisten Menschen von Natur aus lustbezogen leben, ist es Aufgabe der staatlichen Gesetzgebung, das tugendhafte Leben durch entsprechende Gesetze zu fördern.
- Aristoteles' Tugendethik war jahrhundertelang in der Philosophie vorherrschend, bis sie durch Kants Pflichtethik in den Hintergrund gedrängt wurde.
Zusammenfassung
Das höchste Gut
Die Ethik ist als Teil der politischen Wissenschaft zu verstehen. Sie ist zugleich Bestandteil der praktischen Philosophie: Es geht nicht um theoretische Erkenntnis, sondern darum, durch praktische Klugheit so zu handeln, dass das höchste Gut, die Glückseligkeit (Eudaimonie), erlangt wird. Dies kann nur von den gebildeten, reifen, männlichen Mitgliedern der Polis (griechischer Stadtstaat) erreicht werden.
Das höchste Gut ist das, wonach alle streben, der letztendliche Zweck aller menschlichen Bemühungen: die Glückseligkeit. Diese ist gleichzeitig vollkommen und selbstgenügsam, weil sie das Ziel unseres Handelns ist und weil sie um ihrer selbst angestrebt wird und nicht deshalb, weil sie einem noch höheren Zweck dienen würde. Wir Menschen wollen alle glücklich werden. Dieses Glück ist ein Produkt der Tätigkeit der Seele gemäß ihren höchsten und besten Befähigungen. Die Glückseligkeit des Menschen ist daher keine untätige Eigenschaft, denn sonst könnten wir ja unser Leben lang schlafen oder eine Vielzahl von Schicksalsschlägen erleiden und wären trotzdem glücklich. Stattdessen liegt die Glückseligkeit im tugendhaften Handeln. Wir sind in dem Maße glücklich, wie wir das menschlich Beste in uns verwirklichen.
Die Tugenden des Charakters
Die Seele beinhaltet einen verstandesmäßigen und einen irrationalen, von Natur aus tugendlosen Teil. Die Tugend kann durch eine vom Verstand gesteuerte Erziehung des irrationalen Seelenteils gefördert werden. Sie ist die Tüchtigkeit, durch die wir unsere höchste Bestimmung als Menschen erfüllen können. So kann z. B. ein von sich aus noch nicht tugendhafter Sohn die Tugend einüben, und zwar durch Gehorsam gegenüber dem reiferen, tugendhaften Vater.
„Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.“ (S. 9)
Es gibt zwei Arten von Tugenden: die intellektuellen Tugenden des Verstandes (wie Weisheit, Klugheit oder Einsicht), die durch Belehrung erhöht werden können, und die ethischen Tugenden des Charakters (etwa Großzügigkeit oder Besonnenheit), die durch Gewöhnung an das richtige Verhalten entwickelt werden.
Die ethischen Tugenden sind uns nicht von Natur aus gegeben. Es sind Eigenschaften, die wir dadurch erwerben, dass wir durch das rechte Handeln die entsprechenden rechten Gewohnheiten entwickeln. Wir erlernen die Tugend also durch deren Ausübung. Eine gute Staatsverfassung und gute Gesetze sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das tugendhafte Verhalten der Bürger fördern.
„Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. Es gibt nämlich vor allem drei hervorstechende Lebensformen, die eben genannte, die politische und die betrachtende.“ (S. 13)
Die ethischen Tugenden werden optimal entwickelt, wenn wir in allen unseren Tätigkeiten jeweils das rechte Maß, die "goldene Mitte", gewohnheitsmäßig einhalten. Extreme in beide Richtungen - ein Zuviel oder Zuwenig - sind dagegen schädlich für unsere Charakterentwicklung.
Die Tapferkeit ist beispielsweise das Mittelmaß zwischen Feigheit und Tollkühnheit. In Bezug auf den Genuss gilt die Besonnenheit als Mittelmaß: Dieser Tugend steht auf der einen Seite die Zügellosigkeit oder Maßlosigkeit gegenüber, auf der anderen Seite die Stumpfheit. Die Extreme, die das Mittelmaß der Großzügigkeit flankieren, sind Kleinlichkeit und Geiz einerseits, Verschwendung andererseits.
Tugendhaft können wir nur dort handeln, wo wir eine entsprechende freie Willensentscheidung haben. Versuchungen zu erliegen, ist keine Entschuldigung. Nur was wirklich völlig außerhalb unserer Macht liegt oder sich unserer Kenntnis entzieht, kann uns später nicht als moralischer Mangel angekreidet werden. Im Allgemeinen können wir durch unser Wollen unsere Ziele und die Mittel zu ihrer Erreichung bestimmen. Entsprechend liegt es auch in unserer Macht, zwischen Tugend und Schlechtigkeit zu wählen.
Die Gerechtigkeit
Eine für das Zusammenleben der Menschen sehr wichtige Tugend ist die Gerechtigkeit. Ein Verstoß gegen sie kann sich etwa in Gesetzeswidrigkeit oder Ungleichheit äußern. Gesetze dienen in der Regel dem Allgemeinwohl; wer sie missachtet, handelt damit ungerecht. Ebenso ungerecht verfährt derjenige, der einen ungleichen Anteil hinsichtlich der guten und schlechten Dinge des Lebens für sich beansprucht.
