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Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

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Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Mohr Siebeck,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Eine brillante Analyse der geistigen Wurzeln des Totalitarismus und ein Plädoyer für eine kritische und angstfreie Gesellschaft.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Der Kampf gegen das totalitäre Böse

Mit der „offenen Gesellschaft“ prägte Karl Popper ein Schlagwort, das das Selbstverständnis vieler moderner Demokratien mitbestimmt hat. Grundmerkmale einer offenen Gesellschaft sind die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Veränderung; das setzt Meinungsfreiheit und Diskussionsfähigkeit voraus. In offenen Gesellschaften gibt es keine Dogmen. Die geltenden Regeln bilden sich im demokratischen Diskurs. Geschlossene Gesellschaften hingegen haben starre Strukturen, die die Angst vor Veränderung ausdrücken. Das Buch ist geprägt von Negativerfahrungen mit den beiden großen totalitären Systemen Faschismus und Kommunismus, die es in einen historischen Zusammenhang stellt. Popper zeigt auf, „dass sich diese Zivilisation noch immer nicht von ihrem Geburtstrauma erholt hat“ – gemeint ist der Übergang von der Stammesgesellschaft mit ihrem magischen Denken zu einer Gesellschaft, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen freisetzt. Popper war 1937 vor den Nazis nach Neuseeland geflohen, wo er unter großen Entbehrungen das Buch schrieb. Es ging ihm aber nicht nur um den Kampf gegen den Totalitarismus. Auf theoretischer Ebene versuchte er seine kritisch-rationalistische Methode auf die Sozialwissenschaften anzuwenden: Für ihn ist es ein bestimmendes Merkmal offener Gesellschaften, Kritik an ihren Ideen zuzulassen.

Take-aways

  • Poppers Die offene Gesellschaft ist eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit der langen Tradition totalitären Denkens, die er auf den Philosophen Platon zurückführt.
  • Das Buch ist ein Plädoyer für Demokratie, offenen Diskurs, Eigenverantwortung und den Abschied von der Vorstellung, Geschichte laufe nach Gesetzmäßigkeiten ab.
  • Die „offene Gesellschaft“ wurde zum Schlagwort in der politischen Debatte und machte Popper ab den 60er Jahren auch in der deutschen Öffentlichkeit bekannt.
  • In offenen Gesellschaften treffen die Individuen persönliche Entscheidungen; sie versuchen zudem, andere Mitglieder der Gesellschaft sozial zu übertrumpfen.
  • Geschlossene, totalitäre Gesellschaften hingegen gehen nach Popper auf das Stammesdenken zurück, in dem die Geschicke von höheren Mächten gelenkt werden.
  • Platons Lehre vom „idealen Staat“ hat diese Vorstellung zementiert.
  • Platon sagte: Weil der ideale Staat in der Realität nicht erreicht werden kann, muss wenigstens der Status quo gesichert werden; Veränderung ist abzulehnen.
  • Indem Platon diese Regel als Gesetz formulierte, trug er zur Entstehung des Historizismus bei, der aus der Vergangenheit Gesetzmäßigkeiten für die Zukunft ableitet.
  • Karl Marx’ Historizismus war besonders gefährlich, weil er moralisch motiviert war und wohlmeinende Menschen auf den falschen Weg führte.
  • Nach Marx verläuft die Geschichte gesetzmäßig: Der Zusammenbruch des Kapitalismus und die Entstehung der klassenlosen Gesellschaft sind unausweichlich.
  • Doch Gesetzmäßigkeiten, die hundertprozentige Voraussagen zulassen, gibt es nicht.
  • Anstelle des Historizismus und des Glaubens an historische Vorhersagbarkeit setzt Popper auf eine „Politik der kleinen Schritte“.

