Ernst Haeckel
Die Welträtsel
Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie
Kröner, 1984
Was ist drin?
Haeckels Versuch einer „Religion ohne Glauben“ – eine in sich geschlossene Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Grundlage.
- Naturwissenschaften
- Moderne
Worum es geht
Ein Glaubensbekenntnis für das wissenschaftliche Zeitalter
Die Welträtsel war eines der einflussreichsten Bücher am Anfang des 20. Jahrhunderts. Es füllte eine Lücke, die viele Menschen nach der Darwin’schen Revolution schmerzlich empfanden: Die Entwicklung des Lebens war also auch ohne Schöpfergott erklärbar, aber was trat an dessen Stelle? Haeckels Buch ist nichts weniger als der Versuch, eine geschlossene Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Basis zu schaffen, sozusagen eine Religion ohne Glauben. Seine Grundannahmen: Geist und Materie sind nicht zwei verschiedene Dinge, vielmehr ist der Geist eine untrennbare Eigenschaft der organischen Materie; es gibt somit auch keine unsterbliche Seele. Die gesamte Natur ist beseelt; es besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen niederen und höheren Lebewesen, sondern nur ein gradueller. Haeckel wollte keineswegs die Religion oder Spiritualität an sich abschaffen. Was er aber bekämpfte, war der Glaube an das Wunder, das Unerklärliche, der kirchliche Dogmatismus – und jener Anthropozentrismus, der den Menschen als Mittelpunkt der Welt und als Ziel der Evolution sah. Wer ein Gefühl dafür bekommen will, wie sehr Darwins Erkenntnisse das damalige Weltbild umwälzten, der liest das Buch auch heute noch mit Gewinn.
Take-aways
- Haeckels Buch Die Welträtsel ist der Versuch, die uralten Fragen nach der Entstehung des Lebens und der Herkunft des Menschen zu beantworten.
- Laut Haeckel hat Darwins Evolutionstheorie die Sicht auf die Welt revolutioniert und erstmals ein schlüssiges Konzept für die Vielfalt der Lebewesen geboten.
- In allen Phänomenen des Lebens besteht ein Kontinuum vom Einfachen zum Komplexen.
- Das gilt auch für psychologische Phänomene wie Sinneswahrnehmungen, Reflexe, Gedächtnis, Bewusstsein usw.
- Jedes organische Material besitzt geistige Eigenschaften und umgekehrt beruhen geistige Phänomene auf physiologischen Vorgängen.
- Die höchste Stufe der geistigen Entwicklung, das Bewusstsein des Menschen, beruht auf physiologischen Vorgängen.
- Körper und Geist sind nicht als getrennte Dinge anzusehen (Dualismus), sondern sie sind untrennbar miteinander verbunden (Monismus).
- Der Geist ist somit eine Eigenschaft der belebten Materie. Es gibt daher auch keine unsterbliche Seele.
- Ebenso ist der freie Wille eine Illusion: Das Handeln ist bestimmt durch Vererbung und Anpassung an die Umwelt.
- Die monistische Ethik steht im Gegensatz zu der des Christentums; sie beruht auf der Einheit von Körper und Geist und auf der Verwandtschaft alles Lebendigen.
- Manche von Haeckels Erkenntnissen gelten heute als überholt, andere sind von späteren Wissenschaftlern bestätigt worden.
- Im Zuge der neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse können die von ihm aufgeworfenen Welträtsel als gelöst betrachtet werden.
Zusammenfassung
Der Fortschritt der Wissenschaften
Die Wissenschaften haben im 19. Jahrhundert atemberaubende Fortschritte gemacht: neue Erkenntnisse in Optik, Akustik, Mechanik und Wärmelehre, Verbesserungen bei Mikroskopen und Teleskopen, Fortschritte in der Medizin und insbesondere die Entwicklungslehre von Charles Darwin, die erstmals die Entstehung des Lebens mit einem einleuchtenden und nachweisbaren Prinzip erklärt – all das hat unser Verständnis der Welt dramatisch verändert. Außerdem haben praktische Anwendungen wie Impfung und Anästhesie, Telefon und Elektrizität oder die industrielle Mechanik unser Alltagsleben tief greifend verändert. In scharfem Kontrast dazu steht der fehlende Fortschritt oder gar Rückschritt in anderen Bereichen des modernen Kulturlebens: bei den sozialen Einrichtungen, beim Regierungssystem, beim Zustand des Justizwesens, beim nationalen Selbstbewusstsein und bei der ungebrochenen Macht der Kirche.