„So scheint also die Glückseligkeit das vollkommene und selbstgenügsame Gut zu sein und das Endziel des Handelns.“ (S. 18)
Im Sinne einer austeilenden Gerechtigkeit ist es wichtig, dass ungleichen Personen nicht Gleiches zugeteilt wird. Jeder sollte das an Ehre und materiellen Gütern erhalten, dessen er würdig ist und was ihm angemessen ist. Austeilende Gerechtigkeit ist keine Frage der Gleichheit, sondern der Angemessenheit und Proportionalität.
Zudem ist eine ausgleichende Gerechtigkeit wichtig. Sie gilt etwa für Rechtsgeschäfte oder die Bestrafung von Rechtsvergehen. So darf es rechtlich keinen Unterschied machen, ob ein anständiger Mensch einen schlechten beraubt oder umgekehrt.
Die vier Seelenteile
Die menschliche Seele hat vier unterschiedliche Teile: Der vegetative Seelenteil ist für den Erhalt der Lebensfunktionen zuständig und ist Mensch und Tier gemeinsam. Dieser Seelenteil funktioniert ohne unser bewusstes Zutun und kann von uns nicht beeinflusst werden. Der irrationale Seelenteil entwickelt Tugendhaftigkeit durch die Gewöhnung an das richtige Handeln, er ist die Domäne der ethischen Tugenden. Der rationale Seelenteil ist wiederum in zwei Teile untergliedert: Er enthält ein spekulativ-theoretisches und ein überlegend-praktisches Vermögen. Mit dem spekulativ-theoretischen Vermögen ergründen wir das unvergängliche, ewige, unveränderbare Sein. Dies ist die Domäne der Wissenschaft und der Philosophie. Mit unserem praktisch-theoretischen Vermögen betrachten wir dagegen die vergänglichen und veränderbaren Aspekte unseres Seins. Das ist der Bereich unseres alltäglichen Lebens, wo wir Entscheidungen zu treffen haben, Pläne machen können und uns entweder tugendhaft oder schlecht verhalten können.
Die Tugenden des Verstandes
Zusätzlich zu den ethischen Tugenden, die durch Gewöhnung an das richtige Verhalten erworben werden, sind die Tugenden des Verstandes für das Erlangen eines glücklichen und erfüllten Lebens notwendig. Rechtes Wissen und rechtes Handeln sind dabei untrennbar miteinander verzahnt, denn nur durch die rechte Einsicht können wir die tugendhafte Mitte zwischen Übermaß und Mangel erkennen.
„Wie in den Olympischen Spielen nicht die Schönsten und Stärksten bekränzt werden, sondern jene, die kämpfen (denn unter diesen befinden sich die Sieger), so werden auch jene die schönen und guten Dinge des Lebens gewinnen, die richtig handeln.“
Die herausragenden Tugenden des rationalen Seelenteils sind Weisheit und Klugheit. Der Weise - ein Wissenschaftler oder Philosoph - ergründet und kennt die ewigen Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Dies allein trägt bereits entscheidend zu seinem Glücklichsein bei. Nur wenige Menschen besitzen aber die dafür notwendige Weisheit.
Für ein tugendhaftes Leben genügt jedoch die Klugheit, die uns zeigt, welches das rechte, tugendhafte Mittelmaß bei unseren Handlungen ist. Durch alle Tugenden streben wir die richtigen Ziele an, aber die Klugheit erst zeigt uns, auf welchem Weg wir diese Ziele auf rechte Weise erreichen können.
„Denn die Gesetzgeber machen die Bürger durch Gewöhnung tugendhaft, und dies ist das Ziel jedes Gesetzgebers; wer das nicht geschickt anstellt, der macht einen Fehler, und gerade darin unterscheidet sich eine gute von einer schlechten Verfassung.“ (S. 34)
Weitere Tugenden des Verstandes sind die Wohlberatenheit, die Fähigkeit, gute Pläne zu entwerfen, sowie die Verständigkeit, die uns hilft, in unterschiedlichen Situationen richtig zu urteilen.
Formen ethischer Mangelhaftigkeit
Dem guten Leben entgegengesetzt sind Schlechtigkeit, Unbeherrschtheit und Rohheit. Schlechtigkeit wird durch Tugend überwunden, Unbeherrschtheit durch Selbstbeherrschung. Rohheit kommt vor allem unter den kulturlosen Barbaren (also unter den Nichtgriechen) vor oder bei Menschen mit bestimmten Krankheiten und Verletzungen oder aber bei besonders schlechten Menschen.
Wer außerordentlich tugendhaft ist, dem wird ein gottähnlicher Charakter zugeschrieben. Tugendhaft kann aber nur der Mensch sein. Die Götter stehen über der Tugend, sie sind vollkommen. Die Tiere befinden sich unterhalb dieser Kategorie, auch sie können daher nicht mit den Maßstäben der Tugend gemessen werden.
