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Die Wörter

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Die Wörter

Rowohlt,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Jean-Paul Sartres Autobiografie: illusionslos, schonungslos offen und ohne Kindheitsromantik.


Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Moderne

Worum es geht

Selbstanalyse à la Sartre

Als Jean-Paul Sartres Kindheitserinnerungen mit dem vielsagenden Titel Die Wörter 1964 in Buchform erschienen, war ihr Verfasser bereits eine lebende Legende: Als Intellektueller der Nachkriegszeit, Philosoph und Schriftsteller war er etabliert. Wenn man seine Erinnerungen für bare Münze nehmen will, war sein Lebenszweck damit streng genommen erreicht. Sartre berichtet davon, wie er als Kind mit seiner Mutter und seinen greisen Großeltern aufwächst. Ohne väterliches Vorbild muss er selbst sehen, wie er seine Identität als Junge und Mann findet. Getreu seiner späteren existenzialistischen Philosophie erschafft er sich selbst, wählt sich eine Rolle, die er zur eigenen Verblüffung so hervorragend spielt, dass aus dem Rollenspiel Ernst wird. Die Bücher in der Bibliothek seines Großvaters ziehen ihn magisch an, er beginnt sie zu lesen, ohne lesen zu können. Später verschlingt er Groschenromane ebenso wie hohe Literatur – wenn auch ohne diese zu verstehen. Nach dem Lesen kommt das Schreiben: Als „Wunderkind“ beginnt er mit Geschichten und gräbt sich darin ein, während andere Kinder draußen spielen. Sartres Selbstanalyse ist scharfsinnig und zudem sehr witzig. Für Sartre-Fans ein Muss, für alle anderen mindestens empfehlenswert.

Take-aways

  • Die Wörter ist die Autobiografie des Philosophen und Schriftstellers Jean-Paul Sartre.
  • Er veröffentlichte sie 1964, zu einem Zeitpunkt, als er bereits ein umjubelter Intellektueller war.
  • Die Erinnerungen decken überwiegend die Kindheit des Denkers ab, dessen existenzialistische Philosophie die Nachkriegszeit beherrschte.
  • Sartre, als Kind Poulou genannt, lernt seinen Vater nie kennen: Dieser stirbt vor der Geburt des Sohnes an einem indischen Fieber.
  • Die junge Mutter zieht nach Poulous Geburt zurück zu ihren Eltern, wo sie selbst wieder wie ein kleines Kind behandelt wird.
  • Der Großvater erfreut sich an den zusammenhanglosen Wörtern aus Poulous Kindermund, die er für Orakelsprüche hält.
  • Poulou nutzt jede Gelegenheit, um zu gefallen und bewundert zu werden.
  • Die Begeisterung für die Bibliothek des Großvaters führt dazu, dass der Kleine zum Büchernarren wird, sobald er lesen kann. Alsbald fängt er selbst an zu schreiben.
  • Poulou wird allmählich klar, dass seine Großeltern mit ihm „Familientheater“ spielen und der wirkliche Umgangston bedeutend rauer ist.
  • Durch das Schreiben beginnt er seine eigene Identität zu formen und entdeckt für sich einen Sinn in einer ansonsten sinnlosen Welt.
  • Die positive Sicht der Kunst als Rettung aus der unsinnigen Existenz revidiert der ältere Sartre. Dennoch schreibt er weiter – aus Gewohnheit.
  • Zu den wichtigsten Reaktionen auf Die Wörter gehörte die Verleihung des Literaturnobelpreises an Sartre im Jahr 1964, den er aber aus ideologischen Gründen ablehnte.

