Boris Pasternak
Doktor Shiwago
Fischer Tb, 2011
Was ist drin?
Pasternaks vielschichtiges Zeitgemälde – noch besser als der Film.
- Liebesroman
- Realismus
Worum es geht
Eine Welt in der Schwebe
„Meine Philosophie, als Ganzes genommen, ist eher eine Neigung als eine Überzeugung.“ Diese Selbstauskunft Pasternaks sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man sich auf Doktor Shiwago einlässt, den einzigen Roman des wohl größten russischen Dichters der Moderne, sein Meisterwerk. Denn hier ist eine ganze Welt in der Schwebe, nichts entschieden, alles eher Energie als Materie: Die Charaktere des Romans – der Arzt und Dichter Juri Shiwago, seine Frau Tonja, seine Geliebte Lara, der Revolutionär Strelnikow, der Philosoph Wedenjapin – bleiben ohne Äußeres, Pasternak zeigt uns vielmehr die Welt durch ihre Sinne. Die Konflikte, die das Ganze unter Spannung setzen – Schicksal und Selbstbestimmung, Mensch und Gesellschaft, Wort und Tat – bleiben ungelöst. Dennoch bewahrt Pasternak, auf sehr eigene Weise, mit Doktor Shiwago das Erbe der großen russischen Romanciers, verschmilzt Historisches und Zeitloses.
Take-aways
- Doktor Shiwago ist der einzige Roman des russischen Dichters Boris Pasternak.
- Inhalt: Der verheiratete Arzt und Dichter Juri Shiwago verliebt sich an der Front im Ersten Weltkrieg in die Krankenschwester Lara Guichard, die ihrerseits auf der Suche nach ihrem tot geglaubten Ehemann ist. Dieser, ein in Ungnade gefallener Revolutionär, wird von den Kommunisten verfolgt; auch Lara muss fliehen. Erst nach Jahren kehrt sie nach Moskau zurück, wo ihr Geliebter, Shiwago, gerade zu Grabe getragen wird.
- Mit Doktor Shiwago setzte Pasternak die Tradition des russischen Realismus des 19. Jahrhunderts fort und schuf dennoch ein Werk von großer Originalität.
- Inmitten von Krieg, Not, revolutionären Wirren und allgemeiner Verrohung versucht Shiwago Künstler, Mensch und Liebender zu bleiben.
- Unter der Oberfläche der Handlung verbergen sich, symbolisch verschlüsselt, religiöse und mythische Motive sowie Pasternaks vitalistischer Weltentwurf.
- Pasternak arbeitete zehn Jahre an Doktor Shiwago und betrachtete sein gesamtes Schaffen bis dahin als bloße Vorbereitung zu dem Meisterwerk.
- Während der Sowjet-Ära weigerte sich Pasternak, mit seinen Werken zur Verherrlichung des Kommunismus beizutragen, und fiel beim Regime in Ungnade.
- Zum Unmut Moskaus nahm er das Angebot eines italienischen Verlagshauses an, das den Roman 1957 in italienischer Übersetzung herausgab.
- Ein Jahr später erhielt Pasternak den Nobelpreis für sein Lebenswerk zugesprochen, aber die Sowjet-Führung setzte ihm so lange zu, bis er den Preis ablehnte.
- Zitat: „Es war die Krankheit des Jahrhunderts, der revolutionäre Aberwitz der Epoche. In ihren Gedanken waren die Menschen anders als in ihren Worten und in ihren äußeren Erscheinungen. Niemand hatte ein reines Gewissen.“
Zusammenfassung
Shiwagos Kindheit
Jura Shiwagos Mutter stirbt, als er noch ein Kind ist. Seinen Vater hat er nie kennen gelernt: Der Großunternehmer Shiwago ist früh dem Alkohol verfallen, hat die Familie im Stich gelassen und sein Vermögen verschleudert. Nach dem Tod seiner Mutter nimmt deren Bruder, der revolutionäre Vordenker Wedenjapin, Jura zu sich und übt starken Einfluss auf die geistige Entwicklung des Jungen aus.