Die Freundschaft
Der Mensch ist von Natur aus ein Gemeinschaftswesen, deshalb ist die Freundschaft für das Lebensglück besonders wichtig. Selbst die Reichen und Mächtigen brauchen Freunde.
„Also ist die Tugend in unserer Gewalt und ebenso die Schlechtigkeit. Denn wo das Tun in unserer Gewalt steht, da gilt es auch für das Nichttun, und wo das Nein bei uns steht, da steht auch das Ja bei uns.“ (S. 59)
Freundschaften können auf unterschiedlichen Bedürfnissen basieren. Dort wo die Nützlichkeit und das Angenehme der Freunde im Vordergrund steht, ist die Freundschaft eher zufällig und nur von begrenzter Dauer, denn sobald jemand nicht mehr nützlich oder angenehm ist, hört auch die Freundschaft auf. Echte, dauerhafte Freundschaft kann nur zwischen den Tugendhaften bestehen. Diese wünschen einander das Gute, weil sie wollen, dass es dem Freund um seiner selbst willen gut ergeht. Eine solche Freundschaft hält so lange an, wie beide tugendhaft sind. Beide sind dann gut für sich selbst und gut für den Freund. Gleichzeitig sind sie dann auch einander nützlich und angenehm. Es ist ein Bedürfnis des Tugendhaften, Menschen um sich zu haben, denen er Gutes tun kann.
Im politischen Bereich ist die Freundschaft die tragende Säule der Gemeinschaft. Erfolgreiche politische Gemeinschaften sind von einem allgemeinen, freundschaftlichen Wohlwollen der Bürger untereinander geprägt. In gleicher Weise fördert die Freundschaft auch die Eintracht unter den Staaten.
Die drei Lebensformen
Grundsätzlich gibt es drei unterschiedliche Lebensformen, die der Mensch wählen kann:
- Das lustbezogene Leben: Dieses wird von den rohesten und primitivsten Menschen gewählt und entspricht den Zielsetzungen der Tiere. Es geht allein um körperlichen Genuss und sinnlichen Lustgewinn. Diese Menschen wissen nicht, was gut für sie ist, und suchen durch verwerfliche Lüste vergeblich nach dem Glück.
- Das politische Leben: Hier strebt der Mensch nach einem positiven und fruchtbaren Zusammenleben mit anderen in einer politischen Gemeinschaft. Diese Lebensform ist mehr dem Menschen entsprechend, denn der ist bereits von Natur aus ein politisches Wesen. Im menschlichen Leben kann eine gewisse Form von Glückseligkeit durch ein ethisch tugendhaftes Handeln erreicht werden. Diese Lebensform bedarf der Klugheit und der Gewöhnung an tugendhaftes Handeln und entspricht dem gebildeten, reifen Bürger.
- Das betrachtende Leben des Philosophen: Das ist die höchste Lebensform, denn sie stellt ein Leben nach der Vernunft dar, befasst sich mit den ewigen, unvergänglichen Dingen und führt zu einer vollendeten Glückseligkeit. Sie ist die genussreichste Tätigkeit, die einem Menschen möglich ist. Wenn wir auf diese Weise leben, kommen wir dem Göttlichen am nächsten. Für dieses Leben ist aber die Verstandestugend der Weisheit erforderlich, und darum kann der Mensch diese Lebensform meist nur begrenzt verwirklichen.
Das Ziel einer staatlichen Gesetzgebung
Verständige Menschen können vielleicht durch Ermahnung zu einem tugendhaften Leben geführt werden. Die große Masse der Menschen aber tendiert dazu, gemäß ihren natürlichen Lüsten zu leben, und kann vom Schlechten nur durch Strafen abgehalten werden. Dies ist natürlich eine Frage der richtigen Gesetzgebung. Deshalb gehört es auch zum Kern der politischen Wissenschaft und zur Verantwortung des Staatsmanns, zu wissen, welche Gesetzgebung angemessen ist und wie man durch Gesetze die Tugendhaftigkeit der Gemeinschaft am besten erhöht.
Das höchste Gut
Die Ethik ist als Teil der politischen Wissenschaft zu verstehen. Sie ist zugleich Bestandteil der praktischen Philosophie: Es geht nicht um theoretische Erkenntnis, sondern darum, durch praktische Klugheit so zu handeln, dass das höchste Gut, die Glückseligkeit, erlangt wird. Dies kann nur von den gebildeten, reifen, männlichen Mitgliedern der Polis (griechischer Stadtstaat) erreicht werden.
