Friedrich August von Hayek
Die Verfassung der Freiheit
Mohr Siebeck, 2005
Was ist drin?
Hayeks großer Wurf: individuelle Freiheit, nicht Demokratie, als Garant für Wohlstand und Fortschritt.
- Politik
- Moderne
Worum es geht
Wie können Gesellschaft und Wirtschaft zum größtmöglichen Wohl aller organisiert werden? Das war die Frage, die Hayek 1960 mit seiner Verfassung der Freiheit zu klären suchte. Das abschreckende Beispiel des Sowjetkommunismus ließ die westlichen Intellektuellen zwar weitgehend vom Marxismus abrücken. Stattdessen schrieben sie sich aber jetzt das Erreichen „sozialer Gerechtigkeit“ durch eine staatlich gelenkte Umverteilung der Einkommen auf ihre Fahnen. Der Wohlfahrtsstaat wurde in vielen Ländern ausgeweitet. Diesem Trend trat Hayek entschieden entgegen: Nur unter den Rahmenbedingungen einer freien Gesellschaft entstünden permanenter Fortschritt und eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Zivilisation zum Wohle aller. Hayeks Thesen stießen auch im marktwirtschaftlich orientierten Westen zuerst auf wenig Gegenliebe. So wurde selbst von Liberalen argumentiert, dass die Theorie der Freiheit letztlich nur in einer Welt gelte, in der die Ausgangsbedingungen für alle Menschen gleich seien. In der Realität aber gebe es historisch gewachsene Ungleichheiten und ökonomische Machtverhältnisse, die durch eine aktive ausgleichende Politik überwunden werden müssten. Indem Hayek vorgefundene Regeln als sinnvolles Ergebnis einer natürlichen Evolution denke, übersehe er, dass auch diese ein Resultat sozialen Handelns und damit von Machtprozessen seien. Ironischerweise musste sich Hayek den Nobelpreis für Wirtschaft mit dem Schweden Gunnar Myrdal teilen, einem überzeugten Keynesianer. Die von Hayek aufgeworfene Frage, wie viel Freiheit zum Wohle aller angebracht ist, ist bis heute ein Streitpunkt in den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften.
Take-aways
- Die Verfassung der Freiheit ist die bekannteste und fundierteste Abhandlung gegen den Wohlfahrtsstaat.
- Individuelle Freiheit sieht Hayek als Motor und Garant für den Wohlstand und die Blüte der westlichen Zivilisation.
- Freiheit ist der Zustand der Abwesenheit von Zwang durch andere Menschen, die uns für ihre eigenen Zwecke einspannen wollen.
- Nur größtmögliche Freiheit für alle Menschen ruft die kreativen Kräfte hervor, die für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Zivilisation unerlässlich sind.
- Eine zentrale Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung wie etwa im Sozialismus ist immer weniger erfolgreich als die spontane Ordnung, die sich aus der Selbstorganisation des freien Marktes entwickelt.
- Ein zentraler Planer kann nie über das Wissen verfügen, das im freien Markt „gespeichert“ ist.
- Überlieferte Institutionen und Werthaltungen müssen als Resultate von historisch gewachsenen Selbstorganisationsprozessen respektiert werden.
- Individuelle Freiheit ist im Rechtsstaat gegeben. Dieser erfordert eine Gesellschaft, die sich den Gesetzen unterordnet.
- Die Demokratie ist zwar die ideale Gesellschaftsform, um möglichst viel Freiheit zu gewährleisten, aber sie sichert nicht automatisch auch die individuelle Freiheit.
- Ermessensspielräume für Behörden führen zu Willkür, Ungleichheit und Unfreiheit. Die Politik muss deshalb an Regeln gebunden werden.
- Der Wohlfahrtsstaat ist lediglich ein anderer Weg, sozialistische Umverteilungsziele umzusetzen.
- Mit seinen Thesen zur Bedeutung der Freiheit lieferte Hayek die philosophische Grundlage für den Neoliberalismus.