„Revolutionäre Wellen gingen über Russland hin, eine höher und unglaublicher als die andere.“ (S. 31)
Es herrschen unruhige Zeiten in Russland, revolutionäre Kräfte begehren auf. Auch der Streckenmeister Pawel Antipow gehört zu den Unzufriedenen. Wegen seiner Verwicklung in die jüngsten Moskauer Eisenbahnerstreiks gerät er ins Visier der Behörden und wird verhaftet. Sein Sohn Pawluscha kommt bei Nachbarn unter. Hier begegnet er der schönen Lara Guichard, der Tochter einer Schneidereibesitzerin. Der schüchterne Junge verliebt sich Hals über Kopf. Doch Lara ist anderweitig gebunden: Der Anwalt Komarowski, der Liebhaber ihrer Mutter, hat auch sie verführt. Lara ist dem wesentlich älteren Mann hörig, fühlt sich jedoch zugleich von ihm angewidert.
„Wie noch nie zuvor war ihm klar, dass die Kunst unaufhörlich mit zwei Dingen beschäftigt ist. Sie sinnt immerfort über den Tod nach und schafft dadurch immerfort Leben.“ (über Shiwago, S. 115)
Jura wächst im bildungsbürgerlichen Haushalt der Gromekos auf, wo ihn sein Onkel untergebracht hat. Hier trifft er auf Mischa Gordon, der ebenfalls bei den Gromekos wohnt. Jura, Mischa und Tonja, die Tochter des Hauses, sind ein Herz und eine Seele. Mischa wurde zufällig Zeuge des Suizids von Juras Vater: Der Bankrotteur reiste, in Begleitung eines Anwalts, mit dem Zug nach Moskau. Der Anwalt animierte Shiwago unablässig zum Trinken, obwohl der sich in einem Zustand seelischer Verwirrung befand. Schließlich stürzte sich der Unglückliche aus dem fahrenden Zug.
„In den Raum kamen, mit Stöcken und Knüppeln klappernd, Invaliden und gehfähige Patienten aus den Nebenzimmern gegangen, gelaufen und gehumpelt und schrien um die Wette: ,Höchst wichtige Ereignisse. Straßenunruhen in Petersburg. Die Truppen der Petersburger Garnison sind auf die Seite der Aufständischen übergegangen. Es ist Revolution.‘“ (S. 163)
Im Jahr 1906 findet bei den Gromekos ein Kammerkonzert statt. Mittendrin wird der Cellist von einem Boten ans Krankenbett einer Angehörigen abberufen. Der Hausherr begleitet ihn und nimmt auch Jura und Mischa mit. Wie sich herausstellt, geht es um Frau Guichard, die versucht hat, sich zu vergiften. Lara und Komarowski sind ebenfalls da, Jura beobachtet voller Abscheu das stille, sexuell aufgeladene Einvernehmen, das zwischen den beiden zu herrschen scheint. Mischa erkennt in Komarowski den Mann, der damals im Zug Juras Vater zum Trinken verführt hat.
Der Schuss
Lara wagt den Ausbruch aus der Abhängigkeit von Komarowski. Sie heuert bei den Eltern ihrer Schulfreundin Nadja als Erzieherin für Nadjas kleine Schwester Lipa an. Die wohlhabenden und freigeistigen Kologriwows nehmen Lara herzlich auf, schon bald gehört sie zur Familie. Doch eines Tages steht Laras Bruder Rodion vor der Tür und fordert Geld, um Spielschulden zu begleichen. Die Kologriwows leihen ihr das Geld, um ihrem Bruder aus der Patsche zu helfen. Lara nimmt Rodions Revolver an sich.