Zusammenfassung

Das Übel des Historizismus

Die Geisteshaltung des Historizismus ist eine der wichtigsten Ursachen für die Entstehung und den Fortbestand totalitärer Ideen. Sie geht davon aus, dass das Verständnis des politischen und sozialen Geschehens auf einer Deutung der Vergangenheit beruhen muss. Der Einzelne ist in dieser Sicht eine unwesentliche Figur; die wichtigen Veränderungen gehen von großen Führern und den herrschenden Klassen aus und spielen sich in anderen Dimensionen ab als das Alltagsleben. Diesem großmaßstäblichen Geschehen kann der Beobachter Gesetzmäßigkeiten entnehmen, aus denen sich wiederum Schlüsse für die Zukunft ziehen lassen. So weit die herrschende Meinung – die man nicht teilen muss.

„Wenn aber der Historizismus eine unbrauchbare Methode darstellt und wertlose Resultate hervorbringt, dann mag es nützlich sein, seiner Entstehung nachzugehen und zu untersuchen, wie es möglich war, dass er sich so erfolgreich festsetzen konnte.“ (Bd. I, S. 12 f.)

Die Ansicht, dass der Einzelne dem Walten der Mächte schicksalsergeben ausgeliefert ist, ist untrennbar verbunden mit der Überzeugung, dass Historie von Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist. Diese Denkweise zieht sich durch die gesamte Geschichte des Historizismus und hat ihre dramatischste Ausformung durch Karl Marx erhalten. Doch die historizistische Methode ist nicht nur politisch schädlich, sie führt auch in den Sozialwissenschaften zu dürftigen Resultaten.

Der Ursprung totalitärer Ideen: die Stammesgesellschaft

Die Wurzeln des Historizismus liegen am Übergang der archaischen Stammesgesellschaft zur abendländischen Zivilisation – in der klassischen Antike. Stammesgesellschaften sind, wie sich das heute noch bei eingeborenen Völkern beobachten lässt, bestimmt vom magischen Denken. Sowohl die Natur als auch die sozialen Gebräuche werden von festen Regeln und wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten dominiert. In der Natur sind dies das Walten der Elemente, Tageslauf, Jahreszeiten und andere zyklische Erscheinungen, im sozialen Leben die Rituale mit ihren festen Abläufen. Zwischen den Phänomenen des sozialen Lebens und denen der Natur wird nicht grundsätzlich unterschieden; beides wird als Ausdruck eines übermächtigen Willens wahrgenommen. Eine solche Gesellschaft nennt man geschlossen, wohingegen eine offene Gesellschaft sich dadurch auszeichnet, dass sich jedes Individuum persönlichen Entscheidungen stellen muss und dass es versuchen wird, die bestehenden sozialen Schranken zu durchbrechen.

Platon

Ein Philosoph, der die Vorstellungen, die hier untersucht werden sollen, mitbegründet und eineinhalb Jahrtausende lang dominiert hat, war Platon. Er lebte in einer Zeit jahrzehntelanger Bürgerkriege und tiefer politischer Umwälzungen. Zwei seiner Onkel gehörten der tyrannischen Herrschaft der Dreißig an und wurden beim Kampf um die Einführung der Demokratie ermordet. Doch auch die Demokratie brachte der Gesellschaft keinen dauerhaften Frieden, deutlich erkennbar daran, dass Platons Lehrer Sokrates während dieser Ära zum Tode verurteilt wurde. Auch Platon selbst war von Zensur und Gefängnis bedroht. Vor diesem Hintergrund ist seine politische Weltsicht zu sehen, die gesellschaftliche Veränderungen nicht anders werten kann denn als Verschlechterung der bestehenden Verhältnisse. Veränderung wird stets als Chaos empfunden, als Zerstörung. Diese Sicht macht auch das Weltbild verständlich, das Platon in seiner Philosophie entwickelte.

Platons Ideenlehre und die Politik

Ganz verstehen lässt sich Platons Sicht auf Gesellschaft, Staat und Politik nur vor dem Hintergrund seiner Ideenlehre. Diese beruht auf dem Gedanken, dass jegliches Ding, das wir betrachten, sei es eine Pflanze oder ein Stein, ein Haus oder ein Mensch, von der einen, ursprünglichen Idee des Dings abgeleitet ist. Diese, die allein gültige Form, ist unsichtbar und unerreichbar; jede tatsächliche Ausprägung der Form unterscheidet sich von ihr in einem gewissen Maß.

