Franz Werfel
Die vierzig Tage des Musa Dagh
Fischer Tb, 2010
Was ist drin?
Ein Epos wider das Vergessen des Völkermords an den Armeniern.
- Politischer Roman
- Moderne
Worum es geht
Wider das Vergessen
„Wer erinnert sich denn heute noch an die Massaker der Türken am armenischen Volk?“ Mit dieser Frage versuchte Adolf Hitler vor Beginn des Zweiten Weltkrieges die Bedenken seiner Offiziere zu zerstreuen, die sich angesichts der geplanten Judenvernichtung um das öffentliche Ansehen Deutschlands sorgten. Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben, und schon deshalb ging Hitlers zynische Rechnung zum Glück nicht auf. Die Armenier aber kämpfen noch immer gegen das Vergessen und die Leugnung der an ihnen begangenen Verbrechen. Franz Werfels Roman, der auf historischen Ereignissen basiert, hat ihnen dabei mehr geholfen als alle wohlmeinenden Diplomaten, Journalisten oder Historiker zusammen. Denn er fasst das Unaussprechliche in Worte und gibt den anonymen Opfern ein Gesicht. Der jüdische Autor schuf 1933 mit diesem spannenden Meisterwerk eine Blaupause des staatlich verordneten Völkermords. Sein einziger Irrtum war, dass er den Nazis dessen Perfektionierung nicht zutraute.
Take-aways
- Der Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh machte Franz Werfel zum armenischen Nationaldichter.
- Inhalt: Der in Paris lebende Gabriel Bagradian ist 1915 in seinem armenischen Heimatdorf in der Türkei zu Besuch, als gegen alle Armenier ein Deportationsbefehl ergeht. Gabriel führt daraufhin knapp 5000 Menschen auf den Mosesberg. 40 Tage wehren sie sich erfolgreich gegen die türkischen Angriffe, bis sie von alliierten Kriegsschiffen gerettet werden. Bagradian bleibt auf dem Berg zurück, um am Grab seines Sohnes zu sterben.
- Der Roman thematisiert den türkischen Völkermord an den Armeniern.
- Werfel wurde 1930 durch die Begegnung mit armenischen Waisenkindern auf das Thema aufmerksam.
- Ein zentrales Motiv des Romans ist die Fremdheit des Einzelnen wie auch eines ganzen Volkes.
- Im Roman spiegelt sich außerdem die Beziehung des assimilierten Juden Werfel mit der Antisemitin Alma Mahler wider.
- Der Autor ahnte 1933 den Holocaust am eigenen Volk voraus, glaubte aber offenbar selbst nicht recht daran.
- In den USA wurde das Buch zum Bestseller und Hollywood sicherte sich die Filmrechte.
- Türkische Genozid-Leugner haben die Verfilmung bis heute erfolgreich vereitelt.
- Zitat: „Alles auf der Welt ist zunächst eine moralische und viel später erst eine politische Frage.“
Zusammenfassung
Von Paris in den Orient
Der Armenier Gabriel Bagradian, Spross einer sehr reichen Händlerfamilie, geht an einem Frühjahrsmorgen 1915 unweit von Antiochia an den Hängen des Mosesbergs, des Musa Dagh, spazieren. Er hat 23 Jahre lang in Paris das angenehme Leben eines Schöngeists geführt und ist nach dem Tod seines Bruders mit seiner Frau Juliette und seinem Sohn Stephan in sein Heimatdorf Yoghonoluk zurückgekehrt, um hier den Krieg in Europa auszusitzen. Doch seine Stellung als osmanischer Reserveoffizier verkompliziert seine Lage. 1908 hat er gemeinsam mit den Jungtürken für ein neues Reich gekämpft, in dem – so seine Hoffnung damals – alle Rassen ohne Hass zusammenleben würden. Heute traut er dem Verbrüderungsrausch von damals nicht mehr. Als er sich in Aleppo pflichtbewusst zum Dienst meldet, gibt es angeblich keinen Bedarf an Offizieren. Man sagt ihm, er solle zu Hause die Einberufung abwarten.
