Helmuth Plessner
Die Stufen des Organischen und der Mensch
Einleitung in die philosophische Anthropologie
Suhrkamp, 2016
Was ist drin?
Über Pflanzen, Tiere und die besondere, „exzentrische“ Stellung des Menschen – Plessners großer anthropologischer Wurf.
- Anthropologie
- Moderne
Worum es geht
Ein Geheimtipp der Lebensphilosophie
Die Stufen des Organischen und der Mensch ist nicht nur einer der Gründungstexte der modernen philosophischen Anthropologie, sondern auch der radikale Versuch, die Art und Weise, wie der Westen seit der Antike das Leben denkt, zu erneuern. In diesem umfassenden und schwer zugänglichen Buch unterzieht Helmuth Plessner die philosophische Tradition einer scharfen Kritik und entwirft ein völlig neues Vokabular, um das organische Leben, von der Pflanze bis zum Menschen, zu denken. Dies mag wohl auch dazu beigetragen haben, dass das Werk seit seiner Veröffentlichung 1928 ein Schattendasein geführt hat. Obwohl Plessner bisweilen sogar der Rang eines Aristoteles oder Hegel zugestanden wird, ist er gegenüber seinen Zeitgenossen Heidegger, Scheler und Co. nach wie vor ein Geheimtipp. Zu Unrecht, denn in vielerlei Hinsicht scheint Plessners Hauptwerk viel besser gealtert zu sein als etwa Sein und Zeit. Seine methodische Ausrichtung auf Körperlichkeit und Verhalten und seine Weigerung, menschliche Eigenschaften wie Sprache oder Bewusstsein zum Maß der Dinge zu machen, sind heute aktueller denn je.
Take-aways
- Die Stufen des Organischen und der Mensch ist ein Klassiker der modernen philosophischen Anthropologie.
- Inhalt: Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften haben gezeigt, dass der Mensch eine zutiefst biologische Grundlage besitzt. Um den Menschen weiterhin gleichzeitig als freien und schaffenden Geist und als biologisch bestimmtes Naturwesen denken zu können, bedarf es einer philosophischen Anthropologie, die alle Formen des organischen Lebens zu definieren und erklären vermag.
- Das Buch gilt als Helmuth Plessners Hauptwerk.
- Es wurde 1928 veröffentlicht, aber seither kaum rezipiert.
- Max Scheler warf Plessner unbegründet vor, seine noch nicht erschienene Arbeit plagiiert zu haben.
- Plessners philosophische Anthropologie gilt als Gegenentwurf zu Heideggers Existenzialphilosophie.
- Das Buch nimmt die spätere Kritik am Anthropozentrismus vorweg.
- Plessners Analyse von Körperlichkeit und umweltbezogenem Verhalten zeigt Ähnlichkeiten zu Systemtheorie und Konstruktivismus.
- Plessners Karriere und Rezeption wurden durch seine Vertreibung aus Deutschland 1933 empfindlich und langfristig gestört.
- Zitat: „Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist (…) braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich.“
Zusammenfassung
Problem und Ziel
Der Erkenntnisfortschritt der Biologie hat den Menschen als Geist- und Kulturwesen wieder an die tierische Natur zurückgebunden. Deshalb muss das Verhältnis zwischen Natur und Geist neu bestimmt werden, und zwar als zusammengehörige, in einem Grundaspekt vereinte Aspekte desselben Phänomens, des Lebens. Gelingt diese Erklärung nicht, stehen wir vor einem völlig zerrissenen, widersprüchlichen Leben: auf der einen Seite der freie, kreativ-schöpferische und moralische Geistmensch, auf der anderen Seite der physiologische, kausal-determinierte Naturmensch. Leider liefert die neuzeitliche Philosophie für diese Aufgabe denkbar schlechte Voraussetzungen: Seit Descartes und Kant und bis in die Gegenwart zerfällt sie in eine entweder idealistisch-spiritistische oder eine materialistisch-empiristische Haltung. Die eine fasst den Menschen bloß als bewusstes Geist-, die andere bloß als körperliches Naturwesen auf. Wenn also eine neue Lebensphilosophie gelingen soll, muss nicht nur der Körper-Geist-Dualismus überwunden werden, sondern auch die philosophische Begrifflichkeit, mit der wir seit der Antike das Sein gedacht haben.