„Platon war der Ansicht, dass es uns möglich sei, das eherne Schicksalsgesetz zu durchbrechen und den Verfall durch das Aufhalten aller Veränderung zu verhindern; dies zeigt, dass seinen historizistischen Neigungen wohlbestimmte Grenzen gesetzt waren.“ (Bd. I, S. 28)

Auf den Staat bezogen bedeutet das, dass auch jeder tatsächlich existierende Staat von dem idealen Staat mehr oder weniger weit entfernt ist. Und da der ideale Staat sich dadurch auszeichnet, dass in ihm keine Veränderung stattfindet, kann sich ein real existierender Staat durch jede Form von Veränderung nur vom Ideal entfernen. Deshalb muss Platons Staat, um den Status quo aufrechtzuerhalten, notwendigerweise ein starrer, autoritärer Staat sein. In vielen Details dieses idealen Staates erkennt man übrigens Platons Vorbild Sparta wieder. Man sieht, dass Platons Sicht auf historische Vorgänge fast zwangsläufig in eine Art Gesetzmäßigkeit mündet, nämlich in ein Gesetz des fortlaufenden Niedergangs. Mit jeder Veränderung, die ein Staatswesen durchmacht, entfernt es sich vom idealen Staat. Jede Veränderung ist negativ.

Hegel als Propagandist Platons

In der Neuzeit hat niemand den Historizismus stärker gefördert und platonische Ideen effektiver verbreitet als G. W. F. Hegel. Seine Philosophie ist in großen Teilen eine Wiederverwertung der Gedanken Platons, z. T. in zeitgemäßer Form. Die angesichts der Dürftigkeit seiner Leistung und seiner Begabung übermäßige Bedeutung, die Hegel erlangt hat, lässt sich wiederum nicht ohne den politischen Hintergrund verstehen. Hegel wurde vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. nach Berlin berufen, um dessen totalitäres Staatsverständnis ideologisch zu untermauern. Im Jahr 1818, als Hegel nach Berlin kam, war die Restauration in vollem Gang. Regierung und Beamtenschaft wurden systematisch von den zwar nationalistischen, aber aufgeklärt und demokratisch gesinnten Geistern gesäubert, die in den Befreiungskriegen die Franzosen vertrieben hatten.

„Im Folgenden wird die magische, stammesgebundene oder kollektivistische Gesellschaft auch die geschlossene Gesellschaft genannt werden; eine Gesellschaftsordnung jedoch, in der sich die Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen, nennen wir die offene Gesellschaft.“ (Bd. I., S. 207)

Hegel benutzte Platons Ideen, um seine Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Unterstützung des reaktionären preußischen Staates und die Bekämpfung liberaler Tendenzen. Der Staat ist alles, der Einzelne nichts, so seine Lehre. Deshalb musste Hegel auch gegen Englands liberale Verfassung wettern und die Nation in fast allen Belangen als rückständig gegenüber anderen Ländern bezeichnen – was ein unglaublicher Unfug war, wenn man sich nur Preußens damalige Provinzialität in puncto Wissenschaft und Kunst vergegenwärtigt.

Hegel als Vorreiter einer totalitären Moderne

Fast alle grundlegenden Inhalte der modernen totalitären Ideologien stammen von Hegel – auch wenn es meist nicht seine eigenen Ideen sind, sondern Adaptionen Platons oder, seltener, Heraklits. Um zu zeigen, wie sehr das ideologische Instrumentarium des Totalitarismus auf Hegel und folglich auch auf Platon beruht, lohnt es sich, eine Liste der wichtigsten Elemente aufzustellen, wie sie bei Hegel vorkommen:

