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Die Reisen mit meiner Tante

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Die Reisen mit meiner Tante

dtv,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Wer richtig altert, bleibt ewig frisch – Greenes alte Tante triumphiert über die Jugend.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Das Geheimnis eines langen Lebens

Alt werden will jeder, alt sein niemand – das ist gängige Auffassung. Was aber, wenn man plötzlich feststellt, dass man alt an Jahren ist, dafür aber viel zu wenig erlebt hat? Graham Greene zeigt das Alter nicht als Mangel, sondern als Fülle. Wer viel erlebt hat, hat auch viel gelebt. Auf diese Art wird das Alter umgedeutet. Nicht die kurze Zeit, die noch bleibt, steht im Zentrum der Überlegungen, sondern der Schatz des Erlebten, der sich ansammelt. Umgekehrt ist das Jungsein – im Sinne eines Mangels an Erlebtem – nicht erstrebenswert. Romanheld Henry Pulling, relativ alt an Jahren, doch jung an Erfahrungen, beginnt neu zu leben mit einer alten Tante. Er erlebt eine Wiedergeburt und beginnt, richtig zu altern, also mit vielen neuen Erfahrungen. Die Botschaften von Greenes untypisch heiterem Roman: 1. Es ist nie zu spät für einen Neuanfang. 2. Altern ist gut. Und das ist tröstlich.

Take-aways

  • Die Reisen mit meiner Tante ist Graham Greenes einziger durchweg heiterer Roman.
  • Inhalt: Als Henry Pulling seine Tante Augusta kennenlernt, gerät sein Leben aus den Fugen. Aus dem langweiligen Ex-Bankdirektor wird erst ein Reisender und dann ein Komplize für dubiose Geschäfte. In Paraguay, der Endstation seiner Reisen, erkennt er schließlich: Die 75-jährige Lebedame Augusta ist in Wirklichkeit seine Mutter.
  • Das Buch ist ein negativer Bildungsroman mit einer Rückwärtsentwicklung des Erzählers vom abgeklärten Erwachsenen zum aufgeweckten Kind.
  • Zentrales Thema ist das Alter: Nur wer viel erlebt, gewinnt ein hohes Alter – unabhängig von der Anzahl der verlebten Jahre.
  • Greene bezeichnete das Werk als „das einzige Buch, das ich einfach aus Spaß geschrieben habe“.
  • Es gilt unter Kritikern und Literaturwissenschaftlern als bewusste Selbstparodie des Autors und als Rekapitulation früherer Romanschauplätze.
  • Der Ton ist geprägt durch britisches Understatement und sehr viel Figurenrede.
  • Greene verarbeitete in dem Roman sehr viel Biografisches und baute zahlreiche Verweise auf Personen ein, die er kannte.
  • Der Katholizismus, ein wiederkehrendes Motiv in Greenes Büchern, tritt auch hier sehr prominent in den Vordergrund.
  • Zitat: „Meine Tante hatte offensichtlich viele Jahre im Ausland verbracht, und das hatte ihren Charakter ebenso wie ihre Moral in Mitleidenschaft gezogen.“

Zusammenfassung

Die Mutter ist tot, es lebe die Tante

Der seit zwei Jahren pensionierte Bankfilialleiter Henry Pulling ist unverheiratet und züchtet Dahlien. Auf der Beisetzung seiner Mutter in London trifft er deren Schwester, seine 74-jährige, rothaarige, elegant gekleidete Tante Augusta. Begegnet sind sich die beiden zuletzt bei Henrys Taufe vor über 50 Jahren. Nach der Einäscherung kommen Augusta und Henry ins Gespräch. Tante Augusta nimmt Henry samt der Urne ihrer Schwester mit zu sich. Bereits auf der Taxifahrt eröffnet sie ihrem Neffen, dass die eingeäscherte Frau nicht seine wahre Mutter gewesen sei. Augustas Schwester sei eine Heilige gewesen und unberührt gestorben. Henrys Vater, der bereits vor 40 Jahren starb, habe ein Mädchen geschwängert, und ihre Schwester habe ihn geheiratet und alles vertuscht.