„Wie komme ich hierher?“ (Gabriel, S. 13)
Im Dorf warten unheilvolle Nachrichten auf ihn: Osmanische Beamte haben allen Armeniern Reise- und Inlandspässe abgenommen. Gabriel reitet eiligst nach Antiochia, um der Sache auf den Grund zu gehen. In der schäbigen Amtsstube sitzt ihm der Müdir, ein rothaariger, dünner Bezirkshauptmann in demonstrativ westlicher Kleidung gegenüber. Gabriel spürt hinter der maskenhaften Freundlichkeit eine dumpfe Bedrohung. Auf der Massagepritsche im Badehaus wird er dann Zeuge eines Gesprächs, in dem von Entwaffnung und Zwangsarbeit des verräterischen armenischen Volkes die Rede ist.
Boten des Unheils
Bei seiner Rückkehr findet in der Villa Bagradian gerade ein Empfang der wichtigsten Dorfnotabeln statt. Gabriels französische Frau Juliette bewegt sich in dieser Runde wie eine blonde Königin inmitten ergebener Untertanen. Gabriel versucht, seine Gäste über die Bedrohung aufzuklären, doch diese winken ab. Bisher seien die Dorfgemeinden an dem von Gott gesegneten Musa Dagh meist vom Schlimmsten verschont geblieben, und das werde auch diesmal so sein. Der Hauptpriester der sieben armenischen Gemeinden, Ter Haigasun, berichtet Gabriel wenige Wochen später, dass in Istanbul sämtliche armenische Führungspersönlichkeiten verhaftet wurden. Doch der Priester mahnt Gabriel zur Ruhe: Er solle bloß im Volk keine Ängste schüren. Jetzt helfe nur noch Beten.
„Wenn ein Tier nicht mehr daran glaubt, daß es sich wehren kann, geht es zugrunde. So ist es in der Natur und in der Geschichte.“ (Gabriel, S. 75)
Schon im April erreichen die ersten Opfer der organisierten Armenierverschickung aus der Stadt Zeitun die Dörfer am Musa Dagh: Aram Tomasian – ein protestantischen Pastor, der in Zeitun ein Waisenhaus führte –, seine Schwester Iskuhi und seine Ehefrau Howsannah sowie die Waise Sato, ein wildes, tierhaftes Wesen. Stockend berichten sie vom Unfassbaren: von den erfolglosen Provokationen, mit denen die Türken einen Vorwand für die Deportation erzwingen wollten; vom schrecklichen Augenblick, als sich der Transport aus Zeitun in Bewegung setzte; vom Jammern der Frauen, von den wund gelaufenen Füßen der Waisenkinder und schließlich vom Vergewaltigungsversuch an Iskuhi, bei dem ihr Arm so schwer verletzt wurde, dass er seither nutzlos herabhängt.
Aufruf zum Widerstand
Als der Verschickungsbefehl für die sieben Dörfer eingeht, lädt Gabriel die rund 5500 Einwohner in seinen großen, von Mauern umgebenen Garten ein und schwört sie auf Widerstand ein: Warum sollten sie sich wie wehrlose Hammel ergeben? Mit dem Damlajik im Rücken, einer natürlichen Festung auf dem Musa Dagh, die sich mit einigen Hundert Männern und Gewehren verteidigen lasse? Es ist, als hätte Gabriel ein Ventil geöffnet. Die seit Wochen aufgestaute Angst und die Resignation schlagen in Kampfesmut um und entladen sich in wildem Geheul. Der protestantische Pastor Harutiun Nokhudian aber verweigert sich der Revolte. Christus habe Gehorsam gegenüber der Obrigkeit befohlen, so sein Argument. Außerdem würde der Widerstand den Türken nur eine willkommene Rechtfertigung für ihre Verbrechen bieten. Ein paar Hundert Menschen schließen sich dem Gottesmann an. In den Tagen vor der geplanten Deportation machen sich bereits gierige Türken aus den umliegenden Städten und Ortschaften in den Dörfern breit und harren der fetten Beute. Mit dem Widerstand der Bedrängten rechnet niemand. Im Schutz der Dunkelheit beginnt der Auszug der Armenier auf den Mosesberg.