  • Der Nationalismus: Der Einzelne verwirklicht sich nicht in sich selbst, sondern nur in seiner Eigenschaft als Mitglied der Nation. Diese ist die höchste geistige Idee.
  • Der Staat als Einheit: Als wichtigste Einheit definiert sich der Staat vor allem durch Abgrenzung zu den anderen Staaten. Er hat sie deshalb zum Feind und muss sich immer wieder durch Kriege behaupten.
  • Der Krieg als sittliches Prinzip: Weil der Daseinszweck des Staates eng mit dem Krieg verknüpft ist, wird der (meist totale) Krieg als sittliches Ideal propagiert. Der im Krieg erworbene Ruhm stellt das höchste Glück dar.
  • Der Heroismus: Da der Staat sich ständig im Krieg beweisen muss, kommt er keinen nennenswerten sittlichen Pflichten nach; ebenso wenig der Einzelne, der im Dienst des Staates steht. Das heroische Leben gilt als Ideal, im Gegensatz zur Langweiligkeit des kleinen Bürgers.
  • Der Erfolg als Richtschnur: Weil weder der Staat noch die in seinem Sinn Handelnden sittliche Maßstäbe befolgen, gilt der nackte Erfolg als oberste Richtschnur allen Handelns.
  • Das Führerprinzip: Staatsmännische Tugenden wie Charakterstärke, Weisheit und Leidenschaft werden allein auf den Führer des Staates projiziert.

Marx

Der Marxismus ist die reinste, am weitesten entwickelte und gefährlichste Form des Historizismus. Was Karl Marx allerdings von seinen historischen Vorläufern ebenso unterscheidet wie von den Faschisten, ist der humanitäre Impuls. Im Gegensatz zu Hegel ging es Marx ernsthaft darum, seine Theorien auf die drängenden sozialen Probleme seiner Zeit anzuwenden. Er wollte Methoden entwickeln, mit denen die Lage der leidenden und ausgebeuteten Menschen verbessert werden konnte. Trotzdem ist er nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch gescheitert. Noch verhängnisvoller aber ist, dass seine Lehre nach wie vor unzählige Leute beeinflusst, die guten Willens sind und die eigentlich eine offene Gesellschaft unterstützen möchten.

Das Versagen des Determinismus

Marx’ großer Fehler war es, die wissenschaftliche Bedeutung des Determinismus zu überschätzen. Er meinte, auf den Kapitalismus folge zwangsläufig die Revolution und auf diese der Kommunismus. Wo dieses Denken in gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht seine Wurzeln hat, wurde anhand Platons dargelegt. Es hat aber noch eine weitere Ursache: Zu Marx’ Lebzeiten war die Wissenschaft von der klassischen Physik dominiert, die Lehren von Newton und Descartes galten ohne Einschränkung. Die Industrie wiederum war beherrscht von der Mechanik. So ist es zu erklären, dass Marx eine derart deterministisch-mechanistische Sicht auf die Geschichte entwickeln konnte. Heute hingegen erweist sich die Haltung, dass Wissenschaftlichkeit notwendigerweise mit Determinismus einhergehe, als Aberglaube – wie die Erkenntnisse der Relativitätstheorie oder der Quantenphysik bewiesen haben.

„Die Hegel’sche Philosophie ist die Renaissance der Ideologie der Horde. Die historische Bedeutung Hegels wird aus dem Umstand klar, dass er gleichsam das ‚Bindeglied‘ (‚missing link‘) ist zwischen Platon und den modernen Formen des Totalitarismus.”“ (Bd. II, S. 39)

Die Geschichte hat seither immer wieder gezeigt, dass Marx mit diesem deterministischen Ansatz nicht nur grundsätzlich geirrt hat, sondern dass auch seine konkreten Voraussagen fast nie eingetreten sind. Ein Beispiel: die Annahme der ständig zunehmenden Ausbeutung, die irgendwann zur Revolution führt. Weder das eine noch das andere ist eingetroffen. Im Gegenteil, die seit der Frühzeit des Kapitalismus sinkende Arbeitszeit sowie die verbesserten Arbeitsverhältnisse verdanken sich zum großen Teil der gestiegenen Produktivität – die doch Marx’ Theorie zufolge zu immer stärkerer Ausbeutung führen müsste.