„Das Denken allein bewegt nichts, sondern nur das auf einen Zweck gerichtete und praktische Denken.“ (S. 125)
Das höchste Gut ist das, wonach alle streben, der letztendliche Zweck aller menschlichen Bemühungen: die Glückseligkeit. Diese ist gleichzeitig vollkommen und selbstgenügsam, weil sie das Ziel unseres Handelns ist und weil sie um ihrer selbst angestrebt wird und nicht deshalb, weil sie einem noch höheren Zweck dienen würde. Wir Menschen wollen alle glücklich werden. Dieses Glück ist ein Produkt der Tätigkeit der Seele gemäß ihren höchsten und besten Befähigungen. Die Glückseligkeit des Menschen ist daher keine untätige Eigenschaft, denn sonst könnten wir ja unser Leben lang schlafen oder eine Vielzahl von Schicksalsschlägen erleiden und wären trotzdem glücklich. Stattdessen liegt die Glückseligkeit im tugendhaften Handeln. Wir sind in dem Maße glücklich, wie wir das menschlich Beste in uns verwirklichen.
Die Tugenden des Charakters
Die Seele beinhaltet einen verstandesmäßigen und einen irrationalen, von Natur aus tugendlosen Teil. Die Tugend kann durch eine vom Verstand gesteuerte Erziehung des irrationalen Seelenteils gefördert werden. Sie ist die Tüchtigkeit, durch die wir unsere höchste Bestimmung als Menschen erfüllen können. So kann z. B. ein von sich aus noch nicht tugendhafter Sohn die Tugend einüben, und zwar durch Gehorsam gegenüber dem reiferen, tugendhaften Vater.
Es gibt zwei Arten von Tugenden: die intellektuellen Tugenden des Verstandes (wie Weisheit, Klugheit oder Einsicht), die durch Belehrung erhöht werden können, und die ethischen Tugenden des Charakters (etwa Großzügigkeit oder Besonnenheit), die durch Gewöhnung an das richtige Verhalten entwickelt werden.
„Denn die Tugend macht, dass das Ziel richtig wird, und die Klugheit, dass der Weg dazu richtig wird.“ (S. 137)
Die ethischen Tugenden sind uns nicht von Natur aus gegeben. Es sind Eigenschaften, die wir dadurch erwerben, dass wir durch das rechte Handeln die entsprechenden rechten Gewohnheiten entwickeln. Wir erlernen die Tugend also durch deren Ausübung. Eine gute Staatsverfassung und gute Gesetze sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das tugendhafte Verhalten der Bürger fördern.
Die ethischen Tugenden werden optimal entwickelt, wenn wir in allen unseren Tätigkeiten jeweils das rechte Maß, die "goldene Mitte", gewohnheitsmäßig einhalten. Extreme in beide Richtungen - ein Zuviel oder Zuwenig - sind dagegen schädlich für unsere Charakterentwicklung.
Die Tapferkeit ist beispielsweise das Mittelmaß zwischen Feigheit und Tollkühnheit. In Bezug auf den Genuss gilt die Besonnenheit als Mittelmaß: Dieser Tugend steht auf der einen Seite die Zügellosigkeit oder Maßlosigkeit gegenüber, auf der anderen Seite die Stumpfheit. Die Extreme, die das Mittelmaß der Großzügigkeit flankieren, sind Kleinlichkeit und Geiz einerseits, Verschwendung andererseits.
„Es ergibt sich also aus dem Gesagten, dass man nicht in einem wesentlichen Sinne gut sein kann ohne die Klugheit, noch klug ohne die ethische Tugend.“ (S. 139)
Tugendhaft können wir nur dort handeln, wo wir eine entsprechende freie Willensentscheidung haben. Versuchungen zu erliegen, ist keine Entschuldigung. Nur was wirklich völlig außerhalb unserer Macht liegt oder sich unserer Kenntnis entzieht, kann uns später nicht als moralischer Mangel angekreidet werden. Im Allgemeinen können wir durch unser Wollen unsere Ziele und die Mittel zu ihrer Erreichung bestimmen. Entsprechend liegt es auch in unserer Macht, zwischen Tugend und Schlechtigkeit zu wählen.
Die Gerechtigkeit
Eine für das Zusammenleben der Menschen sehr wichtige Tugend ist die Gerechtigkeit. Ein Verstoß gegen sie kann sich etwa in Gesetzeswidrigkeit oder Ungleichheit äußern. Gesetze dienen in der Regel dem Allgemeinwohl; wer sie missachtet, handelt damit ungerecht. Ebenso ungerecht verfährt derjenige, der einen ungleichen Anteil hinsichtlich der guten und schlechten Dinge des Lebens für sich beansprucht.
Im Sinne einer austeilenden Gerechtigkeit ist es wichtig, dass ungleichen Personen nicht Gleiches zugeteilt wird. Jeder sollte das an Ehre und materiellen Gütern erhalten, dessen er würdig ist und was ihm angemessen ist. Austeilende Gerechtigkeit ist keine Frage der Gleichheit, sondern der Angemessenheit und Proportionalität.
„Danach werden wir wohl von der Freundschaft reden müssen. Denn sie ist eine Tugend oder doch mit der Tugend verbunden; außerdem gehört sie zum Notwendigsten im Leben. Denn keiner möchte ohne Freunde leben, auch wenn er alle übrigen Güter besäße.“ (S. 166)
Zudem ist eine ausgleichende Gerechtigkeit wichtig. Sie gilt etwa für Rechtsgeschäfte oder die Bestrafung von Rechtsvergehen. So darf es rechtlich keinen Unterschied machen, ob ein anständiger Mensch einen schlechten beraubt oder umgekehrt.