Zusammenfassung

Die Schweitzers

„Louis ist von uns allen der Frommste, Auguste der Reichste, ich bin der Intelligenteste“, so fasst Charles Schweitzer die Entwicklung seiner Geschwister und seine eigene bei Familienfeiern zusammen und erntet viele Lacher. Sein Bruder Auguste ist nämlich Kaufmann geworden und erfreut sich einer großen Prosperität. Der andere Bruder, Louis (der Vater des berühmten Albert Schweitzer), hat die geistliche Laufbahn gewählt, was eigentlich Charles hätte zufallen sollen. Doch dieser hat gekniffen und ist lieber einer Kunstreiterin hinterhergelaufen. Immerhin hat es Charles zum Gymnasiallehrer für Deutsch geschafft und ist zum eloquenten Gelegenheitsdichter geworden. Alle drei sind die Kinder eines „Abtrünnigen“: Philippe-Chrétien Schweitzer, ein Lehrer, der es gewagt hat, sich 1850 im Elsass als Krämer niederzulassen. Charles heiratet Louise Guillemin, die Tochter eines katholischen Anwalts, die sich bereits auf der Hochzeitsreise mithilfe von Attesten den ehelichen Pflichten entzieht, aber später eine Bewunderin schlüpfriger Romane wird. Nicht die Schlüpfrigkeiten an sich, sondern vor allem deren gewagte Verhüllungen imponieren ihr. Verhüllung und Schauspielerei bestimmen auch das tägliche Leben der Schweitzers, die zwar puritanisch, aber trotzdem den weltlichen Freuden nicht abgeneigt sind. Obwohl es eher selten zum ehelichen Verkehr kommt, gebärt Louise, zu ihrer eigenen Verwunderung, vier Kinder: eine Tochter, die jedoch bei der Geburt stirbt, zwei Söhne und eine weitere Tochter: Georges geht aufs Polytechnikum und macht sich rar, Émile wird Deutschlehrer und verstirbt bereits 1927 in zerrüttetem geistigem Zustand, Anne-Marie wird vor allem dazu erzogen, sich zu langweilen.

Poulous Geburt

Wie aufregend muss es ihr erscheinen, als sie der Marineoffizier Jean-Baptiste Sartre 1904 vor den Traualtar zerrt und ihr „im Galopp“ ein Kind andreht – bevor er sich aufmacht, an einem indischen Fieber zu sterben. Der kleine Hosenmatz, Poulou genannt, steht ebenfalls an der Schwelle des Todes, kann aber gerettet werden. Mittel- und ahnungslos begibt sich Anne-Marie zurück zu ihren Eltern. Diese machen ihr Vorwürfe und meinen, sie hätte bei der Wahl ihres Mannes etwas sorgfältiger vorgehen müssen. Ein so früher Tod dürfte gar nicht erst infrage kommen. Dennoch widerruft Charles Schweitzer das bereits eingereichte Pensionierungsgesuch und arbeitet weiter, um seine Tochter samt Sohn durchzufüttern. Anne-Marie wird umgehend wieder in den Status der Tochter zurückkatapultiert: Ab sofort muss sie wegen jeder Kleinigkeit um Erlaubnis bitten und nach einer Einladung um Punkt zehn Uhr wieder zu Hause sein. Es gibt drei Zimmer: das Zimmer des Großvaters, jenes der Großmutter und das der Kinder. Dementsprechend fühlt sich der kleine Poulou weniger als Sohn denn vielmehr als Bruder von Anne-Marie – wobei sie hauptsächlich dazu da ist, ihn zu bedienen. Der Großvater, den alle Karl statt Charles nennen müssen, gefällt sich in der Rolle des autoritären Herrschers, ja gar des Gottvaters selbst, als er einmal, aus der Sakristeitür tretend, aus Versehen den Kirchgängern erscheint, während der Pastor gerade das Herannahen des Allmächtigen predigt ...