Die Ohnmacht der Politik und andere Widersprüche

Marx dämonisiert auch die Rolle des Staates, der ihm zufolge im Kapitalismus als Instrument der herrschenden Klasse dient, um deren wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Die Politik ist deshalb im Prinzip ohnmächtig, politische Aktivität kann nichts an der ökonomischen Realität ändern – außer im Fall eines völligen Umsturzes; dieser kann aber durch politisches Handeln weder ausgelöst noch verhindert werden. Marx’ sozialwissenschaftliche Methode wollte die Gesetzmäßigkeiten aufdecken, nach denen solche Umstürze stattfinden. Dies ist gründlich misslungen. Bei allem Scheitern ist es aber Marx’ unbestreitbares Verdienst, die Herausbildung des Kapitalismus und die skandalösen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse seiner Zeit analysiert zu haben.

„Das Prinzip des Nationalstaats ist aber nicht nur unanwendbar, es wurde außerdem niemals klar durchdacht. Es ist ein Mythos, ein irrationaler romantischer und utopischer Traum, ein Traum von Naturalismus und Stammeskollektivismus.“ (Bd. II, S. 62)

Kurioserweise zeigte sich die Ohnmacht der Politik, wenn auch anders als von Marx beschrieben, in den ersten Jahren der Sowjetherrschaft. Da Marx’ Hauptanliegen theoretischer Natur waren und er keinerlei praktische Anleitung zur Umsetzung gegeben hatte, mussten sich die Führer der Russischen Revolution von ihm regelrecht im Stich gelassen fühlen, als sie wirtschaftliche Reformen einleiten wollten. In den Schriften des „wissenschaftlichen Sozialismus“ fand sich dazu fast nichts.

Für einen offenen, eigenverantwortlichen Umgang mit der Geschichte

Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Tatsachen und Entscheidungen. Tatsachen an sich haben keinen Sinn; diesen erhalten sie erst durch unsere Entscheidung, wie wir damit umgehen wollen. Die gesamte Geschichte, für sich genommen, ist sinnlos – aber wir können ihr Sinn verleihen. Diesen Dualismus, den Zwiespalt zwischen Tatsachen und Entscheidungen, hat der Historizismus aufzuheben versucht. Dahinter steht vor allem die Angst, für die Konsequenzen unseres Handelns verantwortlich zu sein und ethische Maßstäbe selbst festlegen zu müssen. Aber ein solches aus der Angst geborenes Verhalten, das unsere Verantwortung auf höhere Mächte abzuwälzen versucht, ist gleichbedeutend mit Aberglauben.

„Man kann Marx nicht gerecht werden, ohne seine Aufrichtigkeit zuzugestehen. Seine Aufgeschlossenheit, sein Wirklichkeitssinn, sein Misstrauen vor leerem Wortschwall und insbesondere vor moralisierendem Wortschwall machten ihn zu einem der einflussreichsten Kämpfer gegen Heuchelei und Pharisäertum.“ (Bd. II, S. 97)