Alltag auf dem Berg
Perfekte Organisation und Disziplin sollen das Leben in der Wildnis möglich machen. Der gewählte Führerrat mit Ter Haigasun an der Spitze beschließt gegen den erbitterten Widerstand der Wohlhabenden, die Herden und Lebensmittel zu vergemeinschaften. Als sie zähneknirschend ihre hochgeschleppten Vorräte preisgeben, scheint sie der Himmel zu strafen: Ein schreckliches Unwetter vernichtet binnen Minuten fast alle Vorräte.
„Beten Sie ... Aber man muss Gott auch unterstützen!“ (Gabriel zu Ter Haigasun, S. 98)
Juliette erhält einige Privilegien. Gabriel hat den Dörflern zu verstehen gegeben, dass seine Frau als unbeteiligte Dritte ein Recht darauf habe: Sie erhält den besten Platz mit großzügigen Unterkünften für ihre Freunde und Familie, eine eigene Küche, zwei Milchkühe und Dienstmädchen. Das Arrangement ruft Neid und Missgunst unter den Menschen in ihren Laubhütten hervor, und Juliette fühlt sich inmitten dieser Siedlung von „Wilden“ fremd. Widerstrebend macht sie sich schließlich im Lazarettschuppen als Krankenpflegerin nützlich.
Große Krieger
Nach einigen Tagen melden die jugendlichen Späher Soldaten. Die Truppe spaziert gut gelaunt den Berg hoch, offenbar in Erwartung einer reinen Festnahmeaktion. Doch die Armenier knallen sie aus ihrer Deckung ab. Es ist ein überwältigender Triumph, und die Menschen feiern Gabriel wie einen heiligen Retter. Als Juliette sich am Abend an ihn schmiegt, versagt seine Manneskraft. Von Einsamkeit betäubt, beginnt Juliette eine Affäre mit dem einzigen anderen Nichtarmenier: Gonzague Maris, halb Franzose, halb Grieche, und im Besitz eines wertvollen amerikanischen Passes. Gabriel indessen fühlt sich in Liebe zu Iskuhi hingezogen. Beiden scheint es, als seien sie schon seit Urzeiten füreinander bestimmt.
„Wir Armenier bilden uns doch immer so viel auf unsere geistige Überlegenheit ein. Damit haben wir sie aufs Blut erbittert. Nun aber wollen wir wirklich beweisen, wie sehr wir überlegen sind!“ (Gabriel, S. 238)
Der 13-jährige Stephan geht völlig in dem Bergabenteuer auf: Er hat alles Europäische abgelegt und übertrifft die Armenierjungen an Wildheit und Tollkühnheit. Beim zweiten Angriff der Türken erobert er deren schwere Feldhaubitzen: Aus seinem Versteck heraus zielt er eiskalt auf die Köpfe der türkischen Wachposten und trifft. Das ganze Lager lässt den Haubitzendieb hochleben – nur Gabriel wird Stephans Übermut unheimlich. Howsannah bringt in dieser Nacht einen Sohn zur Welt. Der Junge ist bewusstlos. Erst als die armenischen „Friedhofshexen“– ein Volk von abergläubischen Weibern und Bettlern – die Nachgeburt mit Nadeln traktieren und ins Feuer werfen, beginnt er zu atmen. Auf seiner Brust prangt ein großes Feuermal.