Die philosophische Anthropologie
Die Versöhnung von Natur- und Geisteswissenschaft kann nicht durch einen einfachen Übergang zwischen diesen beiden Wissenschaften gelöst werden. Dazu braucht es eine Naturphilosophie, die die menschliche Existenz jenseits der Beschränkungen der exakten Naturwissenschaften in ihrem vollen Umfang zu erfassen vermag. Um das alltägliche und volle Leben geisteswissenschaftlich erfassen zu können, muss man über die abstrakt-objektivierte Erkenntnis der Einzelwissenschaften hinausgehen – zu einer philosophischen Anthropologie, die imstande ist, das lebendige, in der Welt tätige und natürliche Dasein des Menschen als ein einheitliches Phänomen zu erfassen. Dieses besteht beim Menschen darin, zugleich Subjekt und Objekt, frei und bestimmt, natürlich und künstlich zu sein. Dieser Doppelaspekt bestimmt die Existenz des Menschen grundlegend und kann nicht überwunden werden. Die Aufgabe besteht darin, ihn aus einem einzigen Grundaspekt heraus zu begreifen und auf diese Art dem Körper-Geist-Dualismus zu entgehen.
„Unter welchen Bedingungen lässt sich der Mensch als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit, als sittliche Person von Verantwortungsbewusstsein in eben derselben Richtung betrachten, die durch seine physische Stammesgeschichte und seine Stellung im Naturganzen bestimmt ist?“ (S. 40)
Die philosophische Anthropologie muss durch eine philosophische Biologie ergänzt werden. Denn als Lebendiges muss der Mensch im Kontext der organischen Natur und der Kategorien des Lebens verortet werden. Außerdem muss die philosophische Anthropologie die von Descartes ererbte Alternative zwischen Körper und Bewusstsein und die darin enthaltene Höherbewertung des Geistes überwinden, indem sie sich zunächst dem Objekt zuwendet. Der Geist und das Lebendige sollen vom Körper her gedacht werden.
Die Doppelaspektivität
Wie erscheint uns ein Wahrnehmungsding? Zunächst als ein sinnvolles Ganzes, das eine Vielzahl von sinnlichen Eigenschaften aufweist, die alle auf eine „kernhafte Mitte“ bezogen scheinen, aus der sie Einheit und Sinn beziehen. Jede Seite, jeder Aspekt, der uns an dem Wahrnehmungsding erscheint, bedeutet uns das Gesamtding, ist Teil seiner Dingeinheit – diese Einheit, das Ding als Ganzes dagegen, können wir nie sinnlich wahrnehmen. Unserer sinnlichen Erfahrung sind immer nur Aspekte, Teile, Ansichten des Dings zugänglich. Der Kern des Dings geht über das Wahrnehmbare des Dings hinaus, er ist aber auch kein Hirngespinst, sondern wird durch die unterschiedlichen Eigenschaften desselben gleichsam angezeigt oder bedeutet. Das Wahrnehmungsding überschreitet sich folglich in zwei Richtungen: nach innen, in Richtung seines Kerns, und nach außen, in Bezug auf seine möglichen anderen Aspekte. Dass es eine über die sinnlichen Eigenschaften hinausgehende Idee des Dingganzen geben muss, zeigt sich darin, dass wir auch bei starken Veränderungen eines Objekts dieses noch immer identifizieren können, zum Beispiel wenn eine Zigarre abgebrannt und zu Asche geworden ist. Es gibt also etwas an den Wahrnehmungsdingen, das ihre räumlich-reelle Existenz übersteigt.