Die Gefallsucht

Der kleine Poulou ist ein hübsches Kind und wird von allen gehätschelt. Der weiße Fleck auf der Hornhaut, der später sein starkes Schielen verursachen wird, ist bereits sichtbar. Auch auf Fotografien, die die Mutter liebevoll retuschiert. Und überhaupt: Fotografien! Der Großvater liebt sie. Weil es noch keine Schnappschüsse gibt, gefällt er sich darin, Szenen so zu stellen, als wären es Schnappschüsse – am liebsten mit dem Enkel, der ihm besonders imponiert, wenn er in seiner Kindersprache seltsame Sätze von sich gibt. Diese hält der Großvater für Orakelsprüche, die er zu deuten versucht. Poulou merkt sich deshalb ganz besonders schwierige Wörter der Erwachsenen und baut sie in Sätze ein, deren Sinn er nicht begreifen kann, womit er glänzend ankommt. Er merkt, wie jede Bewegung, jedes Wort und sogar sein bloßes Erscheinen für die Familie zur Offenbarung werden. Hätte er einen Vater, würde der ihm seine Rechte und Pflichten beibringen. So aber gibt es nur Rechte. Poulou nutzt jede Chance, bewundert zu werden. Nur die Großmutter durchschaut sein Spiel und bezeichnet ihn als Hampelmann und Grimassenschneider.

Bücher

1911 zieht die Familie nach Paris. Dem Geldmangel, den die Pensionierung mit sich bringt, begegnet der Großvater mit der Gründung des Institut des Langues Vivantes, in dem er vor allem Deutsche in der französischen Sprache unterrichtet. Er gibt das Deutsche Lesebuch heraus, und es breitet sich eine helle Aufregung im Haus aus, wenn die alljährlichen Korrekturfahnen hereinflattern. Bücher! Der kleine Poulou erlebt diese großen, mächtigen, verstaubten Dinger als Reliquien, als Heiligtümer. Der Großvater liest in ihnen, arbeitet mit ihnen, sodass der Kleine instinktiv begreift, dass die gewaltigen Kodizes für das Wohlergehen der Familie lebenswichtig sind. Seine Großmutter hat auch immer zwei oder drei Bücher in ihrem Zimmer: aus der Leihbücherei, wo sie jeden Freitag, einem Ritual gleich, gegen neue eingetauscht werden. Der Großvater hasst den billigen Tand, aber die Großmutter lässt sich bei der Lektüre nicht stören. Lesen, so wird dem jungen Poulou vermittelt, ist etwas Andächtiges, Heiliges. Obwohl er selbst noch nicht lesen kann, fordert er doch seine eigenen Bücher. Man gibt nach und schenkt ihm ein Märchenbuch. Wie überrascht ist Poulou, als seine Mutter die Märchen, die sie ihm sonst mit zittriger, nach den richtigen Worten suchender Stimme nacherzählt hat, nun mit kräftigen, sicheren Worten aus dem Buch vorliest. Ist die Geschichte da drin? Ungeheuerlich! Sofort will Poulou das Lesen selbst versuchen und wird nach Kräften darin gefördert. Sein bester Freund wird das große Larousse-Lexikon, wo er immer wieder auf absonderliche, seltsame Wörter stößt. Die Bibliothek der Klassiker seines Großvaters wird zur Schatzkammer, das Lesen zur Religion.

Zuckersüße Bonbons

Poulous Großmutter betrachtet die Lesesucht ihres Enkels mit Misstrauen, ebenso die Ermutigungen des Großvaters, Klassiker zu verschlingen. Mutter und Großmutter schmieden deshalb ein Komplott, um den Kleinen auch mit der bunten Welt der Abenteuerhefte und Groschenromane bekannt zu machen. Poulou ist entzückt, der Großvater entsetzt. Umso mehr, als sich bei der Anmeldung beim Lycée Montaigne herausstellt, dass Poulou eine Rechtschreibschwäche hat. Das kann der Großvater auf seinem Wunderkind nicht sitzen lassen: Er engagiert einen Hauslehrer, dem weitere andere folgen sollen. Im täglichen Zusammenleben stellt Poulou fest, dass ihn seine Familienmitglieder zwar mit „zuckersüßen Bonbons“ füttern, dass ihre Worte im Umgang miteinander aber nicht mehr so schön klingen wie mit ihm. Er fühlt sich wie eine Anziehpuppe, ein dekoratives Inventar, eine Topfpflanze. Kleine Kränklichkeiten werden sorgsam und übervorsichtig behandelt. Es erregt in ihm ein leises Grauen, als er feststellt, dass die Familie mit ihm nur ein Familientheater spielt, dass die Worte aber in Wahrheit geheuchelt sind. Genauso geheuchelt, wie er selbst heuchelt, indem er den lieben, aufmerksamen, drolligen, altklugen Jungen spielt, der unter allen Umständen gefallen muss, dabei aber nicht so recht weiß, wer er eigentlich ist, was er will und wodurch er sich auszeichnet. Er sieht sich als Wachsfigur, als Abziehbild seiner selbst. Dies wird Poulou bei einem Empfang im Spracheninstitut seines Großvaters eindrücklich bewusst, als dieser vor den Gästen den Satz fallen lässt: „Der Einzige, der jetzt noch fehlt, ist Herr Simonnot.“ Was für ein bewundernswerter Zustand! Fehlen! Wenn man irgendwo fehlt, bedeutet das, dass man einen festen Platz hat, dass man jemand ist.