Lagerkoller und brennender Berg
Unten im Tal geht die Wiederbesiedlung munter voran. Sämtliche Kirchen werden zu Moscheen umgewandelt, und die Menschen danken Allah für ihr Diebesgut. Auf dem Berg wird die Stimmung derweil immer gereizter: Die einseitige Fleischnahrung macht allen zu schaffen; zudem hat ein Deserteur mit dem Fleckfieber eine gefährliche Seuche eingeschleppt. Die Tauffeier für Howsannahs Kind gerät zur Qual. Der Kleine, der noch kaum gewachsen ist, blickt mit stumpfen Augen vor sich hin und gibt keinen Laut von sich. Auch der Feind bereitet den Armeniern Sorge. Alles deutet auf einen neuen, weitaus gewaltigeren Angriff hin. Iskuhi lässt sich von Gabriel zusichern, mit ihm sterben zu dürfen, wenn das unvermeidliche Ende naht.
„Die Menschengosse Antakjes und der größeren Ortschaften ringsum hatten ihre Abwässer ins Tal der sieben Dörfer gelenkt. (...) Augen voll unbeherrschter Gier zupften an den Häusern.“ (S. 298)
Der türkische Ansturm ist heftig, und gegen Abend macht sich unter den Verteidigern Erschöpfung breit. Dann besetzen die Angreifer unter lautem Gegröle die Südbastion, weil einer der Deserteure, der unnahbare Sarkis Kilikian, zu lange mit der Verteidigung zögert. Über 100 Armenier lassen in diesem Kampf ihr Leben. Gabriels Truppe erobert die besetzten Verteidigungsgräben in einem nächtlichen Überfall zurück und nutzt die günstige Windrichtung, um einen fürchterlichen Bergbrand anzufachen. Als wäre der Teufel hinter ihnen her, rasen die türkischen Soldaten die felsigen Hänge hinunter.
Die große Schmach
Stephans Konkurrent und Vorbild Haik – der unangefochtene Führer der jugendlichen Bande – soll den gefährlichen Fußmarsch zum amerikanischen Konsul in Aleppo wagen, um Hilfe zu holen. Stephan verlangt, mitgehen zu dürfen. Doch sein Vater weist ihn erbost zurecht: Wie eine blinde Katze würde man ihn, das verweichlichte Großstadtkind, fangen! Verbittert rennt Stephan davon. Auch Juliette kümmert sich nicht mehr um ihn. Sie plant die Flucht mit ihrem Geliebten, kann sich aber nicht überwinden, es ihrem Mann zu beichten. Die Waise Sato hat ihr Geheimnis jedoch längst herausgefunden. Sie führt die Männer des Führungsrats zu dem Versteck der Liebenden. Juliette starrt Gabriel unverwandt an. Ungläubig sehen die übrigen Männer zu, wie der Gehörnte seiner Frau aufhilft.
„Ein kranker, sterbensmatter Menschenwurm, eine schwärzliche Raupe mit zitternden Fühlern, Borsten und Fässchen, wand sich zertreten durch die Landschaft, ohne vom Fleck zu kommen.“ (S. 366)
Beinahe kommt es zum Volksaufstand. Aufgestachelt von den Neidern der Familie Bagradian, möchten die keifenden Weiber deren Mitgliedern am liebsten die Augen auskratzen. Sie wissen nicht, dass Juliette am Fleckfieber erkrankt ist. Iskuhi hilft Gabriel bei der Pflege der Bewusstlosen und zeigt ihm dabei erstmals offen ihre Liebe. Abends, als Juliette nicht zum verabredeten Zeitpunkt erscheint, flüchtet Gonzague allein in die Freiheit.