„Körperliche Dinge der Anschauung, an denen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen lebendig.“ (S. 138)
Wie erkennt man den Doppelaspekt Innen-Außen an einem Wahrnehmungsding? An seiner Grenze. Jedes Wahrnehmungsding weist eine Begrenzung, einen Rand auf, der Innen und Außen räumlich trennt. Im Raum besteht zwischen Innen und Außen die Möglichkeit eines Übergangs: Ein Handschuh kann umgestülpt, ein Krug befüllt und entleert werden. Auf einer anderen Ebene gibt es jedoch eine absolute Differenz zwischen dem räumlichen und sichtbaren Außen und dem unsichtbaren Kern oder der Mitte eines Dings. Diese ist nämlich niemals sinnlich oder räumlich erfahrbar, sie ist keinerlei Substanz, sondern wird nur durch die sinnlichen Eigenschaften nahegelegt. Diese Dimension ist nur der ontologischen Analyse zugänglich. Wahrnehmungsdinge werden immer nur in ihrer Aspektivität sinnlich wahrgenommen, das heißt, dass alle Sinnesdaten auf einen Kern oder Sinn, der selbst nicht anschaulich ist, bezogen werden.
„Als Körperding steht das Lebewesen im Doppelaspekt ineinander nicht überführbarer Richtungsgegensätze nach Innen (…) und nach Außen (…)“ (S. 183)
Wie erkennt man nun lebendige Wahrnehmungsdinge? Daran, dass sich ihre Doppelaspektivität an ihnen selbst, als wahrnehmbare Eigenschaft, verkörpert. Demnach muss sich der Doppelaspekt, der doppelte Richtungsverweis in ein Innen und Außen, an der Oberfläche, der Kontur oder der Grenze des Dings wahrnehmen lassen. Die Grenze selbst muss Teil des Dings sein, sowohl als räumlich-reale wie als Aspektgrenze. Das bedeutet, dass die Definition des Lebendigen darin besteht, dass es sich zu seiner körperlichen Grenze in einer bestimmten Weise verhält. Um diese These zu beweisen, bedarf es einer Axiomatik der Kategorien des Organischen, also jener Wesensmerkmale des Lebendigen, die als notwendige Bedingungen für eine solche Grenzerfahrung gegeben sein müssen.
Die Positionalität
Sofern sich die Doppelaspektivität an der Grenze eines Wahrnehmungsdings (zum Beispiel seiner Haut oder Membran) sinnlich zeigt, kann man davon sprechen, dass es eine Positionalität besitzt. Durch seine Grenze wird es nämlich sowohl über sich selbst hinaus, in aktiven Bezug zu einer Umwelt gesetzt als auch sich selbst entgegen, also in Rückbezug zu einem lebendigen Kern. Durch seine Positionalität wird das Ding zu einem Wesen, das seine sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften „hat“, das einen Ort in einer Umgebung hat und Raum behauptet – anders als etwa ein Stein, der seine Eigenschaften „ist“, nie über sich selbst hinausgeht, bloß eine Stelle einnimmt und Raum ausfüllt. Lebendige Wesen haben zu ihrer physischen Präsenz im Raum ein lockeres Verhältnis, sie fallen nicht unmittelbar mit ihr zusammen (wie der Stein). Dies beweist sich schon in den rein indikatorischen (wahrnehmbaren) Wesensmerkmalen des Organischen: Plastizität der Hülle (es bewegt sich, wächst usw.), unregelmäßige Regelmäßigkeit (es verändert sein Aktivitätsniveau, schläft, wacht usw.) oder überraschende Bewegungen. Ein Wesen in der Positionalität steht sowohl zu sich selbst als auch zu seiner Umgebung in einem aktiven, sich verändernden Verhältnis. Die Positionalität unterscheidet belebte von unbelebter Natur.