Die vier Seelenteile
Die menschliche Seele hat vier unterschiedliche Teile: Der vegetative Seelenteil ist für den Erhalt der Lebensfunktionen zuständig und ist Mensch und Tier gemeinsam. Dieser Seelenteil funktioniert ohne unser bewusstes Zutun und kann von uns nicht beeinflusst werden. Der irrationale Seelenteil entwickelt Tugendhaftigkeit durch die Gewöhnung an das richtige Handeln, er ist die Domäne der ethischen Tugenden. Der rationale Seelenteil ist wiederum in zwei Teile untergliedert: Er enthält ein spekulativ-theoretisches und ein überlegend-praktisches Vermögen. Mit dem spekulativ-theoretischen Vermögen ergründen wir das unvergängliche, ewige, unveränderbare Sein. Dies ist die Domäne der Wissenschaft und der Philosophie. Mit unserem praktisch-theoretischen Vermögen betrachten wir dagegen die vergänglichen und veränderbaren Aspekte unseres Seins. Das ist der Bereich unseres alltäglichen Lebens, wo wir Entscheidungen zu treffen haben, Pläne machen können und uns entweder tugendhaft oder schlecht verhalten können.
Die Tugenden des Verstandes
Zusätzlich zu den ethischen Tugenden, die durch Gewöhnung an das richtige Verhalten erworben werden, sind die Tugenden des Verstandes für das Erlangen eines glücklichen und erfüllten Lebens notwendig. Rechtes Wissen und rechtes Handeln sind dabei untrennbar miteinander verzahnt, denn nur durch die rechte Einsicht können wir die tugendhafte Mitte zwischen Übermaß und Mangel erkennen.
Die herausragenden Tugenden des rationalen Seelenteils sind Weisheit und Klugheit. Der Weise - ein Wissenschaftler oder Philosoph - ergründet und kennt die ewigen Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Dies allein trägt bereits entscheidend zu seinem Glücklichsein bei. Nur wenige Menschen besitzen aber die dafür notwendige Weisheit.
„Wir haben gesagt, die Glückseligkeit sei keine Eigenschaft. Sonst könnte ja auch derjenige sie besitzen, der sein Leben lang schläft und wie eine Pflanze lebt, oder auch ein Mensch, den die größten Unglücksfälle träfen.“ (S. 222 f.)
Für ein tugendhaftes Leben genügt jedoch die Klugheit, die uns zeigt, welches das rechte, tugendhafte Mittelmaß bei unseren Handlungen ist. Durch alle Tugenden streben wir die richtigen Ziele an, aber die Klugheit erst zeigt uns, auf welchem Weg wir diese Ziele auf rechte Weise erreichen können.
Weitere Tugenden des Verstandes sind die Wohlberatenheit, die Fähigkeit, gute Pläne zu entwerfen, sowie die Verständigkeit, die uns hilft, in unterschiedlichen Situationen richtig zu urteilen.
Formen ethischer Mangelhaftigkeit
Dem guten Leben entgegengesetzt sind Schlechtigkeit, Unbeherrschtheit und Rohheit. Schlechtigkeit wird durch Tugend überwunden, Unbeherrschtheit durch Selbstbeherrschung. Rohheit kommt vor allem unter den kulturlosen Barbaren (also unter den Nichtgriechen) vor oder bei Menschen mit bestimmten Krankheiten und Verletzungen oder aber bei besonders schlechten Menschen.
„Und so muss wohl auch der, der durch Fürsorge die Menschen besser machen will, mögen es viele oder wenige sein, versuchen, zur Gesetzgebung fähig zu werden, soweit wir durch Gesetze tugendhaft werden können.“ (S. 234)
Wer außerordentlich tugendhaft ist, dem wird ein gottähnlicher Charakter zugeschrieben. Tugendhaft kann aber nur der Mensch sein. Die Götter stehen über der Tugend, sie sind vollkommen. Die Tiere befinden sich unterhalb dieser Kategorie, auch sie können daher nicht mit den Maßstäben der Tugend gemessen werden.
Die Freundschaft
Der Mensch ist von Natur aus ein Gemeinschaftswesen, deshalb ist die Freundschaft für das Lebensglück besonders wichtig. Selbst die Reichen und Mächtigen brauchen Freunde.
Freundschaften können auf unterschiedlichen Bedürfnissen basieren. Dort wo die Nützlichkeit und das Angenehme der Freunde im Vordergrund steht, ist die Freundschaft eher zufällig und nur von begrenzter Dauer, denn sobald jemand nicht mehr nützlich oder angenehm ist, hört auch die Freundschaft auf. Echte, dauerhafte Freundschaft kann nur zwischen den Tugendhaften bestehen. Diese wünschen einander das Gute, weil sie wollen, dass es dem Freund um seiner selbst willen gut ergeht. Eine solche Freundschaft hält so lange an, wie beide tugendhaft sind. Beide sind dann gut für sich selbst und gut für den Freund. Gleichzeitig sind sie dann auch einander nützlich und angenehm. Es ist ein Bedürfnis des Tugendhaften, Menschen um sich zu haben, denen er Gutes tun kann.