Zusammenfassung
Der Wert der Freiheit
Die individuelle Freiheit ist von entscheidender Bedeutung für unsere westliche Zivilisation und bildet die Grundlage von deren Errungenschaften. Ohne eine weitgehende Verwirklichung des Freiheitsideals wären der Fortschritt und Wohlstand, den wir im Westen erreicht haben, nicht möglich gewesen. Diese Tatsache wird oft durch den Umstand verschleiert, dass auch die Gegner der Freiheit weltweit von den Errungenschaften und dem materiellen Wohlstand unserer Zivilisation profitiert haben. Auch diejenigen, die unsere freiheitlichen Ideale ablehnen, verlangen nach deren Vorteilen und dem Wohlstand, den sie uns ermöglicht haben.
„Das Wesentliche ist nicht, was für Freiheit ich persönlich ausüben möchte, sondern was für Freiheit irgendjemand braucht, um für die Gesellschaft nützliche Dinge zu tun. Diese Freiheit können wir für die unbekannte Person nur dadurch sichern, dass wir sie allen geben.“ (S. 42)
Nur in einer freien Gesellschaft können sich Fähigkeiten und Wissen der einzelnen Menschen so entfalten, dass größtmöglicher Fortschritt realisierbar wird. Das liegt daran, dass jede Regierung und jede Behörde nur einen Bruchteil des Wissens haben kann, das notwendig wäre, um die Entwicklung der Zivilisation in erfolgreiche Bahnen zu lenken. Dagegen kann die freie und ungehinderte Entfaltung einer Vielzahl von menschlichen Talenten und Fähigkeiten in ihrer Vernetzung eine Zivilisation hervorbringen, in der rapider Fortschritt und eine stetige Zunahme des Wohlstands für alle möglich sind. Freie Menschen setzen in ihrem individuellen Bemühen, so erfolgreich wie möglich zu sein, unbewusst gemeinsam diejenigen Kräfte in Bewegung, die für die Fortentwicklung der Zivilisation entscheidend sind. Eine erfolgreiche Zivilisation ist daher nicht das Produkt einer von einzelnen Menschen geplanten Entwicklung. Dieser Erfolg entsteht spontan, als Ergebnis der Selbstorganisation vieler einzelner Bemühungen zu einem wirkungsvollen Ganzen.
„Wir sind nicht weit davon entfernt, dass die bewusst organisierten Kräfte der Gesellschaft jene spontanen Kräfte zerstören können, die den Fortschritt möglich machen.“ (S. 48)
Wird die Freiheit der Einzelnen unterdrückt, verlieren sie die Möglichkeit, mit ihren individuellen Bemühungen zum Aufbau einer fortschrittlichen Zivilisation beizutragen. In der verwirklichten Freiheit aber können so viele Menschen ihre persönlichen Lebenschancen wahrnehmen, dass das gesellschaftliche Gesamtprodukt erfolgreicher ist als jeder Versuch, eine Gesellschaft nach den Vorstellungen bestimmter Menschen zwangsweise zu organisieren.
„Ob nun unsere Zivilisation von irgendeinem höheren Standpunkt wirklich besser ist oder nicht – wir müssen uns bewusst sein, dass ihre materiellen Ergebnisse von praktisch allen Menschen verlangt werden, die Kenntnis davon haben.“ (S. 62)
In einer freien Gesellschaft bilden sich spontan und selbstorganisiert Wertvorstellungen und Institutionen heraus, die im freien Spiel der Kräfte einer Auslese unterliegen. Am Ende werden nur die erfolgreichsten Traditionen und Institutionen überleben. Aus diesem Grund sollten wir auch die Gebräuche, Einrichtungen und Werthaltungen, die unsere Zivilisation entwickelt hat, respektieren. Sie drücken die unbewusste Weisheit vieler Einzelner aus, die als freie Individuen zur Weiterentwicklung dieser Zivilisation beigetragen haben.