„Im Jahre 1904 machte er in Cherbourg als Marineoffizier, den bereits das Fieber aus Hinterindien aushöhlte, die Bekanntschaft der Anne-Marie Schweitzer, packte sich das große und vereinsamte Mädchen, heiratete es, machte ihm im Galopp ein Kind, mich, und versuchte dann, sich in den Tod zu flüchten.“ (über Jean-Baptiste Sartre, S. 10)

Poulou meint, Gott hätte ihm vielleicht einen festen Platz geben können oder zumindest eine Spur von Selbstannahme. Der Religionsunterricht gefällt dem Jungen, er schreibt einen Aufsatz über die Passion Christi und wird dafür mit der Silbermedaille geehrt. Seine Großeltern sind aber im Grunde nicht gläubig oder erachten ihren Glauben zumindest nicht als wichtig. Entsprechend ist Poulous Bekanntschaft mit Gott relativ kurz. Im Nachhinein betrachtet er die Begegnung als missglückte Berufung – wären die Umstände andere gewesen, hätte etwas aus ihnen beiden werden können ...

Schreiben

Poulou ist und bleibt Großvaters Liebling. Er spielt perfekt in der Familienkomödie mit und kann gar nicht glauben, dass es draußen in der Welt etwas geben könnte, wo er nicht im Mittelpunkt steht. Doch im Jardin du Luxembourg soll ihn die grausige Realität eiskalt erwischen: Dort spielen gleichaltrige Kinder ihre Rollenspiele – und lassen ihn nicht mitmachen. Ist es sein Äußeres, sein geringer Wuchs? Betteln will er nicht, und als seine Mutter eingreifen will, schämt er sich. Unter seinesgleichen tritt er vor die schärfsten Richter, die er sich denken kann. Wie angenehm sind dagegen die Verse, die ihm sein Großvater schreibt, als er mit den Frauen auf Reisen ist! Man bemerkt Poulous Interesse, bringt ihm die Verslehre bei, schenkt ihm ein Reimlexikon, und fortan antwortet der Kleine seinem Ersatzvater ebenfalls in Versen – zu dessen großer Freude. Das Kino, eine weitere neue Leidenschaft, wird zu Hause nacherlebt und in Geschichten verpackt. Poulou schreibt und erschafft die Situationen, die ihn faszinieren, immer wieder aufs Neue. Es ist Schwindelei, die ersten Werke sind allesamt Plagiate. Aber sie kommen ihm sehr echt vor. Der Großvater ist zunächst von den literarischen Ambitionen des Enkels entzückt, aber als er das Œuvre des Kleinen näher betrachtet, weicht die Begeisterung einer grenzenlosen Enttäuschung. Keine Familienchronik, stattdessen die Abenteuer eines Bananenhändlers? „Schund“ wäre in den Augen des Großvaters noch eine schmeichelhafte Bezeichnung für diese Machwerke. Fortan wird die literarische Begabung des Kleinen deswegen totgeschwiegen.