„Ich begegnete meiner Tante Augusta zum ersten Mal nach mehr als einem halben Jahrhundert beim Begräbnis meiner Mutter. (…) Ich hatte nie geheiratet, hatte immer ein ruhiges Leben geführt und, abgesehen von meinem Interesse für Dahlien, kein Steckenpferd. Deshalb fühlte ich mich von der Beisetzung meiner Mutter auf angenehme Weise erregt.“ (S. 9)

Henrys Tante wohnt über einer Bar, ihre Wohnung ist voll von venezianischem Glaskunsthandwerk, und sie lebt zusammen mit ihrem großen, schwarzen Liebhaber Wordsworth. Bei einem Glas Whisky erzählt die Tante, sie sei einst bei der Einäscherung der Frau eines berühmten Schriftstellers gewesen, wo sie irrtümlich und vorzeitig den Sarg in den Ofen befördert habe. Henry bezweifelt die Erzählung der Tante, außerdem wundert er sich über Wordsworths derbe Ausdrucksweise. Schließlich geht er. Erst draußen bemerkt er, dass er die Urne vergessen hat. Er klingelt, und Wordsworth bringt ihm die Urne herunter – mit geöffnetem Siegel.

Ein Hauch von Anarchismus

Die einzige Gelegenheit, zu heiraten hatte Henry verstreichen lassen, als er Miss Keene, die Tochter seines besten ehemaligen Bankkunden, nach Südafrika auswandern ließ, ohne ihr den Antrag zu machen, den sie sich möglicherweise erhoffte. Jetzt bleiben ihm die Dahlien. Henry ist gerade im Garten, als das Telefon klingelt: Es ist Tante Augusta. Die Polizei habe bei ihr eine Razzia durchgeführt, nach Drogen gefragt und sei nun auf dem Weg zu ihm. Kurz darauf klingelt es an Henrys Tür. Ein Polizist fragt Henry nach Wordsworth, in dessen Sachen sich Spuren von Marihuana fanden, und nach einem Paket, das Henry von Wordsworth entgegengenommen habe. Nach einigem Zaudern überlässt Henry der Polizei die Urne zur Untersuchung. Er informiert seine Tante und erfährt von ihr, dass Wordsworth abgereist sei, vermutlich nach Paris. Henry verabredet einen Ausflug mit ihr nach Brighton. Dort angekommen, erhofft er sich einen ruhigen Aufenthalt, doch Tante Augusta hat andere Pläne. Die beiden besuchen Hatty, eine alte Freundin der Tante, mit der sie früher für einen Mann namens Curran gearbeitet hat. Die Freundin ist Wahrsagerin und prophezeit beiden große Reisen. Henry erfährt, dass seine Tante mit Curran, der ihr Geliebter war, in Brighton eine Kirche für Hunde betrieben hat.

„Ohne meine Zustimmung abzuwarten, hielt sie ein Taxi an. Es war die erste und, wenn ich heute daran zurückdenke, wohl denkwürdigste der Reisen, die wir gemeinsam unternehmen sollten.“ (über Tante Augusta, S. 14)

Wieder zu Hause in London erfährt Henry von der Polizei, dass die Urne seiner Mutter voll mit Marihuana war. Er reagiert am Telefon ungehalten und entdeckt zum ersten Mal eine „anarchistische Ader“ an sich. Als Henry seine Tante besucht, teilt diese ihm mit, dass sie zwei Plätze im Orientexpress reserviert habe und ihn in der folgenden Woche nach Istanbul mitnehmen wolle. Henry erfährt von der unsteten Lebensweise seines Vaters und von der Existenz seines – ihm bis dahin völlig unbekannten – Onkels. Dieser hat nach einem Schlaganfall sein letztes Lebensjahr in einem halb verfallenen Palazzo in Italien verbracht, den Tante Augusta ihm besorgt hat. Dort ist er jede Woche in ein anderes Zimmer umgezogen, um sich dem Eindruck des ständigen Reisens und eines langen Lebens hinzugeben. Bevor er den letzten Raum, die Toilette, erreichte, starb er nach einem zweiten Schlaganfall – auf dem Flur oder, wie er meinte, auf der Reise.