„So paradox es klingen mag, eine erfolgreiche freie Gesellschaft wird immer eine in hohem Maße traditionsgebundene Gesellschaft sein.“ (S. 78)
Es ist nun notwendig, den Freiheitsbegriff auf seinen Kern einzugrenzen. Dieser besteht nicht darin, dass wir einfach tun und lassen können, was wir wollen. Der Begriff der Freiheit ist durch vielfältigen Missbrauch so unklar geworden, dass er zur Rechtfertigung für fast alle gesellschaftlichen und politischen Ziele eingespannt werden kann. Für die erfolgreiche Weiterentwicklung einer Zivilisation ist aber nur eine Definition wirklich ausschlaggebend: Unsere individuelle Freiheit bedeutet, dass wir keinem Zwang anderer Menschen unterliegen, die uns für ihre eigenen Zwecke einspannen wollen. Wenn andere uns nicht daran hindern können, unsere eigenen Lebenspläne zu verwirklichen, sind wir wahrhaft frei und können in dieser Freiheit mit unseren besten Fähigkeiten zu eigenem Erfolg und zur Weiterentwicklung der Zivilisation beitragen. Zwang steht in diesem Zusammenhang nicht für widrige Umstände jeglicher Art, sondern nur für die Unterdrückung durch andere Menschen, die uns zwingen, ihrem Willen statt unserem eigenen zu folgen. Wir sind in dem Maße frei, in dem wir nicht der Willkür eines anderen Menschen ausgeliefert sind.
Die gesellschaftliche Dimension der Freiheit
So sehr der Wert der Freiheit zu betonen ist, so gilt doch auch, dass die Menschen nur dann friedlich zusammenleben können, wenn sie sich in ihrem Umgang miteinander an bestimmte Regeln halten. Daher brauchen wir auch für eine freie Gesellschaft eine verbindliche Ordnung. Denn es geht bei der Freiheit nicht darum, dass wir ohne Gesetz, sondern dass wir alle unter dem gleichen Gesetz leben. Die entscheidende Idee ist die des Rechtsstaats, der Herrschaft des Gesetzes. In einer freien Gesellschaft sind alle gleichermaßen dem Gesetz unterworfen, dessen Zweck es ist, jedem Einzelnen einen geschützten privaten Bereich einzuräumen, in dem er sich frei entfalten kann und den weder die Regierung noch andere Gesellschaftsmitglieder durch Zwang verletzen dürfen.
„Der Liberalismus ist eine Lehre über den zulässigen Inhalt der Gesetze, die Demokratie ist ein Grundsatz über das Verfahren, in dem bestimmt wird, was als Gesetz zu gelten hat.“ (S. 126)
Zu den Aufgaben der Regierung gehört es, zu verhindern, dass die individuelle Freiheit eines Einzelnen durch äußeren Zwang beeinträchtigt wird. Zu diesem Zweck darf sie auch selbst Zwangsmaßnahmen ergreifen. Die Aufgabe der Regierung ist der Schutz der individuellen Freiheit, einschließlich des Rechts auf Privateigentum, sowie die Durchsetzung von Vertragsverpflichtungen, die die einzelnen Gesellschaftsmitglieder freiwillig eingegangen sind. Die Regierung hat das Recht, Steuern zwangsweise zu erheben, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.
„Das Prinzip, dass alles, was die Regierung macht, die Zustimmung der Mehrheit haben soll, muss daher nicht bedeuten, dass die Mehrheit moralisch berechtigt ist zu tun, was ihr beliebt.“ (S. 130)
Wo die Regierung ihre Zwangsgewalt nur zum Schutz der individuellen Freiheit und des Privateigentums sowie zur Durchsetzung von Vertragsverpflichtungen einsetzt, herrschen die Bedingungen einer freien Gesellschaft. Die Gesetze müssen dabei für alle Gesellschaftsmitglieder – einschließlich der Regierung selbst – gleichermaßen Gültigkeit haben.
Bedrohungen für die Freiheit
Die Freiheit ist immer dann bedroht, wenn die Regierung sich anmaßt, Zwang auch dann auszuüben, wenn es nicht um individuelle Freiheit, Privateigentum und Vertragstreue geht. Dieser Zwang droht vor allem dort, wo nicht aufgrund abstrakter und für alle in gleicher Weise geltender Gesetze regiert wird, sondern wo die Regierung darüber hinausreichende Ziele verfolgt und den Behörden zu deren Verwirklichung Entscheidungsspielräume lässt.