Ich schreibe, also bin ich

Trotzdem wird es für Poulou bald zu einem Gesetz, dass er Schriftsteller werden muss. Denn, das malt sich der Kleine immer wieder aus, Schriftsteller werden gefeiert, erwartet, verehrt, kurz: Sie werden gebraucht. Sie füllen eine Lücke. Sie fehlen. Und das ist für Poulou Ansporn genug. Schriftsteller sein, das bedeutet: einen Grund haben, zu existieren. Und Schriftsteller wird er nicht als „Geschenk des Himmels“, wie er von seinem Großvater öfters tituliert wird, sondern aus freien Stücken. Er hat die Freiheit zu wählen, und er wählt. Aber was? Diese Frage beschäftigt erneut seine Gedanken. Welchen Ruhm gilt es zu erlangen? Was macht ein Ritter, wenn es keine Drachen mehr gibt? Was tut ein Republikaner, der in einer Republik lebt? Däumchen drehen. Doch der geliebte, gehasste Großvater zieht ihn aus der Sackgasse seiner Gedanken: Künstler befreien die Welt. Das ist eine Aufgabe: Kunst als Religion, Künstler als Schöpfer der Reliquien einer Heilslehre. Bücher können den Menschen ersetzen, mutmaßt Poulou: Wenn er sich nicht als Mensch annehmen kann, dann doch zumindest als Buch, als Büchersammlung, als geschriebener Text. Das sind zwar nur Dinge, aber sie sind. Er malt sich aus, wie befriedigend es sein könnte, nach langen Jahren der Schriftstellerei noch in der hinterletzten Wüste auf jemanden zu treffen, der ihn dank seiner Bücher kennt. Poulou beginnt das Leben nunmehr aus der Situation des Todes heraus zu betrachten: so leben, dass man posthum etwas wert ist.

Der doppelte Atheismus

1914 bricht der Krieg aus, aber das ist für Poulou nur insofern von Bedeutung, als seine Lieblingsromane und Groschenhefte aus den Kiosken verschwinden und stattdessen Kriegsromane erscheinen, denen er samt und sonders nichts abgewinnen kann. Im Oktober 1915 endet auch das Privileg des Privatunterrichts: Mit zehn Jahren beginnt Poulou seine Laufbahn als Schüler des Lycée Henri IV – und versagt sofort beim Aufsatz. Doch das gibt sich. Endlich hat er auch richtige Freunde, mit denen er spielen kann. Hier vergisst er das „Grauen der Existenz“, denn im Spiel wird er gebraucht und tut alles, um sich zu integrieren. Leider währt diese Wonne nicht lange. Eines Morgens, als er auf dem Weg zum Gymnasium auf seine Mitschüler wartet, gleiten seine Gedanken zu Gott hinauf. Er denkt nach und beschließt, dass es Gott nicht gibt. Und so schwebt der Gedanke an Gott einfach davon, ebenso wie der Gedanke an Christus. Aber es bleibt noch der Heilige Geist, der dem kleinen Poulou schon früher die Aufgabe gestellt hat, Schriftsteller zu werden. Warum? Einfach so. Weil er Talent hat? Nein, einfach so. Schriftstellerei, Kunst und Kultur werden zur Ersatzreligion, der Heilige Geist macht seinen Job großartig. Sartre schreibt. Er erschafft den Roman Der Ekel, in dem Bewusstsein, dass er selbst dessen Held ist. Der Ruhm als Schriftsteller kommt.

„Blieb der Patriarch: Er glich Gottvater so sehr, dass man ihn oft damit verwechselte.“ (über Charles Schweitzer, S. 14)

Später, viel später in seinem Leben werden sich Sartres Ansichten verändert haben. Jetzt muss auch die Ersatzreligion dran glauben, der Heilige Geist wird ausgetrieben. Ohne die Ersatzreligion der Kunst fühlt Sartre sich jetzt, so alt er geworden ist, wieder wie ein kleiner Junge, der ohne Fahrkarte im Zug sitzt – ohne Legitimation für seine Existenz. Trotzdem schreibt er weiter – was sollte er sonst tun?