Die Welträtsel
Im Naturzustand ist der Mensch von einer Vielzahl von Dingen umgeben, die für ihn unerklärlich sind. Je weiter sich aber Kultur und Wissenschaften entwickeln, desto geringer wird die Zahl der Welträtsel. Emil Heinrich du Bois-Reymond hat 1880 in einer berühmten Rede an der Berliner Akademie der Wissenschaften sieben Welträtsel aufgezählt: erstens das Wesen von Materie und Kraft, zweitens der Ursprung der Bewegung, drittens die erste Entstehung des Lebens, viertens die anscheinend absichtlich zweckmäßige Einrichtung der Natur, fünftens die Entstehung der einfachen Sinnesempfindungen und des Bewusstseins, sechstens das vernünftige Denken und der Ursprung der Sprache und siebtens die Frage nach der Willensfreiheit.
„Das anthropozentrische Dogma gipfelt in der Vorstellung, dass der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens (...) sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigennutz äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungsmythen der drei großen Mediterran-Religionen (...) verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Teil der Kulturwelt.“ (S. 23)
Dazu ist zu sagen: Die Rätsel eins, zwei und fünf sind durch unsere Vorstellung von der Substanz erledigt, drei, vier und sechs sind mit der Darwin’schen Entwicklungslehre gelöst worden. Rätsel sieben schließlich, die Frage nach der Willensfreiheit, ist gar kein wissenschaftliches Rätsel, sondern ein bloßes Dogma.
Monismus vs. Dualismus
Alle philosophischen Richtungen lassen sich zwei entgegengesetzten Lagern zuordnen: entweder einer zwiespältigen, dualistischen oder einer einheitlichen, monistischen Weltanschauung. Der Dualismus sieht die Welt aus zwei verschiedenen Substanzen bestehend, aus den materiellen Dingen und dem immateriellen Geist oder Gott. Im Monismus dagegen gibt es nur eine einzige Substanz, in der Körper und Geist untrennbar verbunden sind; das eine kann ohne das andere nicht existieren.
Das Substanzgesetz
Das Substanzgesetz ist ein wichtiger Pfeiler der monistischen Weltanschauung. Es vereint die beiden Grundgesetze der exakten Naturwissenschaft, das chemische Gesetz von der Erhaltung des Stoffes und das physikalische Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes wurde 1789 von Antoine Laurent de Lavoisier formuliert und besagt: „Die Summe des Stoffes, der den unendlichen Weltraum erfüllt, ist unveränderlich.“ Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, 1842 von Robert Mayer aufgestellt, lautet: „Die Summe der Kraft, die im unendlichen Weltraum tätig ist und alle Erscheinungen bewirkt, ist unveränderlich.“ Diese beiden Grundlehren gehören untrennbar zusammen, sie sind ebenso innig verknüpft wie ihre Objekte, also wie Stoff und Kraft, Materie und Energie. Die beiden Gesetze betreffen nur verschiedene Seiten ein und desselben Objektes, nämlich des Kosmos als Ganzem.
Das Wesen der Seele
Das Wesen der Seele ist einer der Kernpunkte monistischer Weltanschauung. Die Vorgänge, die wir als Seelenleben oder als psychische Tätigkeit bezeichnen, gehören zu den wichtigsten und rätselhaftesten. Hier tritt der Gegensatz zwischen der dualistischen und der monistischen Sichtweise am deutlichsten zutage. Der Dualismus sieht Leib und Seele als verschiedene Dinge, die unabhängig voneinander existieren können. Ihm zufolge ist der Leib ein sterbliches Wesen aus organischer Materie, die Seele hingegen etwas Immaterielles, dessen Beschaffenheit und Tätigkeit sich wissenschaftlicher Beschreibung entziehen. Diese Auffassung geht davon aus, dass es Kräfte gibt, die ohne jede materielle Basis existieren und wirksam werden können.
