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Ein Doppelgänger

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Ein Doppelgänger

Insel Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Storms meisterhafte Komposition aus Sozialkritik und Idylle.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Realismus

Worum es geht

Ein modernes Drama

Der oft als ländlicher Heimatdichter unterschätzte Theodor Storm nahm sich in dieser späten Novelle erstmals eines gegenwartsbezogenen und für die damalige Zeit besonders heiklen Stoffes an: der grassierenden Verarmung und Proletarisierung der Landbevölkerung im Zuge der Industrialisierung. Mit nüchternem Realismus beschreibt Storm in Ein Doppelgänger das bittere Schicksal des Arbeiters John Hansen, der durch eigene Schuld, aber auch durch soziale Ächtung Stück für Stück aus der Gesellschaft fällt und immer tiefer in eine Spirale aus Armut und Gewalt gerät. Bezeichnenderweise besiegelt ein Brunnen – Storms Arbeitstitel für die Novelle – sein Ende, nachdem er im Streit seine Frau getötet und allen Rückhalt in seiner kleinen Heimatstadt verloren hat. Die starke Sozialkritik, die Thematisierung familiärer Gewalt sowie Storms pessimistische Darstellung der Macht der Gesellschaft über den Einzelnen verleihen diesem packenden Drama zeitlose Brisanz.

Take-aways

  • Ein Doppelgänger ist das erste Werk Theodor Storms mit sozialkritischem Zeitbezug.
  • Inhalt: Angeregt durch eine zufällige Bekanntschaft erinnert sich ein Advokat an das bittere Schicksal des John Hansen: Der wegen einer Gefängnisstrafe Geächtete lebte verarmt mit Frau und Kind. Streit und Gewalt prägten die Ehe, schließlich tötete er seine Frau im Affekt. Aufopferungsvoll kümmerte er sich um seine Tochter und starb unglücklich beim Sturz in einen Brunnen.
  • Die Novelle besteht aus einer idyllischen Rahmenhandlung und der realistisch erzählten Geschichte des John Hansen.
  • Hintergrund ist die Verelendung der Landarbeiter zur Zeit der Industrialisierung.
  • Ein zentrales Thema ist die Macht der Gesellschaft über den Einzelnen.
  • Ebenso brisant und ungebrochen aktuell ist die Behandlung des Themas familiäre Gewalt.
  • Der namenlose Erzähler, ein norddeutscher Advokat mit Hang zur Poesie, erinnert stark an Storm selbst.
  • Die Novelle erschien 1886 und sollte ursprünglich Der Brunnen heißen.
  • Sie entstand in Storms letzter Schaffensphase und zeigt die Meisterschaft, die Storm in diesem Genre erlangt hatte.
  • Zitat: „,Nachdem dieser John von Rechtes wegen seine Strafe abgebüßt hatte, wurde er, wie gebräuchlich, der lieben Mitwelt zur Hetzjagd überlassen. Und sie hat ihn nun auch zu Tode gehetzt; denn sie ist ohn Erbarmen.‘“

Zusammenfassung

Der Oberförster von Jena

Eines Sommers in Jena quartiert sich ein Advokat in der Gastwirtschaft zum Bären ein. In der Gaststube lernt er zufällig den Oberförster Franz Adolf kennen, einen freundlichen und ausgeglichenen Menschen. Zwischen den Männern entspinnt sich eine Unterhaltung. Als der Oberförster abends aufbrechen muss, beschließen sie, ihre Bekanntschaft zu vertiefen. Vor allem Franz Adolf drängt förmlich darauf, den neuen Freund in seiner Försterei für einige Tage bewirten zu dürfen. Der Besuch wird gleich für den nächsten Tag festgesetzt.

„(…) es ist seltsam, aber es kommt mir immer wieder: mir ist oftmals, als hätt ich vorher, bei Lebzeiten meiner Mutter, einen anderen Vater gehabt (…)“ (Christine, S. 18 f.)

Als der Oberförster nach Hause gegangen ist, tritt der Wirt zu seinem Gast: Er habe sich schon gedacht, dass sich die beiden gut verstehen würden. Auf die Nachfrage des Advokaten erklärt er ihm, dass die Frau des Oberförsters aus derselben Stadt stamme wie der Besucher. Das wundert den Advokaten, denn keine seiner Kindheitskameradinnen ist so weit in den Süden gezogen. Leider weiß der Wirt auch nichts Genaueres, nur, dass die Frau Oberförster bereits mit acht Jahren hierhergezogen sei.

Der Besuch in der Oberförsterei

Am nächsten Morgen erreicht der Advokat nach einer etwas mehr als einstündigen Wanderung die im Wald gelegene Oberförsterei. Franz Adolf und seine Frau Christine bereiten ihm einen warmen Empfang. Als er sich allerdings vorstellt, zuckt Christine kurz zusammen. Während des weiteren Gesprächs versucht er unauffällig, bekannte Züge im Gesicht der Gastgeberin zu entdecken – ohne Ergebnis. Nach einem Spaziergang mit Franz Adolf zieht er sich schließlich in sein Zimmer zurück und schläft ein.

