Die schöne Frau Seidenman
- Roman
- Gegenwartsliteratur
Worum es geht
Schicksale im besetzten Polen
In Szczypiorskis Buch geht es nicht in erster Linie um die schöne Frau Seidenman, wie der deutsche Titel suggeriert, sondern es geht um Polen. Und zwar vor allem um das Polen des 20. Jahrhunderts. Natürlich schildert Szczypiorski menschliche Einzelschicksale, und im Zentrum seines kunstvollen Figurengespinsts steht ebenjene Frau Seidenman. Ihre Verhaftung als angebliche Jüdin durch die Gestapo in Warschau löst allerlei Aktivitäten aus, mit denen ihre Freilassung erreicht werden soll: Ein Bote benachrichtigt ihren Nachbarn, dieser einen gemeinsamen Bekannten, der wiederum einen ehemaligen polnischen Partisanen, welcher seinerseits jemanden kennt, der die Freilassung erwirken könnte. Das ist Frau Seidenmans Geschichte. Szczypiorski erzählt aber zugleich noch andere, ähnlich bewegende polnische Lebensgeschichten. Das entstehende Gesamtbild zeigt: Mehr als in anderen europäischen Ländern macht in Polen das Volk die Nation aus und nicht ein territorial oder institutionell definierter Staat. Vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung und der Judenverfolgung wurden das Land und seine Menschen einer moralischen Zerreißprobe ausgesetzt. Das von Szczypiorski ebenso bewegend wie kunstvoll dargestellte Schicksal einiger Leute in Polen steht auch exemplarisch für das Schicksal des ganzen europäischen Kontinents.
Zusammenfassung
Über den Autor
Andrzej Szczypiorski wird am 3. Februar 1924 in Warschau geboren und wächst in einer vom Bildungsbürgertum geprägten Familie auf. Als der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt, ist er 15 Jahre alt. Fünf Jahre später nimmt er am Warschauer Aufstand teil. Er wird gefangen genommen und bis zum Kriegsende im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Szczypiorskis berufliche Laufbahn gestaltet sich vielfältig: Er ist Schriftsteller, Diplomat und Politiker, weil er sich immer auch als politischer Autor versteht. Nach dem Krieg beginnt er zunächst als Journalist zu arbeiten, ab 1955 veröffentlicht er Kriminalromane unter dem Pseudonym Maurice S. Andrews. Dies ist der Beginn seiner literarischen Tätigkeit. Von 1960 bis 1968 spricht Szczypiorski jeden Sonntagabend zehnminütige Feuilletons im Warschauer Rundfunk, was ihn als Journalist bekannt macht. Während der politischen Tauwetterperiode Ende der 60er Jahre wird er als Diplomat nach Dänemark entsandt. Szczypiorski ist kein überzeugter Kommunist, hat aber in der zweiten Gomulka-Ära ein auskömmliches Verhältnis mit dem Regime. Für den 1971 noch in einem polnischen Staatsverlag erschienene Roman Eine Messe für die Stadt Arras erhält Szczypiorski 1972 den Preis des polnischen P.E.N.-Clubs. Ab Mitte der 70er Jahre unterstützt Szczypiorski die Opposition mit Artikeln und Büchern; in der Folge wird er vom offizi-ellen Literaturbetrieb ferngehalten und bei Verhängung des Kriegsrechts unter General Jaruzelski 1981 sogar für mehrere Monate interniert. Sein berühmtestes Werk Die schöne Frau Seidenman muss 1986 in einem Pariser Exilverlag erscheinen. Nach der Wende 1989 bekleidet Szczypiorski das Amt eines Senators in der Zweiten Kammer des Parlaments. Er spricht sehr gut Deutsch und wird mit vielen literarischen Preisen ausgezeichnet (u. a. dem Österreichischen Staatspreis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Andreas-Gryphius-Preis). Für seine Verdienste um die deutsch-polnische Aussöhnung erhält er das Bundesverdienstkreuz und den Orden „Pour le Mérite“, eine der höchsten Ehrenauszeichnungen der Bundesrepublik. Andrzej Szczypiorski stirbt am 16. Mai 2000 in seiner Heimatstadt Warschau.
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