„Das Alltagsleben hinkte, zappelte, trottete nach alter Gewohnheit noch immer irgendwohin. Aber der Arzt sah das Leben ungeschminkt. Dass es aussichtslos war, konnte ihm nicht entgehen. Er hielt sich und sein Milieu für verurteilt. (...) Die gezählten Tage, die ihnen verblieben, schmolzen vor seinen Augen dahin.“ (über Shiwago, S. 230)
Die Jahre gehen ins Land. Lipa hat bald das Gymnasium hinter sich; damit endet Laras Dienst. Sie möchte weg, Pawluscha heiraten, ein neues Leben anfangen. Doch die Geldschuld bindet sie an die Kologriwows. Lara beschließt, Komarowski aufzusuchen, ihn um Geld zu bitten und sich so ihrer Verpflichtung zu entledigen. Zur Sicherheit nimmt sie Rodions Revolver mit. Sie findet Komarowski auf einer Weihnachtsgesellschaft. Dort feiern auch Jura und Tonja. Die beiden stehen kurz vor ihrem Examen. Jura wird Arzt, Tonja Juristin. Im Lauf des Abends kommt es zur Katastrophe: Lara schießt auf Komarowski, ohne dass jemand erfährt, warum, verfehlt ihn aber. Der Anwalt fürchtet den Skandal und setzt sich für Lara ein. Statt der Attentäterin zu zürnen, wird er von nun an erst recht zu ihrem Wohltäter. Lara und Pawluscha heiraten und kommen als Lehrer in Jurjatin unter, einer Provinzstadt im Ural. Bald kommt Töchterchen Katenka zur Welt. Doch Pawluscha ist mit dem Erreichten nicht zufrieden. Mit Feuereifer bildet er sich autodidaktisch weiter, verschlingt Buch um Buch. Zudem empfindet er die Beziehung zu Lara als einseitig. Während er aus vollem Herzen liebt, ist Lara, so meint er, nur aus Güte mit ihm zusammen. Das wurmt ihn so sehr, dass er alles hinschmeißt und zum Militär geht.
An der Front
Der Erste Weltkrieg bricht aus. In Pawluschas Regiment kämpft auch Jussup, den er seit Kindertagen kennt. Jussup wird Zeuge, wie Pawluscha bei einer Attacke getötet wird – zumindest glaubt er das. Tatsächlich ist Pawluscha in Gefangenschaft geraten. Jussup wird beauftragt, Pawluschas Habseligkeiten dessen Witwe zu überbringen. Doch der schwere Gang wird ihm erspart, denn Lara ist, nachdem keine Briefe mehr von Pawluscha kamen, selbst an die Front gereist, wo sie sich als Lazarettschwester nützlich macht. In dieser Funktion begegnet Jussup ihr durch Zufall, nachdem er aufgrund einer Verwundung hospitalisiert worden ist. Ein weiterer Zufall will es, dass im gleichen Zimmer der Lazarettarzt Doktor Shiwago liegt, ebenfalls verwundet. Shiwago, der jetzt Juri genannt wird, ist inzwischen mit Tonja verheiratet und hat mit ihr einen Sohn. Lara erkennt zunächst keinen der beiden Männer. Jussup stellt sich ihr vor und erfüllt seinen Auftrag. Shiwago zieht es vor, sich nicht zu erkennen zu geben. Bald kommen wichtige Neuigkeiten aus Petersburg: Die Revolution ist ausgebrochen. Einige Zeit später arbeitet Shiwago als Arzt im selben Lazarett, in dem er eben noch als Patient gelegen hat. Er und Lara kommen sich näher. Doch Shiwago bleibt Tonja treu. Um klare Verhältnisse zu schaffen, sucht er die Aussprache mit Lara, doch ihm fehlt der Mut zur Deutlichkeit. Statt zum Thema zu kommen, schwadroniert er über den historischen Augenblick, über die unverhoffte Freiheit, die dem russischen Volk durch die Revolution zuteilwerde.