„Der ungebildete Kulturmensch ist noch ebenso wie der rohe Naturmensch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträtseln umgeben. Je weiter die Kultur fortschreitet und die Wissenschaft sich entwickelt, desto mehr wird ihre Zahl beschränkt. Die monistische Philosophie wird schließlich nur ein einziges, allumfassendes Welträtsel anerkennen, das ‚Substanzproblem‘.“ (S. 26)
Der Monismus dagegen betrachtet das Seelenleben als eine Summe von Erscheinungen, die wie alle anderen auch an die Materie gebunden sind. Diese materielle Basis der psychischen Tätigkeit soll vorläufig als „Psychoplasma“ bezeichnet werden. Die individuelle Seele eines Menschen entsteht ebenso wie seine individuelle Körperlichkeit im Moment der Vereinigung von Samen- und Eizelle. Da die beiden Geschlechtszellen nicht nur unterschiedliche körperliche Eigenschaften, sondern auch unterschiedliche „Zellseelen“ haben, erbt der neu entstandene Keim von beiden Elternteilen sowohl körperliche als auch seelische Eigenschaften. Seele und Körper beginnen in diesem Augenblick neu zu entstehen. Schon hierdurch wird klar, dass es eine unsterbliche Seele nicht geben kann.
Die Abstufung der psychischen Phänomene
Eine der wesentlichen Erkenntnisse, die die Psychologie mithilfe der Entwicklungslehre gewonnen hat, ist die, dass die organische Welt eine psychologische Einheit bildet. Sämtliches Leben, von den Einzellern bis hinauf zum Menschen, ist aus denselben elementaren Naturkräften hervorgegangen und bildet nicht nur hinsichtlich der körperlichen, sondern auch der geistigen Entwicklung ein Kontinuum. Es muss daher die Hauptaufgabe einer zukünftigen wissenschaftlichen Psychologie sein, diese Entwicklungsleiter genauer zu untersuchen und die einzelnen Stufen zu unterscheiden.
„Die allgemein herrschende Auffassung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Leib und Seele als zwei verschiedene ‚Wesen‘.“ (S. 124)
Bei allen einzelnen Seelentätigkeiten – wie Empfindung, Reflex, Gedächtnis usw. – lassen sich Skalen der abgestuften Komplexität aufstellen. Bei den Empfindungen beispielsweise können wir fünf Hauptstufen der Empfindlichkeit oder Sensibilität unterscheiden: von den einfachsten Reizreaktionen der Einzeller über die einfachen sowie die ausdifferenzierten Sinnesorgane und das zentrale Nervensystem bis zur Fähigkeit zur bewussten Empfindung beim Menschen und den höheren Wirbeltieren.
„Die natürliche Auffassung des Seelenlebens, welche wir vertreten, erblickt dagegen in demselben eine Summe von Lebenserscheinungen, welche gleich allen anderen an ein bestimmtes materielles Substrat gebunden sind.“ (S. 125)
Auf ähnliche Weise lässt sich bei den Bewegungen eine Skala mit fünf Stufen aufstellen, bei den Reflexen eine mit sieben Stufen, beim Vorstellungsvermögen und beim Gedächtnis jeweils eine mit vier Stufen. Ebensolche Abstufungen, wenn auch weniger scharf, gibt es bei den Instinkten, der Vernunft, der Sprache und den Gemütsbewegungen.
Wille und Willensfreiheit
Es gab stets unterschiedliche Vorstellungen darüber, was man unter dem Willen genau versteht. Für Descartes etwa war der Wille ausschließlich eine Eigenschaft des Menschen, während die Tiere für ihn willen- und seelenlose Maschinen waren. Im Licht der vergleichenden Psychologie gelangt man aber zu der Überzeugung, dass der Wille, wie die Empfindung auch, eine Eigenschaft des Psychoplasmas ist.
„Der menschliche Wille ist ebenso wenig frei als derjenige der höheren Tiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet.“ (S. 168)
Das Problem der Willensfreiheit hat die Menschheit seit jeher beschäftigt. Kant bezeichnete die Überzeugung von der Willensfreiheit als eines der drei großen „Postulate der praktischen Vernunft“. Du Bois-Reymond stellte das Problem an die siebte und letzte Stelle seiner Welträtsel und ließ offen, ob es lösbar ist oder nicht. Denker der gegensätzlichsten Richtungen haben die Willensfreiheit mit den unterschiedlichsten Begründungen entweder verneint oder bekräftigt. Heute können wir den Streit um die Willensfreiheit als entschieden ansehen: Willensfreiheit gibt es beim Menschen ebenso wenig wie bei den Tieren; beide unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern nur graduell. Der Wille ist nicht frei, sondern das Handeln wird gemäß der Entwicklungslehre zum einen durch die Vererbung, zum anderen durch die Anpassung an die Umwelt bestimmt.