Die Sphären des Lebendigen: Pflanze und Tier
Sobald das Leben die Entwicklungsstufe der Mehrzeller erreicht hat, muss es sich organisieren. Dabei stehen zwei Organisationformen zur Wahl: die offene Form der Pflanzen und die geschlossene Form der Tiere. Diese beiden Ideen sind die einzige Möglichkeit, um Pflanze und Tier definitiv voneinander zu unterscheiden. Offen kann dabei jene Organisationsform genannt werden, die den Organismus unmittelbar in dessen Umwelt integriert. Sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an organischer Undifferenziertheit und einen Mangel an Zentralorganen aus. Pflanzen weisen weder Kern- noch Mantelschicht auf und sind sehr stark an ihre Umwelt assimiliert. Außerdem kennzeichnet sie eine starke Ortsgebundenheit und Bewegungsarmut.
„Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“ (S. 284)
Im Gegensatz dazu zeichnet sich die geschlossene Form des Tieres durch ihre hohe Dissimilation gegenüber seiner Umwelt aus. Der tierische Organismus ist seiner Umwelt gegenüber selbstständig. Anders als die Pflanze weist das Tier eine nicht-räumliche Mitte, einen raumhaften Kern auf, der die Einheit des tierischen Organismus ausmacht und über die einzelnen Organe des Körpers hinausgeht. Somit wird der Körper zu jener Schicht der geschlossenen Form, die den Kern mit dem Milieu vermittelt. Dieses Vermittlungsverhältnis ermöglicht die relative Selbstständigkeit des Tiers gegenüber seiner Umwelt, die sich in seinem doppelten Bezug zu ihr wahrnehmen lässt: Das Tier kann die Welt einerseits sensorisch und passiv wahrnehmen und andererseits motorisch und aktiv gestalten und verändern. Am spontanen Verhalten des Tieres zu seiner Umwelt, seinen vielfältigen Arten, auf Reize zu reagieren, erkennt man, dass Tiere Bewusstsein haben. Allerdings bleiben sie stets an das Hier und Jetzt gebunden und gehen unmittelbar in ihrer leiblichen Gegenwart auf. Selbstbewusstsein bleibt ihnen verwehrt.
Die Sphäre des Menschen
Die Distanz zur eigenen Mitte, die Selbstbewusstsein ermöglicht, kommt nur dem Menschen zu. Diese im Vergleich zu Pflanze und Tier höhere Stufe des Organischen lässt sich nicht aus biologischen Differenzen zum Tier erklären, denn physiologisch betrachtet ist der Mensch nicht wesentlich anders aufgebaut als das Tier. Doch im Unterschied zum Tier weiß der Mensch um sein Zentrum. Er weiß, dass er einerseits ein in seiner Umwelt verwurzelter Körper, andererseits eine davon unabhängige Seele – und die Einheit aus beidem ist. Er ist also nicht unmittelbar in der Gegenwart seines Erlebens befangen, sondern tritt einen Schritt zurück, um auch dieses Erleben noch zu erleben. Da der Mensch um seine Zentrierung in einer Mitte weiß, nimmt er eine exzentrische Positionalität ein: Er gewinnt sowohl zu seiner Umwelt also auch zu sich selbst Distanz. Durch sein reflexives Verhältnis zu seiner Gesamtheit steht der Mensch gleichsam außerhalb seiner selbst. Ein Lebewesen, das derart exzentrisch positioniert ist, heißt Subjekt oder Person und stellt die höchste Stufe des Organischen dar, die nicht mehr überschritten werden kann.
„Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“ (S. 291)
Die Welt, in der ein exzentrisch positioniertes Individuum steht, hat drei Zonen: Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt. Die Außenwelt besteht aus der physischen Natur, also der Umwelt eines Subjekts und seines individuellen Körpers. Das Subjekt erfährt seine exzentrische Positionalität in der Differenz zwischen Körper und Leib: Während der Körper in der Umwelt beliebig verschiebbar ist, bleibt der Leib des Subjekts ein absolut stabiles Zentrum. Auch in der Innenwelt kehrt der konstitutive Doppelaspekt der exzentrischen Positionalität wieder: Die innere Erfahrung zerfällt in Subjekt und Erleben, in vorgegebene Charakteranlagen und die reflexive Auseinandersetzung mit ihnen, in eine Spaltung zwischen einem erleidenden Subjekt, dem Erlebnisse widerfahren, und einem aktiven Subjekt, das diese Erfahrungen verarbeitet und sein eigenes Verhalten zu gestalten versucht. Schließlich bildet die Mitwelt, die weder in der Natur noch im Innenleben aufgeht, die dritte Zone. Sie besteht in der intersubjektiven Verbundenheit des Subjekts mit anderen Personen, die sich gegenseitig aufgrund ihrer exzentrischen Positionalität als Menschen erkennen. Die Mitwelt, die Sphäre des Geistes, ist keine eigenständige Realität, sondern eine nicht-räumliche Weltsphäre, die durch die exzentrische Positionalität des Menschen eröffnet wird.
„Insoweit das Tier selbst ist, geht es im Hier-Jetzt auf. Dies wird ihm nicht gegenständlich, hebt sich nicht von ihm ab (…). Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte.“ (S. 360)
Da der Mensch um seine Mitte weiß, weiß er auch, dass diese niemals als ein konkretes Etwas bestimmbar ist. Das Zentrum des Menschen ist leer, ein Nichts. Deshalb besteht der exzentrische Existenztyp wesentlich darin, sich ein Leben zu schaffen – sich zu einem Etwas zu machen. Das erste anthropologische Grundgesetz stellt deshalb die natürliche Künstlichkeit des Menschen fest: Durch nicht-natürliche, künstliche Ergänzungen wie Werkzeuge, Kleidung und Kultur im Allgemeinen erarbeitet sich der Mensch erst eine spezifische Existenzform. Das zweite anthropologische Grundgesetz besteht in der „vermittelten Unmittelbarkeit“ der exzentrischen Positionalität. Da der Mensch außerhalb seiner Mitte positioniert ist, fehlt ihm ein unmittelbarer Bezug zur Welt, wie ihn das Tier besitzt. Alle Wahrnehmungen der Außen- und Innenwelt sind dem Menschen nur als vermittelte Bezugnahmen gegeben, was sich etwa daran zeigt, dass er zu all diesen Inhalten in eine reflexive Distanz treten kann. Dass der Mensch keinen direkten Kontakt zur Wirklichkeit hat, sondern stets nur relative, seinem Bewusstsein immanente Inhalte erfährt, stellt eine große Quelle von Leid dar.
„Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich.“ (S. 384 f.)