„Von Zwang sprechen wir, wenn das Handeln eines Menschen dem Willen eines anderen unterworfen wird, und zwar nicht für seine eigenen Zwecke, sondern für die Zwecke des anderen.“ (S. 161)
Ein wesentliches Problem ist dabei das aus der sozialistischen Tradition übernommene Ziel der „sozialen Gerechtigkeit“. Das Leben eines jeden Menschen ist naturgemäß von vielen zufälligen Faktoren bestimmt. Wir alle wurden in bestimmte Familienverhältnisse hineingeboren, haben unsere jeweiligen unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten und erhalten oft auch mehr oder weniger zufällig unterschiedliche Gelegenheiten, unsere Fähigkeiten zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen. Wenn sich nun etwa eine Behörde anmaßt, zu beurteilen, welche Belohnungen wir jeweils im Leben verdienen, dann öffnet das der Willkür und der Unfreiheit Tür und Tor.
„Der Begriff der Freiheit unter dem Gesetz, der der Hauptgegenstand dieses Buches ist, beruht auf der Ansicht, dass wir mit der Befolgung von Gesetzen im Sinne von allgemeinen abstrakten Regeln, die, unabhängig von ihrer Anwendung auf uns, niedergelegt werden, nicht dem Willen eines anderen unterworfen und daher frei sind.“ (S. 185)
Ungleichheiten lassen sich im Leben nicht vermeiden. Selbst wer alle gleich behandeln will, wird schnell zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Menschen ihre Lebenschancen so unterschiedlich wahrnehmen, dass sich die Ungleichheit zwangsläufig wieder einstellt. Wer dagegen versucht, durch ungleiche Behandlung einen Ausgleich zu schaffen, ruft die Gefahr der Behördenwillkür hervor. Niemand kann wirklich objektiv entscheiden, welche Belohnung jemand für sein Bemühen verdient hat. Für die Gesellschaft als Ganzes ist es am besten, wenn sich möglichst alle frei entfalten können und sich gemäß ihrer eigenen Leistungen ihre Belohnungen auf dem freien Markt verschaffen.
Die historische Entwicklung des Freiheitsbegriffs
Bereits die Athener Demokratie in der griechischen Antike setzte Freiheit zur Herrschaft des Gesetzes in Beziehung. Der zentrale Begriff war „Isonomia“, Gleichheit vor dem Gesetz. Herodot sah darin – und nicht in der Demokratie selbst – die ideale politische Ordnung. Auch Aristoteles betonte die Bedeutung der Herrschaft des Gesetzes.
„Die Wichtigkeit, die die Gewissheit des Rechts für das glatte und wirksame Funktionieren einer freien Gesellschaft hat, kann kaum übertrieben werden. Wahrscheinlich hat kein einzelner Faktor mehr zur Prosperität des Westens beigetragen als die verhältnismäßig große Rechtssicherheit, die dort bestand.“ (S. 270)
Im 18. Jahrhundert wurde diese klassische Tradition von den britischen liberalen Philosophen wiederbelebt. Sie glaubten, dass die Menschen ein Naturrecht auf Freiheit von Regierungswillkür hätten und die gesamte Gesellschaft den gleichen freiheitlichen Gesetzen untergeordnet sein sollte. Trotzdem hielten sie die evolutionär gewachsenen Institutionen der Gesellschaft für wichtig, weil sich in ihnen die Weisheit vieler Generationen ausdrückte. Diese Vorstellungen bildeten dann auch die Grundlage für die Ideale der amerikanischen Revolutionäre: Die Gesellschaftsordnung sollte auf einer Verfassung fußen, die gleichzeitig Demokratie und Freiheit garantierte.