Not und Krankheit
Kurz darauf trennen sich ihre Wege wieder; Lara kehrt nach Jurjatin zurück, Shiwago nach Moskau, wo ihn Tonja überglücklich empfängt. Zum ersten Mal sieht er nun seinen mittlerweile zweijährigen Sohn Saschenka. Die Gromekos haben das Untergeschoss ihres Hauses an die Moskauer Landwirtschaftsakademie abgetreten und sich ins Obergeschoss zurückgezogen. Es sind magere Jahre angebrochen. Lebensmittel und Brennholz aufzutreiben, wird immer schwieriger. Die politischen Verhältnisse sind unsicher. Zwar setzen sich die Bolschewisten schließlich durch, doch auch nach dem Sieg der Revolution kehrt keine Ruhe ein. Es ist der Beginn einer tief greifenden, gewalttätigen Umgestaltung der Gesellschaft. Wedenjapin weilt in Moskau. Shiwago teilt die Begeisterung seines Onkels für die Revolution. Im Krankenhaus jedoch, wo er jetzt arbeitet, steht er mit seinen differenzierten Ansichten zwischen Extremisten und Unpolitischen einsam da. Neben seiner Tätigkeit als Arzt beginnt Shiwago nun an einem Buch zu schreiben, in dem er die allgemeine Verwirrung und Selbstentfremdung der Epoche behandelt. Derweil nimmt die tägliche Not zu. Hunger, Kälte und Krankheit fordern ihren Tribut. Shiwago erkrankt an Typhus und schwebt zwei Wochen lang in Lebensgefahr.
Mit dem Zug nach Osten
Ein Bürgerkrieg bricht aus. Das gesellschaftliche Klima ist vom Klassenhass vergiftet, es ist die Stunde der Denunzianten. Die Menschen kämpfen mit allen Mitteln ums Überleben. Shiwago, Tonja und ihr Vater beschließen, Moskau zu verlassen und auf dem Land ihr Glück zu versuchen. Ihr Ziel ist das ehemalige Anwesen von Tonjas Großvater, seinerzeit Großgrundbesitzer und Fabrikant, bei Jurjatin. Die Zugfahrt dorthin gerät lang und mühsam, eine Reise durch die Realität, eine kalte Dusche für den idealistischen Shiwago. Personenwaggons gibt es nicht mehr, nur unbeheizte Güterwagen. Darin drängen sich Stadtflüchtige, Soldaten und Zwangsarbeiter. Bei einem Halt wird Shiwago vorübergehend verhaftet und dem berühmten Revolutionär Strelnikow vorgeführt. Shiwago ist von seiner Persönlichkeit beeindruckt. Die Verhaftung entpuppt sich als Missverständnis. Die Fahrt geht weiter, das Ziel wird endlich erreicht.
Landleben
Auf dem Gut Warykino leben die Shiwagos in aller Bescheidenheit. Alles, was sie wollen, ist ein Dach über dem Kopf und ein kleines Fleckchen Land, um sich selbst zu versorgen. Tonja wird erneut schwanger. Shiwago arbeitet am Haus und im Garten und nimmt ab und zu Patienten an. Immer mehr spürt er jedoch den Drang, sich schriftstellerisch auszudrücken. Eines Tages begegnet er in der Stadtbibliothek Lara, die in Jurjatin als Lehrerin tätig ist. Sie hat einiges zu erzählen: Jussup hat sich auf die Seite der Revolutionsgegner geschlagen und befehligt Truppen der „Weißen“. Durch den Kontakt zu ihm konnte Lara während der revolutionären Wirren vielen Menschen das Leben retten. Sie weiß außerdem, dass Pawluscha lebt. Unter dem Namen Strelnikow ist er zu einem der bedeutendsten Generäle der „Roten“ aufgestiegen. Er ist ganz in der neuen Rolle aufgegangen und hat seine frühere Identität vollständig ausgelöscht.
Bei den Partisanen
Lara und Shiwago beginnen eine Affäre. Doch Shiwagos Schuldgefühle gegenüber Tonja bringen ihn bald dazu, den Kontakt abzubrechen. Nur einmal noch will er Lara sehen. Er wird aber auf dem Weg zu ihr von „roten“ Partisanen festgenommen und als Feldarzt zwangsrekrutiert. Die nächsten zwei Jahre verbringt er in den Wäldern Sibiriens unter dem Kommando von Liweri Mikulizyn, einem fanatischen Bolschewisten. Der versucht ihn auf Linie zu bringen, doch Shiwago ist längst ernüchtert. Er sieht: Die Revolution hat kein Ziel außer sich selbst; was bisher als schmerzhafte, aber historisch notwendige Phase des Umbruchs erschien, ist zum Dauerzustand geworden. Eines Tages erfährt Shiwago, dass Warykino überfallen wurde. Nun hat er nur noch eins im Sinn: die Rückkehr nach Hause. Er wagt die Flucht und schlägt sich nach Jurjatin durch, wo er bei Lara Unterschlupf findet. Von ihr erfährt er, dass seine Familie lebt und wieder in Moskau ist. Tonja hat eine Tochter zur Welt gebracht.