Die Reise beginnt

Henry und seine Tante reisen zunächst mit dem Flugzeug nach Paris. Dabei schmuggelt Tante Augusta einen Koffer voller Geldscheine mit findigen Tricks durch den Zoll. Henry begegnet auf einem Spaziergang in Paris Wordsworth, der ihn gegen seinen Willen in ein Bordell mitschleppt. Obwohl er wegen der Sache mit der Urne noch wütend auf Wordsworth ist, empfindet Henry Mitgefühl für ihn, als er ihn auf der Straße stehen lässt. Zurück im Hotel erfährt Henry mehr über das Liebesleben seiner Tante. Genau in dem Hotel, in dem die beiden sich niedergelassen haben, verbrachte die Tante einst sechs der schönsten Monate ihres Lebens, als Geliebte eines gewissen Monsieur Dambreuse. Dieser hatte noch eine weitere Geliebte im Hotel nebenan. Die Liebschaft endete, als Dambreuse eines Tages mit Frau und Kindern in den Park zwischen den Hotels kam und beide Geliebte ihn dort trafen. Paris war auch der Ort, an dem Tante Augusta von Mr. Visconti „entdeckt“ und später auf „Europatournee“ mitgenommen wurde.

„Ein langes Leben hat nichts mit der Anzahl der Jahre zu tun. Ein Mensch ohne Erinnerungen kann hundert werden und doch das Gefühl haben, dass sein Leben sehr kurz war.“ (Tante Augusta, S. 69)

Bei der Abreise aus Paris kommt Wordsworth zum Bahnsteig und verabschiedet sich tränenreich von seinem „Babygirl“ Augusta, während Henry im Abteil seiner Tante die etwa 18-jährige Tooley kennenlernt. Der Orientexpress ist nicht mehr so, wie ihn Augusta früher erlebt hat. Kein Speisewagen bis zur türkischen Grenze, kein Gelage mit Champagner und Kaviar wie einst mit Mr. Visconti. Tooley, deren Vater angeblich für die CIA arbeitet und die im Nachbarabteil bis Istanbul und danach weiter nach Katmandu reisen will, bietet Schokolade und Cola an. Sie versorgt Henry auch mit Zigaretten, die sich als Marihuanajoints entpuppen – ein Geschenk von Wordsworth an Tooley. Die beiden haben sich in Paris kennengelernt. Tooley erzählt von ihrem Freund Julian, der per Anhalter nach Istanbul reist. Dieser sei verärgert, dass Tooley die Pille vergessen habe. Sie selbst befürchtet, schwanger zu sein, und hat bereits versucht, diesen Zustand durch Hausmittel und eine Affäre zu beenden.

Von Mailand nach Istanbul

Beim Zwischenstopp in Mailand trifft Augusta den Sohn von Mr. Visconti, Mario. Nach einem gemeinsamen Essen steckt er Augusta ein Paket zu. Im Zug erzählt sie Henry von ihrer Zeit mit Visconti. Sie arbeitete in einem Bordell, als er sie traf. Die folgende „Tournee“ durch Italien endete erst mit der Erbschaft, die Henrys Onkel Augusta hinterließ. Visconti, ein Schwindler, nahm Augusta für seine zwielichtigen Geschäfte fast das ganze Erbe ab. Doch Augusta war nie wütend auf Visconti, wie Henry es gewesen wäre. Henrys Unverständnis und bürgerliches Ehrgefühl verärgern Augusta. Viscontis Geldbetrug sei nur ein Makel unter vielen gewesen, erklärt Augusta ihrem Neffen. Auch als Kollaborateur der Deutschen und als Erpresser italienischer Kunstsammler sei er in Aktion getreten. Visconti, so erfährt Henry jetzt, ist der Grund für die Fahrt nach Istanbul. Er stecke in Schwierigkeiten. Nun müsse die Tante eine „kleine Transaktion“ tätigen mit einem alten Bekannten, General Abdul. Im mittlerweile angehängten Speisewagen erfahren Tante und Neffe von Tooley, dass sie doch nicht schwanger ist. Noch bevor der Zug in Istanbul eintrifft, schließt sie sich einer Gruppe amerikanischer Studenten an und verschwindet.