Zum Text

Aufbau und Stil

Sartres Autobiografie setzt noch vor seiner Geburt ein. Indem die Verwandtschaftsverhältnisse erörtert werden, wird der Rahmen für die „Familienkomödie“ abgesteckt. Das Buch besteht aus zwei Teilen, die mit den programmatischen Überschriften „Lesen“ und „Schreiben“ versehen sind. Die Kindheitserinnerungen orientieren sich zwar grob an der Chronologie, verstoßen aber auch immer wieder dagegen. Einmal ist Poulou schon zehn, ein paar Seiten später wieder sieben Jahre alt: Sartre bündelt seine Erinnerungen eher thematisch denn chronologisch. An einigen Stellen schaltet sich der ältere Sartre mit Anmerkungen ein; überhaupt steckt der gesamte Text voller Kommentare und Deutungen und ist an keiner Stelle eine bloße nüchterne Wiedergabe der Ereignisse. Verantwortlich hierfür ist das hervorstechende Stilmerkmal des Textes: die Polysemie (Mehrdeutigkeit, Existenz mehrerer Sinnschichten). Praktisch jeder Satz ist mit mehreren Bedeutungsschichten aufgeladen. Manche Leser werden vielleicht auf den letzten Seiten etwas ins Trudeln geraten, wenn sich die verschiedenen Erzählperspektiven (Kindheit und Alter) vermischen und ein Dickicht aus Metaphern und Anspielungen den Blick auf das Geschehen verstellt. Was aber den besonderen Reiz von Die Wörter ausmacht, ist die schonungslose Ehrlichkeit, das Durchschauen der Lügen der Welt wie auch der eigenen Lebenslügen und Illusionen.

Interpretationsansätze

  • Der kleine Sartre bzw. Poulou erlebt seine Existenz als Rollenspiel, das Leben in der Familie als Familientheater. Entsprechend benimmt er sich selbst: Er spielt das Wunderkind, den Leser (obwohl er noch nichts versteht), den Schriftsteller (obwohl er anfangs nur plagiiert) – er erlebt das ganze Leben als unecht, als Spiel.
  • Sartres Autobiografie ist eine ausgedehnte Selbstanalyse. In ironischem Tonfall erwähnt er beispielsweise, dass er nicht recht wisse, ob der frühe Tod seines Vaters für ihn ein Glück oder ein Unglück gewesen sei. Mit Blick auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds kommt er schließlich zu der Erkenntnis, kein Über-Ich zu haben.
  • Die Auseinandersetzung mit der Freud’schen Psychoanalyse schwingt in Die Wörter stets mit. Sartre lehnte Freuds Methode ab, weil sie den Menschen determiniere und psychische Kausalitäten für sein Werden und Sein vermute.
  • Sartres eigene Methode, die existenzialistische Psychoanalyse, ist im Atheismus verwurzelt: Sie beschreibt den Menschen, der seinen Glauben an Gott verloren hat, als Suchenden nach einem Heil, nach einer Berechtigung und einem Sinn seiner Existenz. Daraus leitet Sartre ab, dass der Mensch fortwährend Wahlentscheidungen treffen muss, die sein Leben bestimmen. Er hat die Freiheit der Wahl, aber er muss wählen („Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“).
  • Die existenzialistische Psychoanalyse fragt nach den Beweggründen der „ersten Wahl“, die aus dem Menschen das gemacht haben, was er ist. Insofern lassen sich Sartres Kindheitserinnerungen als Suche nach sich selbst lesen, in der er den Umständen auf den Grund geht, die zu seiner „Literaturneurose“, also zu der von ihm als zwanghaft empfundenen Schreibtätigkeit geführt haben.