Leben mit Lara
Es folgt eine Zeit glücklicher Zweisamkeit. Lara und Shiwago leben zusammen wie Mann und Frau. Doch sie wissen, dass ihr Glück flüchtig ist: Shiwagos Verbundenheit mit Tonja und Laras mit Pawluscha sind zu stark. Auch kommt Eifersucht ins Spiel. Lara erzählt von ihrer damaligen Hörigkeit gegenüber Komarowski. Shiwago spürt, dass diese immer noch besteht, und ahnt, dass er Lara an den Anwalt verlieren wird. Eines Tages steht dann Komarowski höchstpersönlich in der Tür und warnt Lara und Shiwago: Pawluscha sei bei den Kommunisten in Ungnade gefallen und nach Sibirien deportiert worden, und auch ihr, Lara, drohe die Verhaftung durch die Häscher des Revolutionstribunals. Komarowski will Lara retten. Er ist auf dem Weg in den fernen Osten, um dort mit der Billigung Moskaus eine unabhängige Republik zu gründen. Dorthin will er sie mitnehmen. Shiwago weigert sich. Sein Stolz verbietet ihm, sich von Komarowski helfen zu lassen. Stattdessen beschließen er und Lara, für eine Weile abzutauchen.
„Das alte Leben und die junge Ordnung deckten sich noch nicht.“ (S. 245)
Sie übersiedeln erneut ins abgeschiedene Warykino, um noch einmal ganz ihre Liebe leben zu können. Der Plan geht nicht auf: Statt die Romantik zu genießen, ist Lara von der ungewohnten Freiheit verwirrt. Es zieht sie fort. Abermals taucht Komarowski auf und bietet den beiden an, sie in Sicherheit zu bringen. Wieder weist Shiwago ihn ab, doch um Laras willen, die sich weigert, ohne ihn zu fahren, lässt er sich zum Schein auf das Angebot ein. Lara fährt mit Komarowski ab, Shiwago gibt vor, nachkommen zu wollen, bleibt aber zurück. Die Trennung erschüttert ihn tief. Voller Schmerz und Trauer stürzt er sich ins Schreiben.
Zurück in Moskau
Shiwago hat sich zu Fuß nach Moskau durchgeschlagen. Seine Familie lebt im Pariser Exil. Er ist jetzt ganz Schriftsteller und veröffentlicht im Eigenverlag ein paar Bücher. Doch zugleich kommt er zusehends herunter und haust in einer Bruchbude, die ihm Markel, der ehemalige Hausmeister der Gromekos, zuweist. Die Jahre vergehen. Markels Tochter Marina verliebt sich in Shiwago. Die beiden leben in wilder Ehe, bekommen sogar zwei Kinder. Etliche seiner Freunde aus früheren Zeiten wohnen in der Nähe, doch Shiwago fühlt sich in ihrem Kreis nicht mehr wohl, ihr zeitgeistiges Gerede ekelt ihn an. Sein Halbbruder Jewgraf ist es, der seinen Niedergang vorübergehend aufhält, indem er ihm eine Wohnung und Arbeit im Krankenhaus besorgt. An seinem ersten Arbeitstag, auf dem Weg ins Krankenhaus, wird er durch einen Herzinfarkt niedergestreckt; er stirbt auf dem Trottoir. Sein Leichnam wird in der neuen Wohnung aufgebahrt. Mitten in die Trauerfeier platzt Lara. Der Zufall hat sie hergebracht. Gerade mit dem Zug in Moskau angekommen, ist sie ziellos durch die Straßen geschlendert und stand plötzlich vor dem Haus, in dem Pawluscha einst seine Studentenbude hatte. Es ist das Haus, in dem nun ihr toter Geliebter liegt. Der Schmerz überwältigt sie. Noch lange, nachdem die übrigen Trauergäste fort sind, verharrt sie bei Shiwago und nimmt Abschied. Dann wird der Sarg weggebracht. Jewgraf bittet Lara, noch etwas zu bleiben und ihm bei der Aufarbeitung des literarischen Nachlasses des Verstorbenen zu helfen. Sie sagt zu. Doch eines Tages ist Lara plötzlich weg, vermutlich deportiert.