„Meine Tante hatte offensichtlich viele Jahre im Ausland verbracht, und das hatte ihren Charakter ebenso wie ihre Moral in Mitleidenschaft gezogen.“ (S. 93)

In Istanbul lässt sich Henry von einem Taxifahrer durch die Stadt kutschieren. In einer Hotelbar beobachtet er melancholisch eine Runde Männer beim Tanz. Als er zurück im eigenen Hotel ist, lässt sich ein Oberst Hakim bei seiner Tante melden. Er ist Polizist und befragt Augusta nach geplanten Finanzgeschäften zwischen ihr und General Abdul. Abdul habe einen politischen Aufruhr mit ausländischem Geld geplant und befinde sich nun im Gefängnis. Augusta redet sich gekonnt heraus. Auch die anschließende Durchsuchung ihrer Sachen und des Zimmers ergibt nichts. Als die Polizei abgerückt ist, erkennt Henry, dass in einer Kerze ein geschmuggelter Goldbarren versteckt ist, den Augusta Abdul übergeben wollte.

Von London nach Südamerika

Wieder zurück in London entdeckt Henry in einem Buch seines Vaters ein altes Foto der jungen Augusta. Er ist in melancholischer Stimmung und ruft seine Tante an. Diese teilt ihm mit, dass sein Vater in Boulogne beerdigt ist, und stimmt einem kurzen Ausflug mit Henry dorthin zu. Auf dem Friedhof in Boulogne lernen die beiden die Frau kennen, in deren Armen Henrys Vater vor 40 Jahren gestorben ist. Sie lernte Henrys Vater in London kennen, machte mit ihm eine Reise nach Frankreich und wurde Zeugin, wie er nach einer Lebensmittelvergiftung auf ihrer Zimmerschwelle starb. Seitdem pflegt sie sein Grab. Henry reist aus Boulogne zurück nach London, seine Tante weiter nach Paris. Zuvor hat er sie ein wenig verärgert, weil er eine ihrer Geschichten über einen gewissen Mr. Pottifer nicht hören wollte. Henry verbringt ein einsames Weihnachtsfest. In der Mitternachtsmesse trifft er den Polizisten wieder, der ihm die Urne abgenommen hat. Er untersucht zusammen mit einem Inspektor im Auftrag von Interpol den Fall Visconti und kündigt eine Hausdurchsuchung bei der abwesenden Tante an. Dabei erfährt Henry, dass General Abdul tot ist und sich bei ihm ein Hinweis auf Tante Augusta fand. Doch das Einzige, was die Polizisten finden, ist eine Postkarte aus Panama.

„Ich fühlte mich, als ziehe sie mich hinter sich her auf eine absurde Abenteuerfahrt, wie Sancho Pansa auf den Fersen Don Quijotes, aber im Dienst des Spaßes, wie sie das nannte, statt des Rittertums.“ (über Tante Augusta, S. 109)

Ein halbes Jahr hört Henry nichts von seiner Tante und ist kurz davor, Miss Keene um ihre Rückkehr nach England und ihre Hand zu bitten, da kommt ein Brief von Augusta. Sie beauftragt Henry, ihre Wohnung aufzulösen und nach Buenos Aires zu kommen – ein First-Class-Ticket liegt bei. Henry macht sich auf den Weg nach Argentinien. Von dort geht es weiter nach Paraguay. An Bord eines Schiffes nach Asunción lernt er einen Amerikaner namens O’Toole kennen, angeblich Sozialforscher. Es stellt sich heraus, dass er der Vater von Tooley ist. Beim Landgang in Formosa trifft Henry überraschend auf Wordsworth, der ebenfalls an Bord geht. Wordsworth hat den Auftrag, ein Bild entgegenzunehmen, das Henry aus der Wohnung seiner Tante mitgebracht hat. Wordsworth ist eifersüchtig auf einen Kerl, der jetzt zusammen mit Tante Augusta in Asunción lebt. Henry vermutet richtig: Es ist Visconti. Als er die große, aber baufällige Villa seiner Tante erreicht, ist Visconti nicht da. Augusta bestätigt, dass O’Toole erstens CIA-Agent und zweitens wegen Kunstschmuggels hinter Visconti her ist. Außerdem schickt sie den traurigen Wordsworth zurück nach Europa.