Das dritte und letzte anthropologische Grundgesetz betrifft den utopischen Standort des Menschen. Egal welche Form sich der Mensch gibt, als Individuum oder Gesellschaft: Stets könnte er auch eine andere gewählt haben oder wählen. Die einzige Rettung aus dieser grundlegenden Kontingenz und Offenheit bietet die Religiosität, die in all ihren Varianten stets dasselbe tut: eine letztgültige, absolute Wirklichkeit festzulegen. Doch es gehört auch zur wesensmäßigen Distanz des Menschen von sich selbst, dass er diesen Glauben immer wieder in Zweifel zieht und als letztlich haltlose Annahme erkennt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Stufen des Organischen und der Mensch gilt als schwer zugängliches Werk – einerseits aufgrund seines inhaltlichen Umfangs und seines Anspruchs, naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit philosophischen Methoden zu kombinieren, andererseits wegen seiner eigenwilligen Begriffe und teils kryptischen Sprache. Da Plessner das traditionelle Begriffsrepertoire der Philosophie für ungenügend hält, um die volle lebensweltliche Existenz des Menschen zu denken, sieht er sich gezwungen, neue Konzepte und Sprechweisen zu entwickeln. Dies löst einiges an Befremden aus – aber eben auch den Großteil der historischen Innovationskraft des Werks. Anstelle von Bewusstsein, Intentionalität, Geist usw. spricht Plessner von Positionalität, Exzentrizität oder Gestelltheit – eine gewöhnungsbedürftige und individuelle Sprechweise, die Plessner mit seinem großen Gegenspieler, Martin Heidegger, verbindet. Doch während Heidegger aus seiner Neigung zur Dichtung nie einen Hehl machte, ist Plessners Buch voll und ganz dem Anspruch exakter Wissenschaftlichkeit verpflichtet, der Plessner als Zoologe bestens vertraut war. Die ersten Kapitel kreisen den allgemeinen Problemhorizont des Buches Stück für Stück ein und präsentieren die zentralen Fragestellungen, Begriffe und Methoden im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit etablierten Philosophietraditionen wie Kantianismus, Vitalismus oder Phänomenologie. Auf diese Grundlagenarbeit folgt Plessners eigentliche Analyse, die sich, von einer phänomenologischen Analyse des Wahrnehmungsobjekts ausgehend, Schritt für Schritt die Stufen des Lebendigen in Pflanzen und Tieren emporarbeitet, bevor das letzte Kapitel schließlich den Menschen zum Thema macht.
Interpretationsansätze
- Der Begriff der Stufen legt eine Vorstellung des biologischen Lebens als hierarchisch geordnet und evolutionär zielgerichtet nahe, die Plessner allerdings nicht teilt. Die Stufen bezeichnen für ihn die unterschiedlichen Organisationsgrade derselben, allen Stufenformen gemeinsamen Substanz des Lebendigen.
- Der systematische Anspruch Plessners besteht in einer Revolution der philosophischen Tradition. Indem er eine völlig neue Wissenschaft, die philosophische Anthropologie, gründet, erklärt er das gesamte philosophische Denken des Seins seit der Antike für überholt.
- Ein wesentlicher Ansatzpunkt Plessners ist der kartesianische Körper-Geist-Dualismus, der ihm zufolge die gesamte neuzeitliche Philosophie beschäftigt. Dabei geht es Plessner jedoch nicht um eine Abschaffung dieses Dualismus, sondern um eine Versöhnung der auf René Descartes’ Philosophie zurückgehenden Gegensätze von Körper und Bewusstsein im beiden zugrunde liegenden Begriff des Lebens.
- Plessners Lebensphilosophie kann als Vorläuferin der in den modernen Geisteswissenschaften gängigen Kritik am Anthropozentrismus gelten. Ein wesentlicher Anspruch seiner Naturphilosophie besteht darin, das Lebendige nicht von menschlichen Eigenschaften wie Bewusstsein oder Sprache aus zu denken.
- Nicht weniger innovativ ist Plessners philosophische Biologie, die Methoden von Konstruktivismus und Systemtheorie vorwegnimmt. Er erklärt lebende Organismen nicht aus ihrer Innenperspektive (Geist, Bewusstsein, Triebe) heraus, sondern durch ihre Körperlichkeit, ihr Verhalten und ihre leibliche Verschränktheit mit ihrer Umwelt.