Zum Text
Aufbau und Stil
Einen „Roman in Prosa“ hat Pasternak seinen Doktor Shiwago genannt, in Anspielung auf ein Schlüsselwerk der literarischen Moderne in Russland: Eugen Onegin, Puschkins „Roman in Versen“. Doch dem Romangenre kann Doktor Shiwago nur sehr bedingt zugeordnet werden, und auch mit dem Prosabegriff des Vollblut-Lyrikers Pasternak hat es eine eigene Bewandtnis. Doktor Shiwago ist in zwei Bücher gegliedert, die wiederum aus sieben bzw. zehn Abschnitten bestehen. 16 dieser Abschnitte sind tatsächlich in Prosa verfasst. Die Handlung ist komplex und voller sich kreuzender Linien, ohne aber sonderlich präzise ausgearbeitet zu sein. Vielmehr verschwimmen die zeitlichen, räumlichen und ursächlichen Zusammenhänge und selbst die Grenzen zwischen den Charakteren oft in den Wellen einer lyrischen Unterströmung, die bisweilen in regelrechten Prosagedichten voller Metaphorik zutage tritt. Der 17. Abschnitt endlich ist es, in dem diese Strömung vollends hervorbricht und zu eigenem Recht gelangt: Hier sind 25 Gedichte versammelt, die der Hand Juri Shiwagos zugeschrieben werden und in denen Motive des Romans noch einmal aufgenommen und in ihrer Essenz dargestellt werden. Pasternaks Stil in Doktor Shiwago wird gern als betont einfach beschrieben; das trifft allerdings nicht auf den gesamten Text zu, besonders die wiederholt eingestreuten philosophischen Passagen haben es durchaus in sich.
Interpretationsansätze
- Juri Shiwagos Ansichten zur Russischen Revolution spiegeln Pasternaks eigene Auffassung: Wie sein Romanheld fasste auch der Autor die Revolution anfänglich in religiösen Kategorien auf, als spirituelle Befreiung des russischen Volks. Entsprechend erschienen ihm die Gräuel des Bürgerkriegs und der Kollektivierung als unumgängliche Hürden auf dem Weg zur Erlösung.
- Ohne ein ausdrücklich antisowjetisches Buch zu sein, ist Doktor Shiwago gleichsam eine Hymne an den Nonkonformismus. Dem kommunistischen Gemeinschaftsideal stellt Pasternak die innere Unabhängigkeit des Einzelnen entgegen.
- Doktor Shiwago lässt sich auch als Schwanengesang auf die bürgerliche Hochkultur des 19. Jahrhunderts lesen, die der Diktatur des Proletariats weichen musste.
- Obwohl Pasternak mit Doktor Shiwago die literarische Tradition des russischen Realismus (Tolstoi, Dostojewski usw.) fortzuführen scheint, ist der Roman tatsächlich eher dem Symbolismus zuzuordnen. Die dargestellte Wirklichkeit hat hier vor allem Zeichenfunktion und verweist auf darunterliegende mythisch-religiöse Bedeutungen.
- Besonders stark ist das Motiv der Wiederauferstehung. Es begegnet dem Leser in der Genesung Shiwagos von der Typhuserkrankung, in seiner Flucht aus der Gefangenschaft in den Wäldern Sibiriens oder im Wiedererscheinen des tot geglaubten Pawluscha als Revolutionär Strelnikow.
- In diesem Motiv wiederum ist der eigentliche Gehalt des Romans verschlüsselt: ein vitalistischer Weltentwurf, in dem sich eine unerschöpfliche, göttliche Lebenskraft im Werden und Vergehen der Erscheinungen ausdrückt. Auf diesen Zusammenhang verweist auch der Name des Romanhelden: „Shiwoj“ heißt auf Russisch „lebendig“.