Flucht und Heimkehr
Von der väterlichen Abfuhr und dem Skandal um seine Mutter gedemütigt, folgt Stephan Haik nach Aleppo, doch er wird für den abgehärteten Burschen schon bald zur Belastung: Erst versinkt Stephan um ein Haar im Sumpf, dann erkrankt er an fiebrigem Durchfall. Das Heimweh packt ihn. Schließlich versteckt ihn ein gutmütiger turkmenischer Bauer im Pferdekarren und bringt ihn zurück zum Musa Dagh. Doch Stephan hat die Orientierung verloren und stolpert dem Feind direkt in die Arme. Der Müdir kann sein Glück kaum fassen. Während Stephan von seinem liebevollen Vater träumt, trifft ihn der erste von 40 Messerstichen. Die Bettler des Friedhofsvolkes finden Stephans verstümmelten Leichnam und bringen ihn in einer traurigen Prozession den Berg hinauf. Iskuhi kümmert sich um den vor Schmerz völlig versteinerten Geliebten, obwohl ihr Bruder gedroht hat, sich von ihr loszusagen, wenn sie nicht endlich dieses unheilvolle Verhältnis aufgebe. Howsannah hat ihm die Hölle heißgemacht – sie ist von der Idee besessen, ihr kraftloses Baby müsse für die Sünden der Bagradians büßen.
„Die knochigen Armenierfäuste suchten unabwendbar die Gurgeln der Todfeinde und ihre starken Zähne verbissen sich raubtierhaft und besinnungslos in die Türkenkehlen, um das Blut der Rache zu trinken.“ (S. 465)
Dann stehlen die Türken die Schafherden, als diese außerhalb der Verteidigungslinien grasen. Nun droht den Armeniern in wenigen Tagen der Hungertod. Juliette hat das Fleckfieber überlebt, doch sie weigert sich, in die hässliche Wirklichkeit zurückzukehren. Hinter geschlossenen Lidern nimmt sie sehr wohl wahr, was zwischen Gabriel und Iskuhi vorgeht. Sie beginnt, die beiden zu hassen.
Die Rettung
Mittlerweile sterben so viele Menschen, dass man die Toten aus Platzmangel von einer Felswand ins Meer hinunterwirft. Nagender Hunger zehrt an den Armeniern. Selbst wenn sie den nächsten türkischen Angriff wider Erwarten überleben sollten, bleibt die Situation aussichtslos. Die Deserteure, die sich nach dem Ausbleiben der Essenslieferungen an nichts mehr gebunden fühlen, planen unter der Führung Kilikians einen Putsch. Während des Bittgottesdienstes am Abend wird Haigasun von schrecklichen Hungervisionen heimgesucht und stürzt sich schreiend in die Menge. Die Deserteure nutzen den Tumult, fesseln den Priester und räumen das Munitionslager aus. Kurz darauf geht der Holzaltar in Flammen auf. Gefräßig breitet sich das Feuer auf die Wohnanlagen aus.
„Ein Volk kann ohne Bewunderung nicht auskommen, doch ebenso wenig ohne Hass.“ (S. 613)
In der Ferne knattern die Maschinengewehre der Türken. Gabriel befiehlt dem Volk, das Lager zu räumen und am Meeresufer das Ende der Schlacht abzuwarten. Kurz nach Sonnenaufgang feuert er einen Kanonenschuss in Richtung der türkischen Kompanien. Sofort antwortet ein zweiter Schuss. Nur – die Kanonenkugeln kommen vom Meer her und sind beim Feind eingeschlagen! Angelockt von dem Altarfeuer, hat ein französisches Kriegsschiff seinen Kurs geändert und ein Bettlaken mit der Aufschrift „Christen in Not“ gesichtet. Die Türken stellen sofort das Feuer ein. Erst langsam dämmert den Belagerten, dass sie gerettet sind. Bevor man Juliette auf der Bahre davonträgt, ruft sie ihrem Mann zu, er solle sich um Stephan kümmern. Gabriel wünscht sich jetzt nur eins: Er will allein sein. Er setzt sich auf eine moosige Stelle mit Blick aufs Meer und schläft ein. Erst als das Schiff abgelegt hat, wacht er auf und geht zu Stephans Grab. In dem Moment, da ihn die tödliche Türkenkugel trifft, reißt er das Holz aus der Erde. Er stirbt mit dem Kreuz seines Sohnes auf der Brust.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die knapp 1000 Seiten der Vierzig Tage des Musa Dagh sind in drei Bücher unterteilt: „Das Nahende“, „Die Kämpfe der Schwachen“ und „Untergang Rettung Untergang“. Die Lesereise in die fremde Welt des Orients beginnt stockend, doch schon bald wird die biblische Landschaft immer vertrauter und der Leser erlebt ein packendes Kino im Kopf: Gesichter und Biografien werden bis ins letzte Detail nachgezeichnet. Zur Steigerung der Spannung lässt der allwissende Erzähler einen Handlungsstrang gern mit einem Cliffhanger abreißen, um ihn mehrere Seiten später wieder aufzugreifen.