Ein Deal

Am Nationalfeiertag von Paraguay begeht Henry einen großen Fehler. Er schnäuzt sich in einen Schal, der die Farben der Regierungspartei trägt – genau vor der Parteizentrale. Prompt landet er im Gefängnis und muss eine sehr schlechte Behandlung über sich ergehen lassen, bis er den Namen O’Toole nennt. Man holt den Amerikaner, und dieser sorgt für Henrys Entlassung. Außerdem bringt er Licht in die Angelegenheit Visconti. Henry erfährt, dass Wordsworth den unter falschem Namen lebenden Visconti verraten hat. O’Toole bringt Henry zu Augusta. Visconti ist bereits dort. Aber er entspricht ganz und gar nicht Henrys Vorstellungen: klein, dick und kahl. Dennoch liebt Augusta ihn offensichtlich. Sie lässt sich sogar häusliche Anweisungen von ihm erteilen. Visconti und O’Toole machen einen Deal: Visconti darf weiterhin Whisky und Zigaretten schmuggeln und im Gegenzug erhält O’Toole für 10 000 Dollar eine Zeichnung, die hinter dem Bild versteckt ist, das Henry Wordsworth übergeben hat. Die Zeichnung stellt eine Art Bagger dar, entworfen und gefertigt von Leonardo da Vinci.

„Ich verachte niemanden (…), niemanden. Man kann bereuen, was man getan hat, wenn man dieses Baden in Selbstmitleid mag, aber verachten darf man niemals, niemals.“ (Tante Augusta, S. 141)

Sobald O’Toole mit dem Bild verschwunden ist, eröffnet Visconti Henry und Tante Augusta, dass es sich dabei nur um eine Kopie handelt. Obwohl O’Toole Henry die Rückreise nach England empfohlen hat, fordert Visconti ihn zum Bleiben auf – der Polizeichef habe eine hübsche Tochter. Henry sieht jetzt die Gelegenheit gekommen, sich die Geschichte aus Boulogne über Mr. Pottifer anzuhören. Und Tante Augusta erzählt: Pottifer, ein Steuerberater, der für Augusta früher clevere Schlupflöcher entdeckt hat, habe eine Möglichkeit gefunden, sein Leben zu verlängern. Er habe in seinem Testament verfügt, einen Anrufbeantworter über seinen Tod hinaus laufen zu lassen – zum einen, um das ihm verhasste Finanzamt zu foppen, zum anderen, um länger zu leben. Henry spricht mit seiner Tante über die Gründe, die ihn nach London zurückziehen. Er findet keinen einzigen, der stichhaltig wäre.

Ein neues Zuhause

Zur Party am nächsten Tag finden sich alle Honoratioren der Stadt ein. Schmuggler und Polizei, Hochfinanz und Botschafter feiern das Ende von Viscontis Verfolgung. Auch O’Toole ist dabei. Er vermisst seine Tochter. Henry vermisst Wordsworth. Als er gegen Ende des rauschenden Festes, auf dem er auch die 14-jährige Tochter des Zollinspektors kennenlernt, im Garten aufwacht, macht er eine Entdeckung. Wordsworths Messer liegt im Dunkeln auf dem Boden. Wenig später findet Henry auch den Besitzer: Wordsworth wurde im Garten getötet. Henry ist betrübt. Hat Wordsworth Visconti ermorden wollen? Oder wurde er Opfer eines Irrtums? Die Leidenschaft von Wordsworth für seine Tante rührt Henry. Er geht ins Haus, findet einzig noch Visconti und Augusta beim Tanz und meldet den Tod von Wordsworth. Als sie nicht auf seine Worte reagieren, spricht er, einer Eingebung folgend, seine Tante Augusta als „Mutter“ an – und sie antwortet: „Ja, Lieber, alles zu seiner Zeit, siehst du nicht, dass ich gerade mit Mr. Visconti tanze?“ 