Historischer Hintergrund
Vom Regen in die Traufe
Reformstau lähmte das russische Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und behinderte den Übergang zu einer modernen Industriegesellschaft. Ein elitärer Staatsapparat ohne Verwurzelung im Volk stand Problemen wie Landflucht und Massenelend machtlos gegenüber. Die hungernde Bevölkerung half sich schließlich selbst und erhob sich 1905 gegen den Zaren. Der gab dem Druck der Straße scheinbar nach und versprach Reformen, doch letztlich blieb alles beim Alten. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschärfte sich die Lage noch. Die Bevölkerung litt unter Lebensmittelknappheit und Inflation. Wieder erhob sie sich, vielerorts schlossen sich Soldaten an.
Im März 1917 kam es zur Revolution, der Zar musste abdanken, eine provisorische Regierung wurde eingesetzt. Doch auch die zeigte sich den Problemen nicht gewachsen, und so schlug die Stunde der radikal-kommunistischen Bolschewiki, deren Führer Lenin im November 1917 nach einem Putsch die Diktatur des Proletariats ausrief: Industrie, Handel und Landwirtschaft wurden verstaatlicht, die Lebensmittelversorgung zentralisiert, was die Not der Bevölkerung jedoch immens vermehrte. Lenin machte dafür die gebildeten Schichten, wohlhabende Bauern und konterrevolutionäre Zaristen verantwortlich. Im Kampf gegen diese „Klassenfeinde“ entfesselten die Bolschewiki einen Bürgerkrieg, der bis 1921 tobte und dem viele Millionen Menschen zum Opfer fielen. Während eine vorübergehende Duldung freien Handels im Rahmen der „Neuen Ökonomischen Politik“ bald etwas wirtschaftliche Erleichterung brachte, hatte die sittliche Verrohung im Zuge des Klassenkampfs den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig beeinträchtigt.
Entstehung
Doktor Shiwago ist ein wirkliches Lebenswerk. Spätestens ab 1918 trug Pasternak den Plan zu einem großen Prosawerk mit sich herum. Die Entwicklungslinien etlicher Motive, Charaktere und Situationen des Romans lassen sich bis in seine Schriften der frühen 1920er Jahre zurückverfolgen. Pasternak selbst sah rückblickend sein gesamtes Frühwerk als bloße Vorarbeit zu Doktor Shiwago. Erst 1945 waren jedoch die Bedingungen für die Niederschrift gegeben: die mit dem Kriegsende verbundene Hoffnung auf Lockerung der Zensur sowie eine gewisse historische Distanz zu den politischen Ereignissen, die den Hintergrund des Romans bilden. Außerdem war Pasternaks Stil erst jetzt zu jener Schlichtheit gereift, nach der der Autor immer gestrebt hatte. Obwohl die Zeichen, die Entspannung verheißen hatten, sich als trügerisch erwiesen und im Gegenteil eine Periode schärfster Repressionen gegen die sowjetische Intelligenzija folgte, stellte Pasternak die erste Hälfte des Romans 1948 fertig. Als Gerüchte um eine Nobelpreisnominierung Pasternaks aufkamen, reagierte Moskau verstimmt, denn dadurch sanken die Chancen des linientreuen Autors Michail Scholochow auf den Preis. Um aus Pasternak keinen Märtyrer zu machen, entschied man sich für indirekte Repression und verurteilte seine Geliebte Olga Iwinskaja zu fünf Jahren Straflager. Pasternak ließ sich nicht einschüchtern und schrieb umso eifriger. Nach Stalins Tod 1953 nahm der Druck auf den Schriftsteller kurzzeitig ab; eine Auswahl der Gedichte aus Doktor Shiwago, nebst einem Exposé des Romans, durfte im Frühjahr 1954 in der Zeitschrift Snamja erscheinen. Ende 1955 stellte Pasternak sein Meisterwerk fertig.