Historischer Hintergrund

Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Sartre wurde 1905 geboren, mitten in dem Zeitalter, das wegen des damaligen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs in Frankreich als Belle Époque bezeichnet wird. Politisch herrschte seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 die Dritte Republik, die jedoch von einigen Krisen geschüttelt wurde, insbesondere von der Dreyfus-Affäre 1894: Der jüdischstämmige Offizier Alfred Dreyfus wurde des Landesverrats bezichtigt und in einem äußerst fragwürdigen Verfahren verurteilt. Die konservativen Kräfte des Landes nutzten diesen Vorfall zu antisemitischer Propaganda. Später wurde Dreyfus rehabilitiert. In der Folge dieser Affäre verschärfte sich die Kritik an Kirche, Militär und Staat und führte 1898 dazu, dass liberale Kräfte in Form der so genannten Radikalsozialisten in Paris ans Ruder gelangten. Auch Sartres Großvater Charles Schweitzer wählte „radikal“. Zu den Errungenschaften der Radikalsozialisten gehörten die verfassungsmäßige Trennung von Kirche und Staat sowie die Einführung von Arbeitsschutzgesetzen und einer Sozialversicherung. Außenpolitisch stand die „radikale Republik“ in scharfem Gegensatz zum Deutschen Reich. Revanchismus machte sich breit. Frankreich suchte die Allianz mit Russland, mit Italien und mit Großbritannien, Letzteres vor allem in der Entente cordiale, einer besonders gegen das Deutsche Reich gerichteten Politik des „herzlichen Einvernehmens“. 1913 kam Raymond Poincaré an die Staatsspitze, ein Mann, der dem Deutschen Reich sehr skeptisch gegenüberstand und die Versöhnungsversuche der Sozialisten abwehrte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 war dann nur noch eine Frage der Zeit und des geeigneten „Zunders“.

Entstehung

„Ich wollte im reinen Äther leben, unter den luftigen Trugbildern der Dinge. Weit davon entfernt, mich an Luftballons anklammern zu wollen, habe ich mich später mit ganzem Eifer bemüht, nach unten zu gelangen; dazu braucht man Sohlen aus Blei.“ So formulierte es der 57-jährige Jean-Paul Sartre bei der Korrektur seines Manuskripts von Die Wörter im April 1963. Aus luftiger Höhe betrachtete er nicht nur seine Kindheit, die er in mehrerlei Weise eher konstruierte als rekonstruierte. In luftiger Höher erledigte er auch die Korrekturarbeit, nämlich im zehnten Stock eines Hochhauses am Boulevard Raspail in Paris, vis-à-vis dem Friedhof Montparnasse, auf dem er später ruhen sollte. Ein Jahr zuvor hatte er umziehen müssen, weil die OAS, eine Terrororganisation, die die Ablösung Algeriens von Frankreich verhindern wollte, seine Wohnung zerbombt hatte. Die Arbeit am Manuskript dauerte insgesamt zehn Jahre, allerdings mit großen Unterbrechungen. 1953 äußerte Sartre erstmals den Wunsch, eine Autobiografie zu verfassen. Der ursprüngliche Titel sollte Jean sans terre lauten – also „Johann ohne Land“, was die Entwurzelung seines biografischen Ichs unterstreichen sollte. Im Herbst 1963 erschien Die Wörter in zwei Ausgaben der von Sartre gegründeten Zeitschrift Les Temps modernes und ein Jahr später in Buchform im Verlag Gallimard.

Wirkungsgeschichte

Sartres Autobiografie wurde von einem internationalen Publikum begierig aufgesogen. Die deutsche Ausgabe erschien 1965, und zwar zeitgleich in der Bundesrepublik (Rowohlt) und in der DDR (Aufbau-Verlag). Man interessierte sich vor allem für die Details aus der Kindheit des überaus populären, wenn auch unbequemen Denkers. Als „Philosoph des Jahrhunderts“ (so sein Biograf Bernhard-Henri Lévy) verquickte er wie kein anderer die Philosophie mit Theaterstücken, Romanen, Essays, Reiseberichten und Drehbüchern. Für die frühe Sartre-Rezeption stand aber gerade deshalb ein großer Widerspruch im Raum: Konnte jemand, der sich nicht ausschließlich der Philosophie verschrieb, überhaupt als glaubwürdiger Philosoph gelten? Die Nachkriegszeit wurde jedenfalls zur Sartre-Zeit, und die nachgeschobenen Kindheitserinnerungen verliehen dieser einen zusätzlichen Reiz. Mit Die Wörter revolutionierte Sartre überdies das Genre der Autobiografie im 20. Jahrhundert, indem er das Augenmerk von der Psychologie auf die philosophische Anthropologie verlagerte, die die Stellung des Menschen in der Welt untersucht.