Wir haben keine andere Wahl, als unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wachsam und mit allen Konsequenzen: die Aufgabe, die wir für uns erkannt haben, so gut es geht erfüllen; eine Richtung festlegen, ihr folgen, solange es geht, oder sie irgendwann verlassen; Fehler machen und aus den Fehlern lernen. Aber wir dürfen nicht den Irrtum begehen, zu glauben, dass die Geschichte uns bestimmt und dass die Geschichte unser Richter sein wird.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die offene Gesellschaft ist ein groß angelegtes Werk, eine Mischung aus Essay und historischer Analyse. Indem Popper die geistigen Wurzeln des modernen totalitären Denkens in der Antike verortet, vor allem bei Platon, schlägt er einen kühnen Bogen. Dieser Versuch war seinerzeit überraschend; er ist, vor allem aufgrund Poppers gedanklicher Genauigkeit und seiner profunden Kenntnis antiker Quellen, grandios gelungen. Geschickt setzt Popper zudem seine Kenntnisse der Logik und der modernen Physik, etwa der Quantenmechanik ein, um nicht nur auf philosophischer, sondern auch auf wissenschaftlicher Ebene überzeugend gegen jede deterministische Weltsicht zu argumentieren. Sorgfältig entwickelt er seine Ideen; sein klarer, weitgehend emotionsloser Stil erinnert an das typisch britische Understatement. Stets bemüht, den Leser über den Gang der Argumentation zu unterrichten, fasst er häufig zusammen, kündigt Inhalte späterer Kapitel an, führt Gegenargumente ins Feld und referiert zuweilen seinen eigenen Meinungsbildungsprozess. Der ganze Text, bestehend aus zwei Bänden mit jeweils umfangreichem Anmerkungsapparat, ist recht stringent. Der erste Band ist vor allem Platon gewidmet, daneben Heraklit, Sokrates und Aristoteles. Im zweiten Band geht es um Hegel und besonders um Marx, an dessen wissenschaftlichem Anspruch Popper seine wissenschaftstheoretischen Werkzeuge sehr effektiv ansetzen kann. Zu Poppers Lebzeiten wurde jede neue Ausgabe des Werks durchgesehen, in Teilen verändert oder um zusätzliche Texte ergänzt; auch der Anmerkungsapparat wuchs ständig. So spiegelt die Editionsgeschichte sehr schön das Prozesshafte von Poppers Denk- und Arbeitsweise: Nichts ist endgültig, alles unterliegt der Veränderung.

Interpretationsansätze

  • Popper betreibt radikale Aufklärung: Weder die Geschichte noch der Staat sind für ihn als höhere Mächte anzuerkennen, alle Macht liegt beim Individuum.
  • Poppers Ansatz, dass totalitäres Denken kein Produkt des 19. oder 20. Jahrhunderts ist, sondern aus der Antike und aus dem Übergang von der Stammesgesellschaft zur westlichen Zivilisation herrührt, war neu und originell und ist seither nicht überzeugend widerlegt worden.
  • Nach wie vor gültig erscheint ein Grundgedanke nicht nur der Offenen Gesellschaft, sondern von Poppers Wissenschaftskonzeption überhaupt: Geschichte ist ein offener Prozess ohne vorherbestimmbaren Ausgang. Es gibt keinen „Weltgeist“ oder „Geist der Geschichte“. Diese Ansicht teilt heute z. B. auch die Biologie hinsichtlich des Verlaufs der Evolution.
  • Popper appelliert nachdrücklich an die Verantwortung des Einzelnen, so in den grandiosen letzten Sätzen: „Statt als Propheten zu posieren, müssen wir zu den Schöpfern unseres Geschicks werden. (...) In dieser Weise könnten wir vielleicht sogar die Weltgeschichte rechtfertigen: sie hat eine solche Rechtfertigung dringend nötig.“
  • Kritik entzündete sich u. a. daran, dass Popper sich in seinem Gesellschaftsbild zu sehr auf das Individuum konzentriert und die historische Bedeutung sozialer Bindungen und Dynamiken vernachlässigt. Offensichtlich vertritt er ein typisch angelsächsisches Weltbild, in dem es, überspitzt gesagt, die Gesellschaft gar nicht gibt, sondern nur das Individuum.
  • Die offene Gesellschaft wurde als „ideengeschichtlicher Langzeitdünger“ bezeichnet: Das Buch habe langsam, aber umso nachhaltiger gewirkt. Die Diskussion über Demokratie und Totalitarismus, die sich Popper gewünscht hatte, wurde tatsächlich in aller Breite geführt.