Historischer Hintergrund
Die Weimarer Republik
In Deutschland hatte die erste republikanische Staatsform eine denkbar schlechte Ausgangslage: 1918, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, lag nicht nur die wirtschaftliche und staatliche Ordnung in Trümmern, auch die Zivilbevölkerung litt erheblich unter den Folgen des Krieges. Die Monarchie war im Zuge der Novemberrevolution aufgelöst worden, und die am 9. November 1918 gegründete Weimarer Republik hatte Mühe, sich angesichts der hohen Inflation und Arbeitslosigkeit bei der Bevölkerung zu legitimieren. Das kulturelle und politische Leben in den 1920er-Jahren war von modernistischen Tendenzen wie dem Kampf für mehr Frauenrechte (das Wahlrecht war 1918 eingeführt worden), der Kunst des Bauhaus oder amerikanischen Kulturimporten wie Kino oder Jazz ebenso geprägt wie von starken national-konservativen Gegenbewegungen. Die starke Inflation und die hohe Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise 1929 machte sich vor allem unter jungen Menschen und Studenten bemerkbar – jenen Bevölkerungsgruppen, die den Aufstieg faschistischer Ideologien und insbesondere der NSDAP vorantrieben. Mit der Machtübernahme durch Adolf Hitler 1933 war die Weimarer Republik bereits wieder Geschichte.
Entstehungsgeschichte
Laut Plessner ging die Inspiration zu Die Stufen des Organischen und der Mensch bis auf die Zeit seines Zoologiestudiums in Heidelberg zurück. Bereits damals stellte sich ihm die Frage nach einer philosophischen Anthropologie und Biologie, die die Spannungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden und aufzuheben in der Lage wäre. Eine erste Antwort fand diese allgemeine Frage in Plessners 1923 veröffentlichtem Buch Einheit der Sinne. Während der Arbeit an diesem Buch kam ihm die konkrete Idee zu den Stufen – sie sollten ursprünglich als kleine Broschüre die Einheit der Sinne erweitern. Doch bald wurde Plessner klar, dass dieses Projekt sehr viel mehr Raum in Anspruch nehmen würde. In den Weihnachtsfeiertagen 1924 begann er mit der Arbeit an dem Werk, zu Ostern 1927 hatte er das Manuskript abgeschlossen.
Anfang Juli stellte er es Max Scheler in einigen Auszügen vor. Dieser stand ebenfalls kurz vor dem Abschluss einer grundlegenden Arbeit zur philosophischen Anthropologie und reagierte dermaßen verärgert auf Plessners Text, dass er ihm sogar vorwarf, seine eigenen, noch unveröffentlichten Gedanken plagiiert zu haben. Erst als der Philosoph Nicolai Hartmann vermittelnd eingriff, konnte die Situation beruhigt werden: Die beiden Anthropologen sprachen sich aus und Scheler äußerte sich wohlwollend über Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität. Dennoch sollten Gerüchte, Plessner habe möglicherweise plagiiert, noch lange die Runde machen. Außerdem sicherte sich Scheler die Vormachtstellung in der Anthropologie, indem er Plessner das Versprechen abrang, im Untertitel seines Werks den Begriff „Grundlegung“ zu streichen und lediglich eine „Einleitung“ in die philosophische Anthropologie anzukündigen. Zu Weihnachten 1927 schickte Plessner ein Exemplar seines Werks an Martin Heidegger – eine Reaktion des Shootingstars der deutschen Philosophie blieb allerdings aus. Diese schlechten Omen im Vorfeld der Veröffentlichung sollten sich leider im weiteren Schicksal des Buches bestätigen.
Wirkungsgeschichte
Die Stufen des Organischen und der Mensch erschien 1928 im Verlag de Gruyter. In einem 1954 verfassten, zweiten Vorwort betonte Plessner, dass er die Gedanken des Werks auch fast 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung für gültig und grundlegend erachte, resümierte gleichzeitig aber auch frustriert, dass sie seit ihrer Veröffentlichung zu keinem Zeitpunkt eine „ernsthafte Kritik“ erfahren hätten. Einen Grund dafür sah Plessner im Werk selbst, das sowohl philosophische wie biologische Fachkenntnisse voraussetze und daher weder bei Geistes- noch Naturwissenschaftlern das passende Publikum finde. Einen anderen Grund verortete er darin, dass das Werk zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt in die geisteswissenschaftliche Debatte eingetreten war.