Dass er unbequem war, bewies Sartre noch im selben Jahr, in dem Les Mots in Frankreich als Buch herauskam: Im Oktober 1964 sollte ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen werden, insbesondere für dieses Buch. Sartre lehnte jedoch ab und erregte damit den größten Skandal in der Geschichte des Nobelpreises. Der Philosoph betrachtete den Preis als Symbol der bürgerlichen Kultur und stieß sich daran, dass er nur an westliche Schriftsteller verliehen wurde. Zu den persönlichen Gründen für die Verweigerung der Annahme äußerte er sich später: „So machen sie es immer, es gibt immer ein Buch, das ein letztes Lebenszeichen des Autors sein muss, und dann tötet man ihn mit dem Nobelpreis. Die Nobelpreisträger sind übrigens alle schnell gestorben. Dass ich noch lebe, liegt nur daran, dass ich ihn abgelehnt habe.“

Über den Autor

Jean-Paul Sartre wird am 21. Juni 1905 in Paris als Sohn eines Marineoffiziers geboren. Seine Mutter heiratet nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes wieder und zieht nach La Rochelle. Sartre besucht, nachdem er am Atlantik sehr unglücklich war, das Pariser Lycée Henri IV als Internatsschüler und studiert anschließend Psychologie, Philosophie und Soziologie an der École normale supérieure in Paris. Er erhält die Lehrerlaubnis für die Hochschule im Fach Philosophie und lernt Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine Lebensgemeinschaft eingeht. 1933 erhält er ein Stipendium in Berlin. Dort befasst er sich vor allem mit den Philosophien Husserls und Heideggers. Über Letzteren urteilt er bald vernichtend: „Es schien, als sei mit Heidegger die Philosophie wieder in die Kindheit zurückgefallen.“ 1938 erscheint sein Roman La Nausée (Der Ekel), mit dem Sartre schlagartig berühmt wird. 1939 wird er zum Militär eingezogen, gerät in deutsche Gefangenschaft, wird aber 1941 wieder freigelassen. 1943 veröffentlicht er sein erstes philosophisches Werk L’Être et le Néant (Das Sein und das Nichts), in dem er die totale Freiheit und Verantwortung des Menschen verkündet, und verfasst sein Theaterstück Huis clos (Geschlossene Gesellschaft). Für einige Monate ist er in der französischen Résistance gegen die deutsche Besatzung aktiv. Ab 1945 lässt er sich als freier Schriftsteller in Paris nieder. Er ist eine zentrale Figur der dortigen Intellektuellenszene und wird Herausgeber der politisch-literarischen Zeitschrift Les Temps modernes. Er lebt, arbeitet, schreibt und empfängt Gäste in den Pariser Straßencafés. 1952 tritt Sartre in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, verlässt sie aber aus Protest gegen die blutige Zerschlagung des Ungarnaufstands 1956 wieder. 1960 erscheint sein zweites philosophisches Hauptwerk: Critique de la raison dialectique (Kritik der dialektischen Vernunft). Als ihm 1964 der Nobelpreis für Literatur verliehen werden soll, lehnt Sartre die Auszeichnung ab, da er hiermit seine Unabhängigkeit gefährdet sieht. Der Autor, der schon lange ein Augenleiden hat, ist ab 1973 praktisch blind. Er stirbt am 15. April 1980 nach langer Krankheit in Paris. Seinem Sarg folgen 50 000 Menschen.

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    B. K. vor 10 Monaten
    Trotz der unübersichtlichen Struktur dieses Werkes wurde meinem Eindruck nach hier eine übersichtliche Zusammenfassung erstellt.