Historischer Hintergrund

Totalitarismus und modernes Weltbild

Karl Popper verfasste Die offene Gesellschaft und ihre Feinde in jenen Jahren, in denen die Macht der totalitären Systeme in Europa ihre dramatischste Ausformung erfuhr: kurz vor und vor allem während des Zweiten Weltkriegs. Besonders in der Mitte des europäischen Kontinents, in Deutschland und in der österreichischen Monarchie, war die politische Ordnung durch den Ersten Weltkrieg nachhaltig erschüttert worden. Hier machte sich der Faschismus breit, während im Osten der totalitäre Kommunismus an Macht gewann. Gleichzeitig begann sich in den Naturwissenschaften jener tief greifende Wandel des Weltbildes zu vollziehen, den man als den Sieg des Relativen über das Absolute, der Unsicherheit über die Gewissheit, des Prozesshaften über das Statische bezeichnen könnte. Albert Einstein hatte mit seiner Relativitätstheorie den Glauben an die Unveränderlichkeit von Raum und Zeit erschüttert; Max Planck und Werner Heisenberg hoben mit Quantenmechanik und Unschärferelation die Vorstellung eines auf allen Größenebenen gleichmäßig gültigen Maßstabes auf; Kurt Gödel wies nach, dass es auch in der Logik keine widerspruchsfreien Systeme gibt; und Sigmund Freud erklärte mit der Theorie des Unbewussten, dass der Mensch nicht einmal im eigenen Kopf der Herr im Haus ist.

Entstehung

Wie Popper im Vorwort berichtet, beschloss er am 13. März 1938, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde zu schreiben, an dem Tag, an dem er von Hitlers Einmarsch in seine Heimat Österreich erfuhr. Zu dieser Zeit lebte er bereits in Neuseeland, wohin er mit seiner Frau emigriert war. Eigentlich war er mit der Arbeit an einem Lehrbuch der Logik beschäftigt, einer erweiterten Fassung seines 1935 erschienenen wissenschaftstheoretischen Hauptwerks Logik der Forschung. Doch das Schockerlebnis des „Anschlusses“ trieb ihn dazu, in den nächsten Jahren so intensiv an der Offenen Gesellschaft zu arbeiten, dass er bis an den Rand des körperlichen und psychischen Zusammenbruchs kam. Das karge Dozentengehalt reichte hinten und vorne nicht; Briefe nach Europa waren wochenlang unterwegs; dazu kam mit zunehmendem Fortschritt des Manuskripts die Unsicherheit, ob das Buch überhaupt einen Verleger finden würde. Nach vergeblichem Bemühen seiner Freunde in den USA erklärte sich schließlich ein Verlag in England bereit, das Buch herauszubringen. Der Angriff der Nazis auf England verschaffte dem Thema dann eine noch größere Aufmerksamkeit, und das Werk erfuhr eine stetige und bis heute anhaltende Beachtung.

Wirkungsgeschichte

Karl Popper gilt als einer der wirkmächtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts – was neben der Vielfalt seiner Themen auch an dem Kunstgriff lag, die zentrale Idee der Überprüfbarkeit durch Falsifizierung sowohl auf die Natur- als auch auf die Geisteswissenschaften anzuwenden. Die offene Gesellschaft als sein populärstes Werk entfaltete eine zunächst bescheidene, aber dann immer mächtigere Wirkung. Bei seinem Erscheinen 1945 wurde das Buch in England positiv aufgenommen; eine deutsche Ausgabe erschien allerdings erst 1957. In der breiten Öffentlichkeit wurde Popper ab 1961 vor allem durch den „Positivismusstreit“ bekannt, der zwischen den „kritischen Rationalisten“ um Popper und Hans Albert auf der einen und den neomarxistisch geprägten Protagonisten der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas auf der anderen Seite geführt wurde. Popper vertrat dabei den Standpunkt, dass wissenschaftliche Hypothesen niemals verifiziert, wohl aber falsifiziert werden können. Man dürfe also nur Theorien aufstellen, die potenziell durch Experimente widerlegbar seien. Der Positivismusstreit, in dem es vordergründig um methodische Ansätze in der Soziologie und auf tieferer Ebene um weltanschauliche Grundhaltungen ging, tobte unter den großen Philosophen der 60er Jahre mit außerordentlicher Heftigkeit. Bis heute ist der Streit zwischen den Theorierichtungen nicht beigelegt.