„Eine kräftige Männerstimme fluchte und schalt in sich überstürzenden Worten; dröhnende Schläge, das Zerschellen von Gefäßen wurde hörbar; dazwischen, kaum vernehmbar, das Wimmern einer Frauenstimme, doch nie ein Hülferuf.“ (S. 25)

Beim Aufwachen findet er sich allein mit Christine wieder. Der Oberförster musste geschäftlich weg. Also beschließen die beiden, zum Plaudern in den Wald zu schlendern. Relativ schnell spricht der Gast seine Geburtsstadt an, woraufhin der Försterfrau Tränen in die Augen treten. Der Advokat entschuldigt sich, er habe sie selbstverständlich nicht verletzen wollen, aber er sei äußerst verwundert: Alle Familien seiner Heimatstadt sind ihm bekannt, trotzdem kennt er Christine nicht. Das sei nicht verwunderlich, antwortet sie, denn sie sei die Tochter des Arbeiters John Hansen. Ihre Mutter starb, als sie drei Jahre alt war, und ihr Vater, von dem sie sehr positiv spricht, als sie acht war.

„(…) es tut mir leid um diesen Menschen: das Glück in seinen Armen mag echt genug sein, ihm wird es nichts nützen; denn in seinem tiefsten Innern brütet er über einem Rätsel (…): Wie find ich meine verspielte Ehre wieder?“ (der Bürgermeister, S. 38 f.)

Nach einigem Schweigen vertraut sie dem Advokaten an, dass sie oft das Gefühl habe, zwei Väter gehabt zu haben. Aus der Zeit vor dem Tod ihrer Mutter glaubt sie sich unscharf an einen brutalen Wüterich erinnern zu können, der seine Familie schlug. Doch aus ihrer späteren Kindheit kann sie sich ganz deutlich an einen liebevollen, fürsorglichen Vater erinnern. Vielleicht bildet sie sich die gewalttätige Version nur ein? Jedenfalls, erzählt sie weiter, wurde sie nach dem Tod des Vaters von den Eltern ihres jetzigen Mannes adoptiert, den besten Pflegeeltern, die man sich wünschen könne.

„Immer feindlicher stand ihm die Welt entgegen; wo er ihrer bedurfte, wo er sie ansprach, immer hörte er den Vorwurf seiner jungen Schande als die Antwort (…)“ (über John Hansen, S. 45)

Völlig unbemerkt hat Franz Adolf die beiden eingeholt. Christine bleibt im Wald zurück, um Blumen für einen Kranz zu pflücken. Die Männer machen sich auf den Rückweg. Dabei bittet der Förster seinen Gast um ein Versprechen: Er habe, als er sie einholte, einige Gesprächsfetzen gehört und will nicht, dass sie weiter über die gemeinsame Vergangenheit sprechen. Christine soll keine weiteren Informationen über ihren Vater erhalten, damit sie ihre Verehrung für ihn nicht verliert. Sie weiß nämlich nicht, dass dieser als Jugendlicher im Zuchthaus gesessen hat und seither John Glückstadt genannt wurde. Auch sei der Vater tatsächlich ein Scheusal gewesen.

John Glückstadt

Der Bitte des Oberförsters nachzukommen, fällt dem Advokaten umso leichter, als ihm der Name John Hansen ohnehin nichts sagt. Doch am Abend desselben Tages, als er sich zum Schlafen in sein Zimmer zurückzieht, fällt ihm plötzlich doch eine armselige Hütte in den Feldern außerhalb seiner Heimatsstadt ein. Er erinnert sich daran, als Kind oft an dieser Hütte vorbeigekommen zu sein. Und daran, dass manchmal lautes Gebrüll von drinnen zu hören war. Manchmal blieben Passanten besorgt stehen und lauschten. Eines Tages trat ein junger, dunkelhaariger Mann vor die Tür und verjagte die Umstehenden. Da hat er ihn gesehen: John Glückstadt, den ehemaligen John Hansen.

„,Ich weiß es nun, ich tauge nicht, ich bin doch wieder schlecht gegen dich!‘ ‚Du nicht! du nicht, John!‘ rief sie, ‚ich bin die Böse, ich reizʼ dich, ich zerrʼ an dir herum!‘“ (John und Hanna, S. 52)

John Hansen war ein kräftiger junger Mann, voller Tatendrang. Nachdem er seinen Militärdienst absolviert hatte, suchte er eine Anstellung in der Stadt, irgendetwas, in das er seine überbordende Energie lenken konnte. Doch außer einer kleinen Absteige, einer Kellerwirtschaft, fand er nichts, mit dem er sich über Wasser halten konnte. Er lernte allerlei zwielichtige Gestalten kennen – Trinker, Tagelöhner, Tunichtgute. Einer dieser Ganoven, Wenzel, schwärmte ihm immer wieder von halsbrecherischen Gaunergeschichten vor, die immer gut ausgegangen waren und letztlich nur Spaß gemacht hatten. Das machte John neugierig. Aus Langeweile wollte er auch so einen Nervenkitzel erleben. Kurz darauf begingen sie einen brutalen Einbruchdiebstahl, wurden aber erwischt. John erhielt sechs Jahre Zuchthaus und legte sich anschließend seinen neuen Namen zu.