„Unter einem Regime der Freiheit schließt der freie Bereich des Individuums alle Handlungen ein, die nicht durch allgemeine Gesetze ausdrücklich eingeschränkt sind.“ (S. 280)
In Frankreich entwickelte sich dagegen eine andere Überlieferung des Liberalismus. Die Rationalisten lehnten jegliche Tradition ab, sofern sie nicht mit dem Verstand analysiert und in ihrem Wert rational bestätigt werden konnte. Entsprechend strebte die französische Revolution eine Auflösung der traditionellen Institutionen und eine Gleichheit aller an. Dieses Ziel sollte durch eine neue, rational geplante Gesellschaftsordnung verwirklicht werden. Die Legitimation für die gesellschaftlichen Veränderungen erwuchs aus dem Recht der Mehrheit, in einer Demokratie die Ziele der Politik frei zu bestimmen.
Demokratie und Freiheit
Der Kampf um die individuelle Freiheit erlitt vor allem dadurch einen herben Rückschlag, dass sich die französische Vorstellung von Freiheit und Demokratie am Ende selbst in England und den USA mehr oder weniger durchsetzte. In diesem Sinne wird Freiheit vor allem als politische Freiheit verstanden: Dort, wo die Menschen ihre Regierung in freier, allgemeiner Wahl bestimmen können, besteht angeblich auch eine freie Gesellschaft.
„Es kann daher eine Regierung, die verhältnismäßig inaktiv ist, aber das Falsche macht, die Kräfte des Marktes weit mehr lähmen als eine Regierung, die sich um Wirtschaftsangelegenheiten mehr kümmert, sich aber auf Maßnahmen beschränkt, die die spontanen Kräfte der Wirtschaft unterstützen.“ (S. 287)
Zwar ist die Demokratie die beste Regierungsform für die Errichtung einer freien Gesellschaft, aber das demokratische Verfahren garantiert keineswegs die Sicherung der individuellen Freiheit. Gerade demokratisch gewählte Regierungen fühlen sich in der französischen Tradition legitimiert, ihre jeweiligen Ziele mit Zwang und ohne Rücksicht auf individuelle Freiheiten durchzusetzen und bedenkenlos viele Einzelheiten des Lebens der Gesellschaftsmitglieder entsprechend dem Mehrheitswillen zu bestimmen.
Die Wiedergeburt des Sozialismus als Wohlfahrtsstaat
Im Westen hat das abschreckende Beispiel der Sowjetunion den Sozialismus marxistischer Prägung und damit auch das Bemühen um die Verstaatlichung aller Produktionsmittel weitgehend diskreditiert. Das andere sozialistische Ziel, die Nivellierung der Unterschiede in der Gesellschaft durch Umverteilung der Einkommen, hat sich aber – zumindest unterschwellig – als politisches Ziel in fast allen westlichen Demokratien etabliert. Weil die Mehrheit es wünscht, streben die meisten Regierungen danach, nicht nur die Lebenschancen, sondern auch die Lebensverhältnisse der Bürger nach dem Prinzip der Gleichheit zu organisieren. Eine solche Politik der Gleichmacherei ist mit den Prinzipien einer freien Gesellschaft unvereinbar, weil eine gleichförmige Gesellschaft nur mit den Mitteln des Eingriffs in die bestehenden Lebensverhältnisse und mit Zwang erreicht werden kann. In diesem Prozess geraten immer mehr Menschen in Abhängigkeit von behördlichen Entscheidungen, sei es als Empfänger der Wohltaten des Wohlfahrtsstaates, sei es als Opfer willkürlicher Umverteilungsmaßnahmen. Kreativität und Spontaneität in der Gesellschaft werden erstickt, und die freiheitlichen gesellschaftlichen Kräfte, die bisher das Rückgrat des Fortschritts der Zivilisation gebildet haben, erlahmen. Die Folge sind Stagnation und das Ende der gesellschaftlichen Weiterentwicklung.
Gleichzeitig fordern andere, noch unfreiere Gesellschaften einen Anteil am Wohlstand des Westens. Daraus erwachsen internationale Spannungen und möglicherweise sogar Kriege. Die Lösung kann aber nicht in der zwangsweisen Umverteilung des bisher Erreichten liegen, sondern nur in der möglichst weitgehenden Freisetzung der kreativen gesellschaftlichen Kräfte. Wie die Entwicklung der westlichen Gesellschaft zeigt, sind es vor allem die Kräfte der individuellen Freiheit, die zu rapidem Fortschritt und Wohlstand für immer mehr Menschen führen.