Das Bewusstsein
Das Bewusstsein, seine faszinierende Rätselhaftigkeit und seine Verbreitung in der gesamten organischen Welt hat mehr als jede andere psychische Funktion zu der irrtümlichen Vorstellung beigetragen, es gebe eine immaterielle und unsterbliche Seele. Die Definitionen von Bewusstsein gehen weit auseinander. Im Wesentlichen gibt es sechs Theorien, die sich im Grad der Verbreitung des Bewusstseins unterscheiden:
- Die anthropistische Vorstellung geht davon aus, dass nur der Mensch über Bewusstsein verfügt; sie geht im Wesentlichen auf Descartes zurück.
- Die neurologische Theorie spricht ein Bewusstsein nicht nur dem Menschen, sondern auch jenen höheren Tieren zu, die ein Zentralnervensystem und entsprechende Sinnesorgane besitzen.
- Die animalische Theorie besagt, dass sich ein Bewusstsein bei allen Tieren findet, nicht aber bei Pflanzen.
- Die biologische Vorstellung nimmt ein Bewusstsein für alle organischen Wesen an; demnach besitzen auch Pflanzen eine Seele.
- Die zelluläre Ansicht geht davon aus, dass das Bewusstsein eine Lebenseigenschaft nicht nur des Organismus, sondern jeder einzelnen Zelle ist. Sie ist im Prinzip eine Schlussfolgerung aus der biologischen Theorie.
- Die atomistische Theorie schließlich besagt, das Bewusstsein sei eine Eigenschaft aller Atome. Diese radikalste Ansicht entstand aus der Schwierigkeit, zu bestimmen, wo denn der tatsächliche Ursprung des Bewusstseins zu suchen sei.
„Die Unterschiede, welche im Gehirnbau und Seelenleben des Menschen und der Menschenaffen existieren, sind geringer als die entsprechenden Unterschiede zwischen diesen letzteren und den niederen Primaten (den ältesten Affen und Halbaffen).“ (S. 214)
Letzten Endes lassen sich all diese Ansätze auf zwei gegensätzliche Auffassungen zurückführen, nämlich auf eine transzendent-dualistische und eine physiologisch-monistische. In Wahrheit braucht das Bewusstsein keine Transzendenz, sondern es ist ein physiologisches Phänomen und kann somit vollkommen aus chemischen und physikalischen Vorgängen erklärt werden. Das Bewusstsein unterscheidet sich von den niederen psychologischen Regungen nur im Grad der Komplexität, nicht aber durch die zugrunde liegenden physiologischen Vorgänge. Die neuesten anatomischen Erkenntnisse legen nahe, dass das Bewusstsein in jenen Regionen des Gehirns seinen Sitz hat, die den höchstentwickelten Säugetieren eigen sind. Dass das Bewusstsein an die Materie gebunden ist, folgt auch daraus, dass Stimulanzien wie Beruhigungsmittel, Genussmittel usw. dieses beeinflussen; wie könnte das möglich sein, wenn das Bewusstsein immateriell wäre?
Die Ethik des Monismus
Der folgenreiche Irrtum der dualistischen Weltauffassung besteht darin, das Sittliche und Moralische getrennt von der materiellen Welt zu sehen. Diese Einstellung, die u. a. auf Descartes und Kant zurückgeht, hat viel Leid und Verwirrung angerichtet und ist auch für eine Reihe von Fehlentwicklungen der christlichen Ethik verantwortlich: die Geringschätzung des Körpers, die Frauenverachtung, die Misshandlung der Natur, die Tierquälerei, schließlich die alles übertreffende papistische Moral mit ihren Auswüchsen wie Beichte, Keuschheit und Zölibat und ihren Verbrechen wie Glaubenskriegen und Inquisition.