Werfels Sprache ist poetisch, drastisch und mystisch-metaphorisch überhöht. Manchmal schrammt er dabei haarscharf am Kitschigen vorbei, etwa wenn er in expressionistischer Manier die Sinne durcheinanderwürfelt: Da „lärmt“ der Geruch, das Schweigen „schwillt an“, und auf den Lippen liegt ein „feuchter, lächelnder Pupillenglanz“.
Interpretationsansätze
- Der Roman ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten und ein Aufruf, sich nicht in einer religiös verbrämten Opfermentalität seinem Schicksal zu ergeben, sondern gegen die Barbarei zu kämpfen.
- Ein zentrales Motiv ist die Fremdheit: Wer anders ist, wird von der Mehrheit ausgestoßen, sei es ein Einzelner oder ein ganzes Volk. In der Bedrängnis wirkt die kulturelle Andersartigkeit jedoch identitätsstiftend und verleiht überirdische Kräfte.
- Werfel werden oft prophetische Qualitäten nachgesagt, weil er mit seinem Buch 1933 den Holocaust vorausgeahnt habe. Es scheint, als hätte er das Drehbuch zur Katastrophe geschrieben, die noch kommen sollte: die bürokratische Präzision und kaltblütige Ausführung, die Verdrängung und der Selbstbetrug der Opfer sowie das plötzliche, zu späte Erwachen.
- Die Lebenslügen und Liebesdramen des Autors spiegeln sich in der Beziehung zwischen Gabriel und Juliette: Werfel, ein assimilierter österreichischer Jude, war mit der Antisemitin Alma Mahler-Gropius verheiratet. Sie hatte ihn vor der Hochzeit 1929 dazu gedrängt, aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft auszutreten. Wie die Eheleute im Roman verloren Franz und Alma 1919 ihren gemeinsamen Sohn.
- Die historischen Ereignisse wurden von Werfel mit Blick auf das Alte Testament umgestaltet: Aus den eigentlich 53 Tagen auf dem Musa Dagh wurden 40, wie beim Auszug des israelischen Volks durch die Wüste. Und ähnlich wie Moses – der auf dem Berg Nebo stirbt, bevor sein Volk das Gelobte Land betritt – geht Gabriel zugrunde, während er dabei zusieht, wie sein Volk gerettet wird.
- Obwohl der Autor die Rassenideologie der Jungtürken und der Nazis verurteilte, schien er selbst nicht vor deren Denkschablonen gefeit: Das Friedhofsvolk der Bettler bezeichnet er als „Rassenabhub“, die tüchtigen, bildungsbeflissenen Armenier als „weiche Intellektrasse“ und den Müdir als Vertreter eines „schlechtrassigen Osmanentums“. Werfel schrieb sich die Notiz an den Rand: „Nicht gegen Türken polemisieren“ – ein Vorsatz, den er wohl aufgrund persönlicher Betroffenheit nicht immer einhielt.