Während der Jahre der Studenten- und der Umweltbewegung wandte sich Popper immer wieder energisch gegen eine dort häufig virulente Form von Pessimismus und Zynismus, die in seinen Augen die demokratische Staatsform auf leichtsinnige Weise diskreditierte. Stattdessen predigte er einen kritischen und tätigen Optimismus („Politik der kleinen Schritte“). Sein Satz „Alles Leben ist Problemlösen“ wurde zum geflügelten Wort und von verschiedenen Denkern aufgenommen. Pragmatisch denkende Staatsmänner wie der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt beriefen sich auf Popper als Vordenker einer selbstbewussten demokratischen Moderne. Der Untergang des Sowjetkommunismus 1989 und die Verbreitung des Demokratiemodells im ehemaligen Ostblock wurde von vielen Beobachtern als eindrucksvoller Sieg der Ideen Poppers über diejenigen Marx’ gewertet. Der Milliardär George Soros gründete 1993 in New York das Open Society Institute als Instrument der privaten „demokratischen Entwicklungshilfe“. Poppers Überzeugungen sind auch im 21. Jahrhundert aktuell: auf politischer Ebene die, dass Geschichte nicht nach Gesetzen abläuft und dass jeder Einzelne die Pflicht hat, sie mitzugestalten; auf wissenschaftlicher Ebene die, dass Lernfähigkeit und Selbstkritik entscheidend sind für die Leistungsfähigkeit von Systemen.

Über den Autor

Karl Popper stammt aus einer wohlhabenden, jüdischen, bürgerlich-intellektuellen Wiener Familie. Er wird am 28. Juli 1902 geboren; seine Erziehung atmet den Geist der Aufklärung und eines sozialreformerischen Liberalismus. Der Vater ist Rechtsanwalt, die Mutter entstammt der Musikerfamilie Schiff. Schon als Kind zeigt Karl Popper sich von philosophischen Problemen fasziniert. 1918 verlässt er vorzeitig die Schule, schreibt sich als Gasthörer an der Universität ein und schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Nach einem kurzen Intermezzo mit dem Marxismus wendet er sich strikt von dieser Theorie ab. Er macht eine Tischlerlehre, studiert kurz am Konservatorium, hält sich dann aber musikalisch für zu wenig begabt. Er holt die Matura nach und macht eine Ausbildung zum Grundschullehrer. 1925 beginnt er eine höhere Lehrerausbildung und promoviert parallel dazu an der Wiener Universität. 1929 schließt er seine Dissertation ab und wird Hauptschullehrer für Physik und Mathematik. 1930 heiratet er seine Mitschülerin Josefine Anna Henninger („Hennie“). Die Ehe bleibt kinderlos. Als der Antisemitismus in Österreich untragbar wird und Popper das Arbeitsverbot droht, wandert er mit Hennie nach Neuseeland aus. Er muss seine Familie zurücklassen; 16 seiner Verwandten werden von den Nazis ermordet. In Christchurch bekommt er seine erste akademische Stelle. Der Faschismus macht aus ihm einen politischen Philosophen; 1945 erscheint sein berühmtes Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 1946 erhält er eine Dozentur an der renommierten London School of Economics, 1949 wird er dort Professor für Logik und Wissenschaftstheorie sowie britischer Staatsbürger. 1965 erhebt ihn die Krone in den Adelsstand. Der so genannte Positivismusstreit, ausgelöst 1961, macht seine Gegenposition zu jüngeren Philosophen wie Jürgen Habermas deutlich. 1977 schreibt Popper zusammen mit dem Neurophysiologen John C. Eccles Das Ich und sein Gehirn; er publiziert weiter bis ins hohe Alter. Popper stirbt am 17. September 1994 in London.

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