„Als das oberste und allumfassende Naturgesetz betrachte ich das Substanzgesetz, das wahre und das einzige kosmologische Grundgesetz; seine Entdeckung und Feststellung ist die größte Geistestat des neunzehnten Jahrhunderts, insofern alle anderen erkannten Naturgesetze sich ihm unterordnen.“ (S. 273)
Die monistische Ethik dagegen stützt sich auf das Bewusstsein von der Einheit alles Lebendigen sowie der Einheit der geistigen und der materiellen Welt. Sie sieht in den anderen Lebewesen unsere Mitgeschöpfe und in anders denkenden Menschen unsere Artgenossen; sie glaubt nicht an die Erfüllung in einem fernen Paradies, sondern an irdische Freuden; sie glaubt nicht, dass das Weib dem Mann untergeordnet ist, sondern dass sich beide in ihren Stärken und Vorzügen ergänzen und dass diese Verschmelzung in der sexuellen Intimität ihre höchste Erfüllung findet. Die monistische Ethik beruft sich auf das ethische Grundgesetz (auch bekannt als „Goldene Regel“), das schon lange vor Christus die verschiedensten Weisen der Antike und des Orients formuliert haben; unter ihnen der große chinesische Philosoph Konfuzius: „Tue jedem anderen, was du willst, dass er dir tun soll; und tue keinem anderen, was du willst, dass er dir nicht tun soll. Du brauchst nur dieses Gebot allein; es ist die Grundlage aller anderen Gebote.“
Zum Text
Aufbau und Stil
Das Buch Die Welträtsel gliedert sich in 20 Kapitel. Zu Beginn jedes Kapitels werden eine stichwortartige Übersicht über den Inhalt und eine Literaturliste geboten. Der Eindruck eines klaren Aufbaus spiegelt sich im Text im Großen und Ganzen wider. Manchmal allerdings machen dem Analytiker Haeckel seine Emotionen einen Strich durch die Rechnung: Das 19. Kapitel beispielsweise, „Unsere monistische Sittenlehre“, ist keine neutrale Darstellung. In erster Linie findet sich darin eine wütende Gesellschafts- und vor allem Kirchenkritik. So erscheint Die Welträtsel zum einen als anspruchsvolles populäres Sachbuch, das den damaligen Stand des Wissens über die Entwicklung der Organismen schildert; zum anderen ist es auf merkwürdig unentwirrbare Weise ein Manifest.
Verantwortlich dafür ist Haeckels oft ungestüm vorwärts drängender Stil, der Sachargumente und Polemik munter vermischt. Durch häufige Gliederungen und Aufzählungen sowie eine Unzahl kursiver Hervorhebungen bekommt der Text eine etwas atemlose Anmutung; zugleich lässt der substantivlastige Stil den Text zuweilen etwas steif wirken. Im Kontrast zu dieser gleichsam professoralen Schwerfälligkeit steht Haeckels immer wieder durchbrechende Emotionalität, etwa wenn er gegen seinen Widersacher Emil Heinrich du Bois-Reymond oder gegen das institutionalisierte Christentum wettert.
Interpretationsansätze
- Haeckels monistische Weltsicht bietet ein klares, geschlossenes Denksystem, das zudem die philosophischen Implikationen von Darwins Evolutionstheorie schlüssig erklärt. Der Monismus stillte die verbreitete Sehnsucht nach einer gleichsam nachprüfbaren, objektiven Weltanschauung auf wissenschaftlicher Grundlage.
- Diese Geschlossenheit ist aber auch die Schwäche des Systems, da Haeckel jede wissenschaftliche Erkenntnis in den Rahmen seiner monistischen Entwicklungslehre zwingen und dazu auch manche wissenschaftlichen Ungereimtheiten ausblenden muss.
- Der größte innere Widerspruch liegt aus heutiger Sicht darin, dass Haeckel einerseits die ganze Welt als Kontinuum sieht – mit einem Bewusstsein in jeder Zelle und den anderen Lebewesen als „unseren Brüdern“ –, dass er aber andererseits fast schon begeistert den Kampf ums Dasein anerkennt, auch mit der Konsequenz, „minderwertiges Leben“ auszusortieren (was allerdings nur in anderen Werken thematisiert wird).
- Haeckels grenzenloser Wissenschaftsoptimismus ist heute ebenfalls nicht mehr nachvollziehbar: Unlösbare oder unentscheidbare Fälle gibt es für Haeckel auf Dauer nicht. Zwölf Jahre nach seinem Tod allerdings bewies der Mathematiker Kurt Gödel, dass in jedem genügend komplexen System Fälle auftreten, die sich innerhalb des Systems nicht widerspruchsfrei lösen lassen.