„Und dann dachte ich an Mr. Visconti, wie er mit meiner Tante im Empfangssalon des Bordells (…) tanzte, nachdem er den Vatikan und den König von Saudi-Arabien beschwindelt und eine breite Spur der Verwüstung in den Banken Italiens hinterlassen hatte. War das Geheimnis ewiger Jugend nur kriminellen Gemütern bekannt?“ (S. 218)

Henrys Entscheidung ist gefallen. Er bleibt. Gemeinsam mit seiner Mutter und Visconti steigt er in das Schmuggelgeschäft ein. Ihnen gehört bereits ein eigenes Flugzeug, und die kompromittierenden Fotos von der Party helfen, falls polizeiliche Fragen auftauchen sollten. Auch für die Zukunft sind bereits Pläne gemacht: Im nächsten Jahr wird Henry die Tochter des Zollinspektors heiraten – eine lohnende Verbindung. Sie sind zwar sehr unterschiedlich alt, aber sie teilen eine Begeisterung für viktorianische Literatur.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Reisen mit meiner Tante ist ein Roman in zwei Teilen. Der erste, mit 20 Kapiteln längere Teil spielt in Europa, der aus nur neun Kapiteln bestehende zweite in Südamerika. Der Roman wird aus der Ich-Perspektive der Figur Henry Pulling rückblickend erzählt. Am Ende des Romans erreicht die erzählte Zeit den Erzählzeitpunkt, der Text wechselt von der Vergangenheitsform ins Präsens. Über weite Strecken besteht der Text aus Reflexionen des Erzählers und direkter Figurenrede. Letzteres sind vor allem von Tante Augusta erzählte Anekdoten. Der Ton ist ein einfacher, weitgehend heiterer Plauderton mit Sprachwitz und Understatement. Mitunter mischen sich in die Dialoge Passagen mit explizit derber Sprache. Die Figur Wordsworth spricht in kindlich-naivem, grammatisch falschem Ton. Dialoge bestehen oft nur aus wörtlicher Rede, ohne Zusätze wie „sagte er“ oder „erwiderte sie“. Eine ganze Reihe von englischen Dichtern wird im Text genannt und auch zitiert, einzelne Verse werden zur Illustration oder als Kontrast für die Handlung eingewoben. In einigen Fällen werden fremdsprachige, vor allem französische Redebeiträge von Figuren nicht übersetzt.

Interpretationsansätze

  • Die Reisen mit meiner Tante ist ein negativer Bildungsroman. Henry Pulling erlebt seine Rückkehr in die Kindheit. Er entkommt der langweiligen Erwachsenenwelt, repräsentiert durch seine verstorbene Stiefmutter, indem er zum Sohn seiner vermeintlichen Tante wird. Augusta hat ihre eigenen Regeln aufgestellt, gesellschaftliche Konventionen missachtet sie. Fantasie schlägt Konvention, kindliche Anarchie besiegt erwachsene Ordnung.
  • Der Roman trägt Züge des Märchens. Der verlorene Sohn, der nach Jahren der Abwesenheit nach Hause zurückfindet, ist ein häufiges Märchenmotiv. Das Thema Märchen wird auch durch die Nennung zum Beispiel der bösen Fee aus Dornröschen oder den Vergleich von Augustas Haaren mit Rapunzels Haarpracht unterstrichen.
  • Das Thema Alter spielte eine wichtige Rolle. Alter erscheint als eine Frage der Lebensfülle. Nicht die Anzahl der gelebten Jahre bezeichnet das Alter des Menschen, sondern seine Menge an erzählbaren Eindrücken und Erfahrungen. Leben definiert sich durch Abwechslung, Gleichförmigkeit verhindert Leben. So gesehen ist Henry mit Mitte 50 noch ein Kind, als er Augusta kennenlernt.
  • Sprache erzeugt und bewahrt Leben. Augustas Erzählungen machen etwa ein Drittel des Gesamttextes aus. Sie lebt durch Kommunikation. Ihre Schwester Angelica, Henrys Stiefmutter, ist das Gegenteil. Ihre Welt ist das Schweigen. Eine Anekdote im Text verdeutlicht den lebensbewahrenden Aspekt der Sprache: Viscontis Komplize wird irrtümlich von der paraguayischen Polizei erschossen, weil er sich nicht in der Landessprache verständigen kann.
  • Katholizismus und ein ausschweifendes Leben sind im Roman kein Widerspruch: Tante Augustas Konfession wird im Roman sehr oft thematisiert, allerdings nie als Hindernis für ihren Lebensstil gesehen. Es ist im Gegenteil Henrys protestantische Prägung, die diesen bislang vom wahren Leben ferngehalten hat.
  • Der Roman ist auch eine Satire auf südamerikanische Despoten: Paraguays Führungsriege wird als durch und durch korrupte Sippe geschildert und lächerlich gemacht.
  • Graham Greene spielt im Roman mit seiner eigenen Biografie und macht seinen Protagonisten Henry zu seinem Alter Ego. Greenes zweiter Vorname war Henry. 