Im politischen Bereich ist die Freundschaft die tragende Säule der Gemeinschaft. Erfolgreiche politische Gemeinschaften sind von einem allgemeinen, freundschaftlichen Wohlwollen der Bürger untereinander geprägt. In gleicher Weise fördert die Freundschaft auch die Eintracht unter den Staaten.
Die drei Lebensformen
Grundsätzlich gibt es drei unterschiedliche Lebensformen, die der Mensch wählen kann:
- Das lustbezogene Leben: Dieses wird von den rohesten und primitivsten Menschen gewählt und entspricht den Zielsetzungen der Tiere. Es geht allein um körperlichen Genuss und sinnlichen Lustgewinn. Diese Menschen wissen nicht, was gut für sie ist, und suchen durch verwerfliche Lüste vergeblich nach dem Glück.
- Das politische Leben: Hier strebt der Mensch nach einem positiven und fruchtbaren Zusammenleben mit anderen in einer politischen Gemeinschaft. Diese Lebensform ist mehr dem Menschen entsprechend, denn der ist bereits von Natur aus ein politisches Wesen. Im menschlichen Leben kann eine gewisse Form von Glückseligkeit durch ein ethisch tugendhaftes Handeln erreicht werden. Diese Lebensform bedarf der Klugheit und der Gewöhnung an tugendhaftes Handeln und entspricht dem gebildeten, reifen Bürger.
- Das betrachtende Leben des Philosophen: Das ist die höchste Lebensform, denn sie stellt ein Leben nach der Vernunft dar, befasst sich mit den ewigen, unvergänglichen Dingen und führt zu einer vollendeten Glückseligkeit. Sie ist die genussreichste Tätigkeit, die einem Menschen möglich ist. Wenn wir auf diese Weise leben, kommen wir dem Göttlichen am nächsten. Für dieses Leben ist aber die Verstandestugend der Weisheit erforderlich, und darum kann der Mensch diese Lebensform meist nur begrenzt verwirklichen.
Das Ziel einer staatlichen Gesetzgebung
Verständige Menschen können vielleicht durch Ermahnung zu einem tugendhaften Leben geführt werden. Die große Masse der Menschen aber tendiert dazu, gemäß ihren natürlichen Lüsten zu leben, und kann vom Schlechten nur durch Strafen abgehalten werden. Dies ist natürlich eine Frage der richtigen Gesetzgebung. Deshalb gehört es auch zum Kern der politischen Wissenschaft und zur Verantwortung des Staatsmanns, zu wissen, welche Gesetzgebung angemessen ist und wie man durch Gesetze die Tugendhaftigkeit der Gemeinschaft am besten erhöht.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Nikomachische Ethik ist in zehn Bücher oder Kapitel unterteilt, die die verschiedenen Aspekte der Ethik systematisch abhandeln. Wahrscheinlich stellt das Werk eine Zusammenstellung unterschiedlicher Vorlesungsnotizen dar. Zu Beginn betont Aristoteles, dass für ihn die Ethik als Teil der Politikwissenschaft gilt, welche wiederum in den Bereich der praktischen Philosophie fällt. Vor allem im letzten Buch erfolgt dann deutlich der Brückenschlag zur Politik, einem anderen wichtigen Werk des Philosophen. In diesem Sinne ist Die Nikomachische Ethik als erster Teil des mit der Politik fortgeführten Gesamtwerkes zur "Wissenschaft vom Menschen" zu verstehen. In den einzelnen Kapiteln wirft Aristoteles in der Regel zuerst die wesentlichen Grundfragen auf, die er danach in dialektischen Überlegungen und einer Herausarbeitung der relevanten Definitionen zu klären sucht. Mit dem für ihn charakteristischen Stilmittel der Elimination und Restriktion, dem Versuch, sich dem Kern einer Sache durch Ausschluss alles Unwesentlichen zu nähern, arbeitet Aristoteles die für das Thema relevanten Aspekte heraus. Sprachlich ist das Werk von dem Bemühen um Klarheit und logische Korrektheit gekennzeichnet. Die Ausführungen sind nicht unnötig rhetorisch aufgebläht oder kompliziert, im Gegenteil: Sie sind erstaunlich bodenständig. Deshalb lässt sich Aristoteles auch heute noch relativ leicht lesen, was ihn von manchen neueren Philosophen unterscheidet.
Interpretationsansätze
- Die Nikomachische Ethik legt den Grundstein für die Ausführungen des Aristoteles zum Menschen als politischem Wesen. Das Werk ist für ihn damit Teil der Politikwissenschaft und der praktischen Philosophie: Es geht Aristoteles nicht nur um theoretisches Philosophieren, sondern auch um die Praxis, um das Leben und Zusammenleben im Staat.