Historischer Hintergrund
Der Völkermord an den Armeniern
Um die Jahreswende 1914/15 stand es nicht gut um das Osmanische Reich: Der Traum der Jungtürken, ein pantürkisches Reich zu errichten, hatte nach der verheerenden Niederlage gegen die Russen im Kaukasus einen Dämpfer bekommen. Viele Armenier hatten sich auf russischer Seite in der Hoffnung auf Unabhängigkeit am Kampf beteiligt. Doch obwohl die Armenier insgesamt im Osmanischen Reich weitgehend loyal geblieben waren, wurden sie der Sabotage angeklagt. Ihre Soldaten wurden entwaffnet und zur Zwangsarbeit verurteilt. Am 24. April 1915 schaltete die Regierung die armenische Elite in Konstantinopel aus, am 27. Mai erließ sie das Deportationsgesetz: Alle Armenier in den anatolischen Gebieten sollten enteignet, getötet oder auf Todesmärsche in die Wüste geschickt werden. Der Innenminister Talaat Pascha unterzeichnete einen Erlass mit dem Satz: „Das Ziel der Deportationen ist das Nichts.“ Am 31. August 1915 schrieb er dem Botschafter des Bündnispartners Deutschland: „Die armenische Frage existiert nicht mehr.“
Insgesamt sollen zwischen 800 000 und 1,5 Millionen Armenier ums Leben gekommen sein. Schätzungsweise 600 000 haben überlebt, sie emigrierten zum größten Teil. Der Massenmord ging als erster staatlich verordneter Genozid in die Geschichte ein – ein Urteil, gegen das sich die türkische Regierung bis heute mit allen Mitteln wehrt. Sie führt die Todesfälle auf „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“ zurück und droht anderen Staaten im Streit um den Vorwurf des Völkermords immer wieder mit Wirtschaftsboykotten und diplomatischen Repressalien.
Entstehung
„Wir gingen die Webstühle entlang“, schrieb Alma Mahler-Werfel im Frühjahr 1930 in ihr Tagebuch, als sie mit Franz Werfel eine Teppichweberei in Damaskus besuchte, „und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El-Greco-Gesichtern und übergroßen dunklen Augen.“ Auf Werfels Nachfragen antwortete der Fabrikbesitzer, es seien die Kinder der von den Türken erschlagenen Armenier. Dieses Erlebnis war der Anstoß für ein gigantisches Rechercheprojekt: Im weiteren Reiseverlauf sprach Werfel mit Überlebenden des Genozids und erfuhr von den armenischen Widerstandskämpfern, die sich auf dem Musa Dagh 53 Tage lang erfolgreich gegen türkische Angriffe verteidigt hatten, bevor sie von alliierten Schiffen gerettet wurden.
Zurück in Wien ließ Werfel sich alle verfügbaren Unterlagen über den Völkermord an den Armeniern zukommen, um, wie er in seiner Nachbemerkung schrieb, „das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen“. Er stieß auf die Schriften des deutschen Pastors Johannes Lepsius, der sein Leben lang für die Armenier gekämpft und versucht hatte, den türkischen Kriegsminister Enver Pascha höchstpersönlich von den Vernichtungsplänen abzubringen. Unter armenischen Augenzeugenberichten fand Werfel auch die Aufzeichnungen des evangelischen Pfarrers Dikran Andreasian über die Ereignisse auf dem Mosesberg. Als im März 1933 in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, schrieb Werfel große Teile völlig um und arbeitete täglich 17 Stunden bis zur völligen Erschöpfung. „Durch die Ereignisse hat es symbolische Aktualität bekommen“, schrieb er an seine Eltern in Prag. „Unterdrückung, Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus ... Was geschehen wird, das wird geschehen. Wahrscheinlich wird aber gar nicht so viel geschehen.“ Nur wenige Wochen später brannten seine Bücher auf deutschen Scheiterhaufen.