Historischer Hintergrund

1968: Protest und Drogen

Ende der 1960er-Jahre erfasste eine kulturpolitische Revolution die gesamte westliche Welt. „Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll“ bestimmten das Bild der großstädtischen Jugendkultur. Studenten- und Arbeiterbewegung solidarisierten sich in ihrem Protest gegen Vietnamkrieg und ungerechte Arbeitsbedingungen. Frankreich und England traf die 68er-Bewegung neben den USA am heftigsten. In London entlud sich am 17. März 1968 die aufgestaute Energie der Jugend in einer Straßenschlacht, die als „Grosvenor Square Riot“ in die Geschichte einging. Vom Trafalgar Square aus marschierten viele Tausend zumeist jugendliche Demonstranten in Richtung der amerikanischen Botschaft im wohlhabenden Londoner Stadtteil Mayfair, wo Schauspielerin Vanessa Redgrave einen Protestbrief gegen den Vietnamkrieg ablieferte. Dann eskalierte die Situation am Grosvenor Square: Fast 100 Menschen wurden beim gewaltsamen Einsatz der Polizei verletzt, einige schwer, 200 Demonstranten wurden festgenommen. Noch schlimmer traf es Paris im Mai 1968. Rund drei Wochen lang zogen sich Besetzungen von Hochschulen, Straßenschlachten, Barrikadenbau und Streiks im „Pariser Mai“ hin. Viele Hundert Verletzte und über 1000 Festnahmen waren die Folge. Die Rolling Stones setzten beiden Ereignissen ein Denkmal mit ihrem ebenfalls 1968 veröffentlichten Song Street Fighting Man.

Konservative Kreise in den USA und in Europa brachten die Gewaltexzesse immer wieder in Verbindung mit dem Konsum von Drogen; insbesondere Cannabis wurde für Aggression verantwortlich gemacht. Der britische Wootton-Report, veröffentlicht im Januar 1969, räumte mit dieser Einschätzung auf. Der Report empfahl unter anderem, die Strafen für Haschisch- und Marihuanakonsum deutlich zu mildern. Der britische Innenminister lehnte dies zunächst ab, doch ein Jahr später wurde das Gesetz im Sinne der Empfehlungen geändert.

Entstehung

Graham Greene wurde im Jahr 1966 Opfer eines Finanzbetrugs. Er verließ England und zog ins französische Antibes, um zusätzlichen Forderungen des britischen Fiskus zu entgehen und auch um seiner Lebensgefährtin Yvonne Cloetta näher zu sein. Seine lebenslange Reisetätigkeit behielt Greene aber auch von hier aus bei. Er bereiste im Vorfeld der Entstehung von Die Reisen mit meiner Tante unter anderem das westafrikanische Sierra Leone, die Heimat seiner Figur Wordsworth. Greene, der zeitlebens mit depressiven und manischen Phasen zu kämpfen hatte, begann Die Reisen mit meiner Tante offenbar in einer manischen Phase, nach eigener Aussage ohne Konzept und ohne Absicht, aus der Anfangsszene einen ganzen Roman zu machen. Obwohl er das Buch im Alter von 65 Jahren verfasste und die Themen Alter und Tod in den Vordergrund rückte, zieht sich ein heiterer, für Greene eher untypischer Ton durch die gesamte Erzählung. Er selbst bezeichnete den Roman als „das einzige Buch, das ich einfach aus Spaß geschrieben habe“. Greene verwendete Versatzstücke seiner eigenen Biografie und entwickelte einige Figuren aus Bekanntschaften, die er während seiner weitläufigen Reisen gemacht hatte.