- Indem er die Förderung der Tugend zum Staatsziel erklärt, bietet Aristoteles eine Grundlage für das Verfassungsrecht und für eine systematische Gesetzgebung.
- Mit der Nikomachischen Ethik als Hauptwerk seiner drei ethischen Schriften begründet Aristoteles die Ethik als eigenständigen Zweig der Philosophie. Das Werk stellt gleichzeitig auch einen Grundlagentext der Tugendethik dar, der über Jahrhunderte die Philosophie prägen sollte.
- Freundschaft und Gerechtigkeit sind für Aristoteles die beiden Kardinaltugenden. Sie sind die Grundpfeiler eines harmonischen politischen Gemeinwesens.
- Das Glück ist für Aristoteles keine Eigenschaft, die man hat oder eben nicht, sondern das fortlaufende Resultat des rechten Handelns. Nur der tätige Mensch ist daher ein potenziell glücklicher Mensch.
- Die Nikomachische Ethik erklärt ein glückliches, gelungenes Leben zum Hauptziel des menschlichen Bestrebens und zeigt Wege zu dessen Erreichung. Damit ist das Werk ein Vorläufer aller Glücks- und Erfolgsratgeber, die heute massenhaft publiziert werden, sowie der wissenschaftlichen Glücksforschung.
- Wie sein Lehrer Platon stellt Aristoteles eine normative Ethik auf: Die von ihm beschriebenen Tugenden beanspruchen Geltung. Jedoch verzichtet Aristoteles anders als Platon auf eine transzendente Verankerung der Ethik im Reich der Ideen; vielmehr leitet er die Tugenden aus dem realen Leben der Menschen ab.
Historischer Hintergrund
Der Streit um die rechte Lebensführung im antiken Athen
Die Zeit des Aristoteles, das 4. Jahrhundert v. Chr., war von dem übermächtigen Einfluss der Sophisten geprägt. Diese Philosophen vertraten unterschiedliche Lehren; z. T. hielten sie das Recht des Stärkeren für ein Naturrecht und waren, gegen angemessene Bezahlung, gerne bereit, jedem beizubringen, wie er mit rhetorischen Tricks und politischen Manipulationen seine Interessen in der Gemeinschaft durchsetzen konnte. Entsprechend waren die meisten Mitglieder der Führungselite Athens von den Sophisten ausgebildet. Bereits Sokrates, der Lehrer Platons, war mit seinen festen Moralprinzipien bei den Sophisten und ihren Schülern angeeckt, die Opportunismus und eine relativierende Wertvorstellung als angemessene Mittel der Lebensführung und Politik ansahen. Sokrates musste seine konsequente Haltung letztendlich mit dem Leben bezahlen. Auch Aristoteles lehnte als Schüler Platons die manipulativen Techniken der Sophisten ab. Er war der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen ist und nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen seine Bestimmung verwirklichen kann. Ein Rückzug ins Private kam für ihn daher nicht infrage. Zugleich konnte er an der politischen Praxis in seiner Wahlheimat Athen sehen, dass Willkür und Machtkämpfe, die allein der Durchsetzung der eigenen Interessen galten, am Ende weder dem einzelnen Menschen noch der Gemeinschaft dienten.
Entstehung
Wie in allen anderen philosophischen Bereichen auch, ging Aristoteles die Frage nach der besten individuellen und kollektiven Lebensführung mit der ihm eigenen systematischen Konsequenz an. Da sich der Staat aus einzelnen Menschen zusammensetzt, musste als erste Frage geklärt werden, was der Mensch überhaupt im Leben anstreben soll und welche Wege er zur Zielerreichung zu beschreiten hat. Die Antwort des Aristoteles ist in drei ethischen Schriften überliefert, deren berühmteste Die Nikomachische Ethik ist; die anderen beiden sind Die Eudemische Ethik und Die große Ethik. Es ist bis heute nicht geklärt, ob Aristoteles das Werk selbst zusammengestellt und dann seinem Sohn Nikomachos gewidmet hat oder ob dieser erst nach dem Tod des Vaters die Schriften gesammelt und veröffentlicht hat. Jedenfalls trägt es denselben Namen wie sein Sohn und sein Vater. Das Werk stellt die berühmteste und einflussreichste Sammlung der ethischen Thesen des Aristoteles dar und bildet mit seinem Fokus auf der individuellen Glückseligkeit des Menschen die Grundlage für seine politischen Schriften, in denen es darum geht, wie der Einzelne in der politischen Gemeinschaft in seinem Glücksstreben gefördert werden kann.
Als langjähriger Schüler Platons setzte sich Aristoteles natürlich stark mit den Lehren seines Meisters auseinander. Er übernahm dessen vier Kardinaltugenden (Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit), setzte sie aber in einen neuen Bezug zueinander und zur menschlichen Seele. Den Idealismus Platons lehnte Aristoteles weitgehend ab. Das "absolute Gute" etwa sah er als etwas für den Menschen weder zu Verwirklichendes noch zu Erwerbendes an. Auch das Staatsideal Platons war für Aristoteles zu abgehoben; für ihn ging es darum, wie die Zustände in der realen Welt konkret verbessert werden konnten.