Wirkungsgeschichte
Der Roman erschien im November 1933 und begeisterte seine Leser in Österreich und in der Schweiz. In Deutschland wurde das Buch offiziell geächtet. Die wenigen bereits vorbestellten Exemplare fanden jedoch reißenden Absatz, und die meisten Buchhändler orderten nach – bis das Werk Anfang Februar 1934 von den Nazis verboten wurde. Werfel sah seine Karriere am Ende, hatte aber den internationalen Markt unterschätzt: In den USA führte sein Roman monatelang die Bestsellerlisten an. Man feierte ihn als eine der aufregendsten Geschichten aller Zeiten, als packenden Actionthriller und tragisches Liebesdrama in einem. Der Stoff schien wie geschaffen für Hollywood, und das Filmstudio MGM erwarb für die damals hohe Summe von 20 000 $ die Rechte daran. Damit begann die unendliche Geschichte eines Jahrhundertfilms, der nie gedreht wurde: Türkische Genozid-Leugner haben die Verfilmung bis heute erfolgreich vereitelt – eine Tragödie politischer Abhängigkeiten und diplomatischer Verwicklungen, die genug Stoff für einen eigenen Thriller bieten würde.
Die größte Verehrung wurde Werfel unter Armeniern zuteil. 1935, auf einer Reise nach New York, wurde er von Exil-Armeniern als „gottgesandter Freund“ gefeiert. Ein Priester sagte während der Predigt: „Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben.“ Während des Zweiten Weltkriegs diente das Heldenepos den aufständischen Juden in den polnischen Ghettos als Vorbild. Marcel Reich-Ranicki beschreibt in seinen Memoiren, wie die Menschen bei der Lektüre weinten und sich darin wiedererkannten.
Über den Autor
Franz Werfel wird am 10. September 1890 als Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten in Prag geboren. Wie sein Zeitgenosse Franz Kafka gehört er der Minderheit der deutschsprachigen Juden an. Er studiert in Leipzig und Hamburg kurzzeitig Jura und Philosophie und arbeitet später als Lektor für einen Verlag. Seinen literarischen Durchbruch schafft er 1911 mit dem Lyrikband Der Weltfreund, einer euphorischen Hymne auf Frieden, Völkerverständigung und Brüderlichkeit. Gemeinsam mit seinen Schriftstellerkollegen Walter Hasenclever und Kurt Pinthus veröffentlicht er 1912 die expressionistische Schriftenreihe Der Jüngste Tag. Zwischen 1915 und 1917 kämpft er für die Österreicher an der russischen Front; später wird er in das Wiener Kriegspressequartier versetzt, wo er wegen seiner pazifistischen Überzeugungen in Schwierigkeiten gerät. 1917 lernt er die elf Jahre ältere Alma Mahler kennen, eine berühmte Künstlermuse, die Witwe des Komponisten Gustav Mahler und die Noch-Ehefrau des Architekten Walter Gropius. Noch während ihrer Ehe mit Gropius bringt sie Werfels mutmaßlichen Sohn Martin zur Welt, der jedoch im Alter von nur zehn Monaten stirbt. Unter Almas Regie zieht sich Werfel aus dem öffentlichen Leben zurück, schreibt und reist viel. Auf einer Nahostreise 1930 trifft er in Damaskus auf verkrüppelte armenische Waisenkinder, ein Erlebnis, das ihn zu seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) inspiriert. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland geht er ins Exil nach Frankreich. 1940 beginnt eine wochenlange Flucht vor der einrückenden Wehrmacht – seine „Tour de France“, wie Werfel sie nennt. Während er sich in Lourdes versteckt, gelobt er, ein Buch über die Ortsheilige zu schreiben – Das Lied von Bernadette (1941). 1940 schafft er es mit Alma sowie mit Heinrich und Golo Mann zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien und emigriert von Portugal aus in die USA, wo er mit seinen Romanen Bestsellererfolge feiert. Am 26. August 1945 stirbt er in Los Angeles an einem Herzinfarkt.
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