- Das von Haeckel bereits 1866 formulierte „biogenetische Grundgesetz“, wonach die Entwicklung eines einzelnen Lebewesens die Entwicklung der Art verkürzt wiederholt, ist von der Wissenschaft heute nicht mehr anerkannt.
Historischer Hintergrund
Darwins Revolution und die Folgen
Charles Darwins 1859 erschienenes Buch Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, das erstmals eine überzeugende Erklärung für die Artenvielfalt lieferte, löste enorme gesellschaftliche Umwälzungen aus. Plötzlich brauchte es keinen Gott mehr, um die Vielfalt des Lebens zu erklären, und so verlief denn die Linie zwischen Akzeptanz und Ablehnung der neuen Lehre zum Großteil entlang weltanschaulicher Grenzen. Zugleich war es eine Zeit, in der Wissenschaft und Technik sich zum ersten Mal so zu verzahnen begannen, wie es heute selbstverständlich erscheint. In den Naturwissenschaften gab es enorme Fortschritte, ebenso in der Technik: Hochhäuser, Fabrikanlagen, Eisenbahnviadukte, Automobile und elektrische Geräte ließen jeden spüren, was technischer Fortschritt bedeutete. In dieser Atmosphäre des Umbruchs entstanden die verschiedensten weltanschaulichen Strömungen. Viele Menschen mussten das als sehr verwirrend empfunden haben. Eine einheitliche, monistische Theorie erfüllte darum die Sehnsucht nach einer Welterklärung, die auf zur neuen Zeit passte. Die Hoffnung, ein wissenschaftlich exaktes Denken könne zur Grundlage einer neuen Weltanschauung werden, nährte auch den Wunsch nach Demokratie und Gleichberechtigung sowie nach Abkehr von staatlicher und kirchlicher Willkür.
Entstehung
Die Welträtsel war für Ernst Haeckel der aus publizistischer Sicht geglückte Versuch, endlich die Ernte seines jahrzehntelangen Wirkens als Naturforscher, Wissenschaftsautor und Vortragsredner einzufahren. Sein Verleger soll ihn ermuntert haben, doch einmal ein populäres Buch zu schreiben; dies ist ihm vortrefflich gelungen. Der Titel ist gegen den Berliner Mediziner Emil Heinrich du Bois-Reymond gerichtet, der 1880 in einem Vortrag die sieben größten Welträtsel und deren Lösungschancen definiert hatte – Haeckel erklärte sie kurzerhand alle für gelöst. Die meisten Gedanken, Argumente und Fakten, die in Die Welträtsel zur Sprache kamen, hatte er allerdings schon in anderen Büchern geäußert, etwa in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868), in Zellseelen und Seelenzellen (1878) oder in der Systematischen Phylogenie der Wirbeltiere (1895). Auch die Idee eines Monismus, der als Religionsersatz dienen könne, hatte Haeckel bereits vorher präsentiert, in einem Vortrag mit dem Titel Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft (1892).
Wirkungsgeschichte
Das Buch war extrem erfolgreich. Nach der ersten Auflage 1899 erschienen in rascher Folge weitere. Insgesamt wurde es in 25 Sprachen übersetzt und mehr als eine halbe Million Mal verkauft. Die Welträtsel machte Haeckel zum Helden zahlreicher Menschen, die eine mehr oder weniger diffuse Abneigung gegen die Kirche mit einer Faszination für die aufstrebende Wissenschaft und der Suche nach einer neuen Weltanschauung verbanden. Tatsächlich wurde Haeckel 1904 auf einem internationalen Freidenkerkongress in Rom enthusiastisch zum „Gegenpapst“ ausgerufen – heftige Reaktionen von kirchlicher Seite waren die Folge. Bei der Gründung des Deutschen Monistenbundes im Jahr 1906 wurde Haeckel sogleich zum Ehrenpräsidenten gewählt. Die Welträtsel wurde zu einer Art Handbuch der monistischen Bewegung, von den Gegnern als „der Koran des Monismus“ verspottet. Aus heutiger Sicht erscheint vor allem bemerkenswert, dass ein solches Thema die Menschen derart fesseln konnte und dass damals das Bedürfnis nach einer Ersatzreligion so mächtig war. Dies ist nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Macht die Kirche in weltanschaulichen Fragen damals noch hatte und wie stark der Wunsch weiter Kreise von den Bürgerlichen bis zur Linken war, dieser Deutungshoheit etwas entgegenzusetzen.