Wirkungsgeschichte

Die Reisen meiner Tante gehört nicht zu Greenes bekanntesten Werken. Nach dem Erscheinen 1969 urteilte die New York Times über Greenes Roman, er sei als absichtliche Selbstparodie „extremely entertaining and often very funny“. Der Spiegel entdeckte „inmitten seiner locker angelegten Gaunerspäße manche Altersweisheit“, und der Guardian befand, Greene übertreibe seine römisch-katholischen Bezüge, sein Buch sei aber dennoch „a fun read“. Kritik und Literaturwissenschaft betonten den Charakter des Romans als amüsante Zusammenfassung von Greenes bisherigem Schaffen. Die Schauplätze waren Greenes Lesern aus vorherigen Romanen und Erzählungen bereits bekannt. 1972 verfilmte George Cukor den Roman mit Maggie Smith als Tante Augusta. Seine Adaption erhielt 1973 den Oskar für die besten Kostüme. Was die Qualität angeht, ist sich die Kritik allerdings weitgehend einig, dass die Verfilmung nicht an Greenes Buch herankommt. Die mitunter kammerspielartige Atmosphäre der Erzählung eignete sich dagegen bestens für eine Bühnenadaption. Der schottische Dramatiker Giles Havergal lieferte sie 1989 und erhielt zwei Theaterpreise. Bis heute führen viele kleinere und größere Theater in ganz Großbritannien und auch in den USA diese Bühnenfassung auf. 2007 inszenierte die BBC den Roman als Hörspiel fürs Radio, 2016 entstand eine Musicalversion. 

Über den Autor

Graham Greene wird am 2. Oktober 1904 in Berkhamsted (Hertfordshire) in England geboren. Als Kind ist Greene ein schüchterner Junge, der sich schnell einigelt und von Gleichaltrigen abwendet. Dass sein Vater Schuldirektor ist, macht ihm den Kontakt zu anderen Kindern nicht einfacher. So wird Greene zum Einzelgänger und Außenseiter, der sich immer öfter in die fantastische Welt der Literatur flüchtet. Die Schule wird für ihn zur Qual: Sein Hass darauf wird so stark, dass er sogar Selbstmordversuche unternimmt und seine Eltern mit 15 Jahren mit dem Entschluss konfrontiert, die Schule nicht mehr zu besuchen. Die Eltern schicken ihn zu einem Therapeuten nach London, der Greene dazu ermutigt, zu schreiben. Greene beginnt ein Geschichtsstudium am Balliol College in Oxford, das er nach eigenen Angaben „betrunken und schuldengeplagt“ 1925 beendet. Es folgen mehrere Anstellungen bei unterschiedlichen Redaktionen, unter anderem beim Nottingham Journal, wo er seine spätere Frau Vivien Dayrell-Browning kennenlernt. In diese Zeit fällt auch seine Konversion zur katholischen Kirche, die sein weiteres Werk entscheidend beeinflussen wird. Eine Anstellung bei der Times führt ihn nach London. Sein erster veröffentlichter Roman Zwiespalt der Seele (The Man Within, 1929) wird so erfolgreich, dass sich Greene fortan ganz auf die Schriftstellerei konzentriert. Um neues Material zu finden und seine Abenteuerlust zu befriedigen, begibt er sich auf größere Reisen: Seinen Aufenthalt in Schweden verarbeitet er in dem Buch Ein Sohn Englands (England Made Me, 1935); Der Weg nach Afrika (Journey Without Maps, 1936) resultiert aus seiner Reise durch Liberia; seine Arbeit für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 in Sierra Leone findet Niederschlag in Das Herz aller Dinge (The Heart of the Matter, 1948); und die Erlebnisse in Mexiko fließen in Die Kraft und die Herrlichkeit (The Power and the Glory, 1940) ein. Viele von Greenes Romanen werden verfilmt, Der dritte Mann (The Third Man, 1950) wird sogar direkt für die Verfilmung geschrieben. Greene stirbt am 3. April 1991 in Vevey in der Schweiz.

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