Gerade angesichts der globalen Forderung nach besseren Lebensbedingungen haben wir keine andere Wahl, als durch individuelle Freiheit die Rahmenbedingungen für eine Entwicklung hin zu mehr Wohlstand und Lebensqualität für alle zu fördern.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Verfassung der Freiheit besteht aus drei Abschnitten zu je acht Kapiteln sowie einem Nachwort. Im ersten Teil definiert Hayek den Freiheitsbegriff und legt die entscheidende Bedeutung der Freiheit für die Entfaltung der schöpferischen Kräfte in der Gesellschaft dar. Im zweiten Teil geht es vor allem um die historischen und philosophischen Grundlagen der Herrschaft des Gesetzes und die Bedeutung des Rechtsstaates für die Entwicklung einer freien Gesellschaft. Im letzten Teil werden die Fragen behandelt, inwiefern der moderne Wohlfahrtsstaat die Freiheit aushöhlt und welche Rolle der Staat stattdessen in einer freien Gesellschaft spielen sollte. Im Nachwort verdeutlicht Hayek den Unterschied zwischen Konservativismus und Liberalismus. Mit rigoroser Logik verwebt er seine umfassenden Kenntnisse aus vielen Fachgebieten zu einem schlagkräftigen Plädoyer für die Freiheit im Sinne des klassischen Liberalismus. Die einzelnen Abschnitte sind mit umfangreichen Anmerkungen versehen. Viele Zitate erscheinen in der Originalsprache, wobei die Bandbreite von modernen Sprachen wie Französisch, Spanisch oder Italienisch bis hin zu Latein und Altgriechisch reicht. Wer sich die Mühe macht, das Werk sorgfältig zu lesen, wird mit einem fast enzyklopädischen Wissen über die Idee der Freiheit belohnt.
Interpretationsansätze
- Mit seiner umfassenden Begründung einer Freiheitstheorie spricht Hayek als Rechts- und Sozialphilosoph, er geht also bewusst über seinen angestammten Bereich – die Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre – hinaus. Hayek entwickelt in Die Verfassung der Freiheit nichts weniger als die ethischen, anthropologischen und ökonomischen Grundlagen einer freien Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
- Ökonomische Themen stehen in diesem Buch nicht im Vordergrund, sondern sind nur ein Element unter vielen. Dennoch demonstriert Hayek auch seinen ökonomischen Sachverstand, wenn er etwa den Teufelskreis aus Inflation und Dirigismus im Wohlfahrtsstaat behandelt.
- Für Hayek ist das überlegene Wissen, das auf einem freien Markt durch die Vernetzung der individuellen Kenntnisse und Zielsetzungen der einzelnen Marktteilnehmer spontan erzeugt wird, ein zentrales Argument für eine Wirtschaft mit möglichst großer Freiheit von staatlicher Planung. Denn Letztere kann immer nur auf dem begrenzten Wissen einiger weniger Planer beruhen.
- Wegen seines Bekenntnisses zum Freiheitsverständnis nach der englischen Überlieferung und der Aufforderung zu einer konsequenten Wiederbelebung des klassischen Liberalismus in Gesellschaft und Wirtschaft wird Hayek als Vater des Neoliberalismus gesehen.
- Für Hayek steht die individuelle Freiheit über den anderen auf die Französische Revolution zurückgehenden Werten der Gleichheit und Brüderlichkeit, sie steht über der Demokratie: Es kann Gesetze geben, die nicht sinnvoll sind, obwohl sie durch einen tadellosen demokratischen Willensbildungsprozess zustande gekommen sind.
- Hayek warnt vor angeblichen totalitären Tendenzen im Wohlfahrtsstaat zu einer Zeit, als beispielsweise in Deutschland das Modell der demokratischen und sozialen Marktwirtschaft beeindruckende Erfolge vorweisen konnte. Hayeks Theorien nehmen die Krise des Wohlfahrtsstaates ab Ende der 80er Jahre vorweg.