Wirkungsgeschichte
Pasternak sah die scheinbare Liberalisierung in Russland skeptisch. Als er im Mai 1956 von einem Agenten des Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli aufgesucht wurde, um über die Möglichkeit einer Veröffentlichung des Romans in italienischer Übersetzung zu verhandeln, sagte er kurzerhand zu. Wenig später erhielt er, gleichsam als nachträgliche Rechtfertigung seiner Entscheidung, ein Ablehnungsschreiben der Zeitschrift Novyj Mir. Diesem Blatt hatte Pasternak Doktor Shiwago noch im Winter 1955 angeboten. Olga Ivinskaja, die inzwischen aus der Lagerhaft entlassen worden war und nun als Pasternaks Agentin auftrat, wandte sich an das Zentralkomitee und erwirkte tatsächlich einen Stimmungswandel: Der Staatsverlag Goslitisdat wurde angewiesen, den Roman zu drucken. Da aber Feltrinelli nicht gewillt war, auf seine Rechte zu verzichten, entstand eine missliche Situation.
Zudem war die politische Lage instabil: Gegen Ende 1956 hatten konservative Kräfte wieder die Oberhand gewonnen, womit erstens die Veröffentlichung in der Sowjetunion in weite Ferne rückte und zweitens die Erstveröffentlichung im kapitalistischen Ausland vom Regime als schwerer Gesichtsverlust empfunden wurde. Die verzweifelten Versuche Moskaus, das Erscheinen des Romans doch noch zu verhindern, rückten das Geschehen umso mehr in den Fokus der Weltöffentlichkeit, wodurch Pasternaks Popularität im Westen rasant zunahm. Feltrinellis Startauflage von 6000 Exemplaren war bereits am Erscheinungstag ausverkauft. Übersetzungen in weitere Sprachen folgten rasch. Die Hollywoodverfilmung des Stoffs wurde mit fünf Oscars ausgezeichnet. In der Sowjetunion gingen illegale Kopien des Romans von Hand zu Hand. Erst 1988 durfte Doktor Shiwago in Pasternaks Heimat erscheinen. Heute ist das Buch Pflichtlektüre an russischen Schulen.
Über den Autor
Boris Pasternak wird am 10. Februar 1890 in Moskau geboren. Seine Mutter ist Pianistin, der Vater Maler und Professor für Kunst. Auch für Boris scheint eine künstlerische Laufbahn vorgezeichnet. Nachdem er sich zunächst auf den Spuren Alexander Skrjabins als Komponist versucht hat, fühlt er sich immer mehr von der Welt der Worte und Gedanken angezogen und beginnt, Philosophie zu studieren. Doch bald wird klar: Seine eigentliche Berufung ist die Dichtkunst. 1914 debütiert er mit der Gedichtsammlung Zwilling in Wolken. Mit Meine Schwester, das Leben gelingt ihm 1922 der Durchbruch. Zwar nimmt Pasternak Einflüsse zeitgenössischer lyrischer Strömungen wie Futurismus und Symbolismus auf, verarbeitet sie jedoch zu eigenständigen Werken von hoher Originalität. Wie viele Intellektuelle begrüßt er 1917 die Revolution. Als Vertreter der „alten“ Intelligenzija wird er jedoch bald angefeindet, zumal er sich beharrlich weigert, seine Kunst in den Dienst der Sowjet-Ideologie zu stellen. Noch darf er aber veröffentlichen. Mit der autobiografischen Skizze Geleitbrief etabliert sich Pasternak 1931 als Autor von Weltformat. Doch der Druck nimmt zu; Pasternak lebt in der ständigen Angst, verhaftet zu werden. 1945 beginnt er Doktor Shiwago, seinen einzigen Roman, an dem er zehn Jahre lang arbeitet. Da er nicht an eine Veröffentlichung in der Heimat glaubt, nimmt Pasternak das Angebot eines italienischen Verlags an. Doktor Shiwago erscheint 1957. Ein Jahr später bekommt Pasternak den Nobelpreis für sein Lebenswerk zugesprochen, lehnt jedoch ab, da ihm das Regime mit Ausweisung droht. Er darf bleiben, wird aber geächtet. Am 30. Mai 1960 stirbt Boris Pasternak an Lungenkrebs.
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