Der Materialismus und Atheismus der Monisten – bei durchaus spiritueller, naturreligiöser Grundhaltung – war damals sowohl für bürgerlich-liberale wie auch für linke Kreise attraktiv. Zu den Anhängern gehörten etwa der Anarchist Pjotr Kropotkin, der Architekt Henry van de Velde, der Sexualreformer Magnus Hirschfeld, der Publizist Carl von Ossietzky sowie die Sozialdemokraten August Bebel und Franz Mehring. Die neue Zeit löste bei Vertretern aller Schichten Unbehagen aus. Der Monistenbund wurde 1933 von den Nationalsozialisten verboten. Obwohl die antikirchliche Haltung der Monisten auf der Linie der Nazis lag und diese sich in manchen Punkten, etwa bei der theoretischen Begründung der Eugenik und der Rassenhygiene, explizit auf Gedanken Haeckels und die anderer Monisten beriefen, war ihnen das streitbare, freidenkerische Element der Bewegung suspekt. 1946 wurde als Nachfolgeorganisation des Monistenbundes die „Freigeistige Aktion/Deutscher Monistenbund“ gegründet, die noch existiert, aber gesellschaftlich bedeutungslos ist. Die materialistische Grundhaltung dagegen, die Haeckel verkörperte und die aus Die Welträtsel spricht, ist heute nach wie vor bei der Mehrzahl der Wissenschaftler vorherrschend.^
Über den Autor
Ernst Haeckel wird am 16. Februar 1834 in Potsdam geboren. Auf Wunsch des Vaters studiert er ab 1852 Medizin, interessiert sich aber von Anfang an am meisten für Anatomie und Zoologie. Der Berliner Anatom Johannes Müller fördert seine Begeisterung und weckt sein Interesse für die Meeresbiologie. Obwohl Haeckel zwischenzeitlich Assistent bei dem berühmten Mediziner Rudolf Virchow ist und obwohl er nach der Promotion über ein physiologisch-anatomisches Thema noch sein medizinisches Staatsexamen ablegt und 1858 die Approbation als Arzt erhält, entscheidet er sich gegen die praktische Medizin und für die Wissenschaft. Auf einer Studienreise nach Sizilien entdeckt er über 100 neue Arten von Radiolarien (Einzeller), die er in einer Monografie beschreibt und zeichnet. 1861 wird er an der Universität Jena habilitiert. Auf einer Versammlung der Vereinigung Deutscher Naturforscher und Ärzte 1863 hält Haeckel eine viel beachtete Rede, in der er sich vehement für Darwins vier Jahre zuvor veröffentlichte Abstammungslehre starkmacht; dieser Einsatz macht ihn in Wissenschaftlerkreisen bekannt und setzt ihn öffentlichen Angriffen aus, die bis zu seinem Tod nicht abreißen sollen. Haeckels kämpferische, oft schroffe Art, seine starke Emotionalität bei gleichzeitig schneidendem Intellekt machen ihn zur Zentralfigur der Debatte, die weite Kreise der Gesellschaft erfasst. In zahlreichen Büchern schildert er die neue naturwissenschaftliche Weltsicht: Seine Generelle Morphologie der Organismen (1866) ist das erste Lehrbuch auf Grundlage der Evolutionstheorie und begründet u. a. die grafische Idee des Stammbaums der Lebewesen; über seine Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) sagt Darwin, Haeckel habe die Folgerungen aus seiner Abstammungslehre für den Menschen besser verstanden als er selbst. Endgültig berühmt wird er mit zwei Büchern, die um die Jahrhundertwende erscheinen: Die Welträtsel, das 1899 herauskommt und sofort ein Erfolg wird, und die ebenfalls ab 1899 zunächst in kleinen Heftfolgen erscheinenden Kunstformen der Natur, die auch zahlreiche Künstler des Jugendstils beeinflussen. Ernst Haeckel stirbt am 9. August 1919 in Jena.
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