1927 hatte Heidegger mit Sein und Zeit seine epochemachende Fundamentalontologie vorgestellt und 1928 Max Scheler seine lang erwartete Grundlegung der Anthropologie namens Die Stellung des Menschen im Kosmos veröffentlicht. Plessners Werk wurde im Schatten dieser beiden Werke nicht beachtet. Soweit um 1930 die Anthropologie nicht als ohnehin durch die Existenzphilosophie Heideggers und Karl Jaspers’ überholt erachtet wurde, galt Plessner als bloßer Schüler oder gar Plagiator Schelers. Ernst Cassirer reagierte sehr positiv auf Plessners Buch, scheute sich aber angesichts der kursierenden Plagiatsgerüchte, sein Urteil zu veröffentlichen. Als einzige öffentliche Anerkennung blieb Plessner der Avenariuspreis der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, den er 1931 für Die Stufen des Organischen und der Mensch erhielt. Mit seiner erzwungenen Emigration 1934 erlitt seine Karriere einen weiteren Bruch, von dem sich die Rezeption seines Hauptwerks nie erholt hat. Obwohl es heute als Grundlagenwerk der philosophischen Anthropologie gilt, konzentriert sich die Forschung nach wie vor mehr auf Plessners Zeitgenossen wie Heidegger, Arnold Gehlen oder Scheler. Studien zu Plessner sind bis in die Gegenwart rar, sodass ihm der paradoxe Rang zukommt, in eine Linie mit Aristoteles oder Hegel gestellt zu werden – und dennoch ein Außenseiter der Philosophie und Anthropologie zu sein.
Über den Autor
Helmuth Plessner wird am 4. September 1892 als einziges Kind des deutsch-jüdischen Arztes Fedor Plessner und seiner Frau Elisabeth in Wiesbaden geboren. Er studiert Philosophie und Zoologie, unter anderem bei Edmund Husserl und Max Weber. Anfang 1924 macht er sich unter den deutschen Intellektuellen einen Namen durch die Gründung der Zeitschrift Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaften. Ab 1920 arbeitet Plessner als Privatdozent an der Universität Köln, wo er im April 1926 zum außerordentlichen Professor aufsteigt und 1928 schließlich einen vollen Lehrauftrag erhält. Im selben Jahr veröffentlicht er sein Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch. Mit seiner philosophischen Anthropologie wird Plessner zum Gegenspieler der Existenzialphilosophie Martin Heideggers. Doch die Machtübernahme der NSDAP erschüttert 1933 nicht nur Plessners akademische Karriere, sondern auch sein Leben: Im April findet man seinen inzwischen zum Christentum übergetretenen Vater bewusstlos in seiner Praxis; vermutlich hat er angesichts der anti-jüdischen Gesetzgebung und der drohenden Auswirkungen auf seinen Sohn Selbstmord begehen wollen, wenig später stirbt er. Plessner selbst wird beurlaubt und im September entlassen. Anfang 1934 emigriert er in die Niederlande und arbeitet an der Universität Groningen. 1943 wird er erneut entlassen und muss bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs untertauchen. Nach Kriegsende lädt ihn die Universität Köln zur Rückkehr ein – Plessner lehnt jedoch ab und bleibt in Groningen, bis er 1950 Ordinarius für Soziologie an der Universität Göttingen wird und nach Deutschland zurückkehrt. Mit der Wiederveröffentlichung von Die verspätete Nation 1959 erlangt er zwar einige Prominenz, seine Karriere hat jedoch durch die erzwungenen Brüche schweren Schaden genommen. 1962 wird Helmuth Plessner emeritiert, veröffentlich allerdings bis weit in die 70er-Jahre hinein weiter kürzere Schriften. Er stirbt am 12. Juni 1985 in Göttingen.
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vielen Dank für Ihren Hinweis – Sie haben natürlich recht. Wir haben die beiden Stellen in der Zusammenfassung nun korrigiert.
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