Historischer Hintergrund
Liberalismus in Zeiten des Kalten Krieges
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde eine neue Weltordnung geschaffen. Wesentliche Teile Europas gerieten in den Einflussbereich des Kommunismus sowjetischer Prägung. Auch im Westen neigten viele Intellektuelle sozialistischem Gedankengut zu oder hielten zumindest einen starken sozialdemokratisch geprägten Staat mit dem Ideal sozialer Gerechtigkeit für erstrebenswert. Mit der erstarkenden Arbeiterbewegung und Franklin D. Roosevelts New Deal (staatlichen Eingriffen zur Belebung der Wirtschaft) wurden selbst in den USA die Politiker für Fragen der gerechteren Verteilung des nationalen Einkommens sensibilisiert. Noch weiter ging die soziale Marktwirtschaft nach europäischer Prägung, die den Weg zu einem ausgewogenen sozialen Kompromiss bei der Aufteilung der Gewinne der rapide wachsenden Nachkriegswirtschaft zu weisen schien. Dieser Trend wurde zudem durch den sich anbahnenden Kalten Krieg verstärkt. Angesichts kommunistischer Propaganda sah man sich im Westen selbst im konservativen Lager genötigt, auch der Masse der Bevölkerung Vorteile aus der kapitalistischen Ausrichtung des eigenen Systems zu verschaffen. Entsprechende staatliche Regelungen wurden getroffen, um so in der Konkurrenz der Systeme die breite Bevölkerung für die eigene Weltsicht zu gewinnen. Die gängige Wirtschaftstheorie unternahm den Versuch, die Schwachpunkte des kapitalistischen Systems einzudämmen, die zur Weltwirtschaftskrise der Vorkriegszeit geführt hatten. Die keynesianische Lehre propagierte zu diesem Zweck staatliche Eingriffe in die Lohn- und Fiskalpolitik, vor allem eine Erhöhung der staatlichen Nachfrage nach Gütern. Marktliberale Ideen galten weitgehend als überholt.
Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, wurde von einer Gruppe internationaler liberaler Intellektueller die später sehr einflussreiche Mont Pelerin Society gegründet, die ihre Hauptaufgabe in der Verbreitung von liberalem Gedankengut sah. Ihr erster Präsident war Friedrich August von Hayek.
Entstehung
Friedrich August von Hayek betrachtete sich zuerst als gemäßigten Sozialisten – bis er in Kontakt mit Ludwig von Mises, seinem späteren Mentor, kam. Vor allem dessen 1922 erschienenes Werk Die Gemeinwirtschaft beeindruckte Hayek und machte ihn zu einem überzeugten Liberalen. Gegen Ende seiner Lehrtätigkeit an der London School of Economics setzte sich Hayek mit dem Gedankengut der Sozialisten auseinander, in dem er den Keim gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Unfreiheit sah. Sein 1944 erschienenes Werk Der Weg zur Knechtschaft wurde ein unerwarteter populärer Erfolg. Hayek wurde über Nacht in den USA bekannt. Seine Thesen schockierten die dominierenden linken Intellektuellen in Europa und den USA. Den Bürokraten des Sowjetkommunismus galt Hayek von nun an als gefährlicher Klassenfeind. Trotzdem dominierten in der westlichen Wirtschaftstheorie weiterhin keynesianische und sozialdemokratische Vorstellungen. Hayek bemühte sich aktiv darum, die intellektuelle Isolierung der Liberalen zu dieser Zeit zu überwinden und eine überzeugende theoretisch-philosophische Grundlage für den Liberalismus zu entwickeln. Als krönenden Abschluss dieser Bemühungen konzipierte er sein Buch Die Verfassung der Freiheit, das er dann auch als sein Hauptwerk bezeichnete und in einer symbolischen Geste an seinem 60. Geburtstag als fertiges Manuskript seinem Verleger übergab.