Wirkungsgeschichte
Die Nikomachische Ethik ist ein Grundlagenwerk der westlichen Philosophie und Ideengeschichte. Aristoteles etablierte damit die Ethik als wichtigen, eigenständigen Zweig der Philosophie.
Nach dem Untergang der antiken Kultur Griechenlands und Roms gerieten die Werke Aristoteles' eine Zeit lang weitgehend in Vergessenheit. Sie wurden zuerst im arabischen Raum wiederentdeckt und kommentiert (besonders von den Philosophen Averroes und Avicenna) und dann im Westen vor allem durch Albertus Magnus und seinen Schüler Thomas von Aquin als fester Bestandteil der mittelalterlichen scholastischen Philosophie und der katholischen Moraltheologie etabliert. Über Jahrhunderte galt Aristoteles dann schlichtweg als "der Philosoph". Erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Aristoteles verstärkt als eigenständiger Denker wahrgenommen und aus dem Kontext der Theologie herausgelöst.
Durch neuere Ansätze wie die Pflichtethik Immanuel Kants wurde die von Aristoteles begründete Tugendethik zwar in den Hintergrund gedrängt. Gerade angesichts eines allgemein beklagten Werteverlusts setzt aber mittlerweile wieder eine Renaissance der Tugendethik ein. Auch heute noch kommt kein Philosoph, Politikwissenschaftler, Soziologe, Theologe oder Jurist an einer Auseinandersetzung mit den Thesen vorbei, die Aristoteles in seinen ethischen Schriften dargelegt hat.
Über den Autor
Aristoteles wird 384 v. Chr. in Stageira auf der makedonischen Halbinsel Chalkidike geboren. Er entstammt einer angesehenen Familie und hat von früher Jugend an Zugang zum naturwissenschaftlichen Wissen seiner Zeit. Sein Vater ist Leibarzt des makedonischen Königs. Auch Aristoteles soll Arzt werden und beginnt bereits als Jugendlicher seine Studien an Platons Akademie in Athen. Dort verbleibt er fast 20 Jahre, erst als Schüler, später als Forscher und Lehrer. Als nach Platons Tod dessen Neffe Speusippos zum Nachfolger bestimmt wird, verlässt Aristoteles Athen und geht ins kleinasiatische Assos (in der heutigen Türkei) an den Hof des Hermias, eines früheren Mitschülers, mit dem er befreundet ist. Er heiratet dessen Nichte und Adoptivtochter Pythias. Fünf Jahre später, 342 v. Chr., wird Aristoteles zurück an den Hof Philipps von Makedonien gerufen, um den jungen Kronprinzen Alexander, der später als „der Große“ in die Geschichte eingehen wird, zu unterrichten. Nach der Ermordung Philipps wird Alexander 335 v. Chr. makedonischer König, und Aristoteles kehrt nach Athen zurück, wo er das Lykeion gründet. Diese Bildungsstätte wird auch als die Schule der Peripatetiker (Wandelschule) bekannt, weil die Gespräche zwischen Schülern und Lehrern oft beim Spazieren in den schattigen Laubengängen auf dem Schulgelände stattfinden. Aristoteles befasst sich mit fast allen Wissenschaften und Künsten, er verfasst Werke zu so unterschiedlichen Wissensgebieten wie Physik, Chemie, Biologie, Zoologie, Botanik, Psychologie, Politikwissenschaft, Metaphysik, Ethik, Logik, Geschichte, Literatur und Rhetorik und setzt dabei auf mehreren Gebieten wichtige Grundpfeiler für die westliche Philosophie. Nach Alexanders Tod im Jahr 323 v. Chr. muss Aristoteles Athen wegen der starken antimakedonischen Stimmung verlassen. Wie vor ihm Sokrates wird er offiziell der Gottlosigkeit angeklagt. Daraufhin zieht er sich auf das Landgut seiner Mutter in Chalkis auf der griechischen Insel Euböa zurück. Dort stirbt er 322 v. Chr. im Alter von 62 Jahren.
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Und dass das Buch nach Aristoteles' Sohn benannt ist, ist auch nicht 100%ig klar. Sein Vater hieß auch so.
vielen Dank für Ihre Hinweise. Es stimmt, dass der Begriff «Glückseligkeit» nicht ganz zutreffend ist. Da wir für jedoch ein breiteres Publikum schreiben, das sich unter dem Begriff «Glückseligkeit» mehr vorstellen kann als unter dem Begriff Eudaimonie, haben wir diese Ungenauigkeit in Kauf genommen; wir haben jedoch den akkuraten Begriff nun in Klammern aufgeführt.
Auch haben wir den Vater als möglichen Namensgeber für das Werk hinzugefügt.
Freundliche Grüße
Belén Haefely aus der Redaktion