Wirkungsgeschichte
Mit seiner Verfassung der Freiheit etablierte sich Hayek als einer der wichtigsten Denker des Liberalismus des 20. Jahrhunderts und wird heute von vielen als Begründer des Neoliberalismus angesehen. Seine Ideen und Thesen polarisierten die Intellektuellenwelt. Vor allem in den Ostblockstaaten wurde sein Werk angefeindet. In Teilen der westlichen Welt wurden seine Ideen positiver aufgenommen, er erhielt Einladungen als Gastprofessor und war ein viel gefragter Referent. Unter anderem beeinflusste er das Denken von Karl Popper und Milton Friedman. Aber erst in der Wirtschaftskrise der 70er Jahre, als die bis dahin vorherrschenden staatsinterventionistischen Thesen von John Maynard Keynes in der Praxis an ihre Grenzen stießen, fanden Hayeks Freiheitskonzepte allgemeine Anerkennung und gewannen an Einfluss. 1974 erhielt Hayek den Nobelpreis für Wirtschaft, den er sich ausgerechnet mit dem Keynesianer Gunnar Myrdal teilen musste: Beide erhielten den Preis für „ihre tiefgründigen Analysen der wechselseitigen Abhängigkeit von wirtschaftlichen, sozialen und institutionellen Verhältnissen“ – Analysen, welche die beiden Antipoden zu unterschiedlicheren Ergebnissen nicht hätten führen können. Hayeks Lehren prägten die Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan („Reaganomics“) in den USA und von Margaret Thatcher („Thatcherism“) in Großbritannien, die wiederholt betonte, dass sie sich in ihren Entscheidungen regelmäßig an Hayeks Werken über die Freiheit orientiere. In beiden Ländern erhielt Hayek später hohe öffentliche Auszeichnungen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden in vielen Ostblockländern Hayek-Klubs. Seine Lehre hat großen Einfluss auf die neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausrichtung in den früheren kommunistischen Ländern.
Über den Autor
Friedrich August von Hayek wird am 8. Mai 1899 in Wien geboren. Sein Vater ist Arzt und Professor für Botanik an der Universität Wien. Hayek wächst in einem intellektuell stimulierenden Umfeld auf. Nach einem Kriegseinsatz als Artillerieoffizier beginnt er 1918 ein Studium der Rechtswissenschaft, das er 1921 mit der Promotion beendet. 1923 erlangt er zusätzlich in Staatswissenschaften den Doktortitel. Durch seine Arbeit im Österreichischen Abrechnungsamt lernt er seinen späteren Mentor und Freund Ludwig von Mises kennen. Dieser vermittelt ihm ein Stipendium für einen Studienaufenthalt in den USA. Nach seiner Rückkehr gründet Hayek mit Mises 1927 das Österreichische Konjunkturforschungsinstitut. Er wird der Direktor des Instituts und erhält 1929 die Habilitation der Universität Wien. Trotz bescheidener Forschungsmittel findet Hayek mit der Arbeit des Instituts bald internationale Beachtung. 1931 wird er der erste ausländische Ökonomieprofessor an der London School of Economics. Seine Arbeiten bringen ihn bald in Opposition zu den Lehren von John Maynard Keynes, der umfassende Interventionen des Staates in die Wirtschaft befürwortet. 1947 gründet Hayek zusammen mit 35 anderen liberalen Denkern, darunter Milton Friedman, Ludwig von Mises und Karl Popper, die einflussreiche Mont Pelerin Society. Ab 1950 ist er für zwölf Jahre Professor an der University of Chicago, wo er u. a. mit Milton Friedman zusammenarbeitet. 1962 übernimmt er bis zu seiner Emeritierung die Nachfolge des Lehrstuhls von Walter Eucken an der Universität Freiburg. Ab 1968 ist Hayek Gastprofessor an der Universität Salzburg. 1974 erhält er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. 1977 kehrt er, in Deutschland hoch geschätzt, wieder nach Freiburg zurück. Von dort aus ist er auch politisch beratend tätig. 1985 erhält er die seltene britische Auszeichnung „Companion of Honour“ und 1991 die höchste US-amerikanische zivile Auszeichnung, die „Presidential Medal of Freedom“. Hayek stirbt am 23. März 1992 in Freiburg und ist in Wien begraben.
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