Familienglück mit Hanna

John Hansen kam mit ebenso gutem Zeugnis aus dem Gefängnis wie zuvor vom Militär. Doch er war verbittert und wütend. Anstellen wollte ihn nun erst recht niemand. Nach langer Suche erhielt er eine Stellung als Aufseher über die Arbeiterinnen auf einem Zichorienacker weit außerhalb der Stadt. Er machte seine Sache gut. Eine der Arbeiterinnen, die 17-jährige Hanna, ein ehemaliges Bettelmädchen, machte ihm schöne Augen. Die älteren Frauen zogen sie deshalb auf. Eines Tages wehrte Hanna sich und wurde daraufhin von einer der Alten mit der Unkrauthacke gejagt, auf einen alten Brunnen zu. Sie flüchtete sich zu John, worauf ihre Verfolgerin das Weite suchte. In diesem kurzen Moment der Zweisamkeit hielt John um ihre Hand an. Zu seiner großen Freude sagte Hanna Ja. Das Einzige, was John nun noch beunruhigte, war der verfallene Brunnen. Aus Angst, seine Geliebte könnte hineinfallen, ließ er ihn zunageln.

„(…) endlich, mit jenem Aufschrei vollsten Kinderglückes, flog sie dem von der Arbeit (…) heimkehrenden Vater in die ausgebreiteten Arme. Dann trug er seinen kleinen Trost (…) nach seiner Wohnung, wo schon die Alte mit ihren munteren Augen an der Türe harrte.“ (über John und Christine, S. 64)

Im September wurde das „Zichorienbier“ gefeiert. Der Bürgermeister beobachtete die feiernden Arbeiter, insbesondere das glückliche junge Paar Hansen. Selbst das Liebesglück, prophezeite er, werde Johns Brüten nicht beenden. Der Verlust seiner Ehre nage an ihm und er sei unfähig, diese Kränkung zu heilen.

„(…) er wollte rasch nach Haus, zu seinem Kinde. Da war etwas vor seinen Füßen, er kam ins Straucheln, und eh er sich besonnen, tat er einen neuen Schritt; aber sein Fuß fand keinen Boden – – ein gellender Schrei fuhr durch die Finsternis; dann war’s, als ob die Erde ihn verschluckt habe.“ (über John, S. 84)

Das Paar zog zu Hannas Mutter, in eine kleine Kate vor der Stadt. John arbeitete gut und fleißig, wurde aber wegen seiner Vergangenheit weiterhin von allen gemieden. So ließ sich, als Hanna einige Monate später in den Wehen lag, die Hebamme absichtlich und aus Verachtung übermäßig viel Zeit, bis sie zu Hilfe kam. Diese Feindlichkeit der Welt erhöhte Johns Kränkung und trug dazu bei, dass das Glück der jungen Familie langsam zerbrach. Immer häufiger kam es zu Streitereien und immer schärfer wurde der Ton zwischen den Eheleuten. Eines Abends schlug John seine Frau im Streit. Sie flüchtete aus dem Haus, die anderthalbjährige Tochter Christine schrie, und John bat seine Frau weinend und voller Reue um Verzeihung. Ähnliches geschah immer öfter. Auf lautstarken und handfesten Streit folgten stets Versöhnung, Liebesschwüre und Johns Beteuerung, niemals wieder Hand an Hanna oder das Kind zu legen.

Hannas Tod

Als die Kleine drei Jahre alt war, starb Hannas Mutter. Ihr Begräbnis stürzte die Familie in Schulden, auch weil Arbeit immer seltener wurde, seit Johns einstiger Arbeitgeber ebenfalls verstorben war. Die Geldsorgen plagten die junge Familie und waren häufig Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Als Hanna eines Tages John an den Kopf warf, er könne ihr doch das Spinnen beibringen, dass er sechs Jahre so trefflich gelernt habe, sah er erneut rot und warf sie im Zorn gegen den Ofen. Dabei drang ein Eisenstift in ihren Schädel und Hanna starb – vor den Augen der Tochter – blutüberströmt in den Armen Johns. Das Begräbnis hielt er allein ab, lediglich ein Nachbar, der ihm den Sarg zimmerte, gab Hanna das letzte Geleit.

„,Nachdem dieser John von Rechtes wegen seine Strafe abgebüßt hatte, wurde er, wie gebräuchlich, der lieben Mitwelt zur Hetzjagd überlassen. Und sie hat ihn nun auch zu Tode gehetzt; denn sie ist ohn Erbarmen.‘“ (der Bürgermeister, S. 86)

Bald danach kam Küster-Mariken vorbei, eine Bettlerin. John kannte sie gut. Sie war ihres Alters wegen ohne Arbeit, aber stets sauber und ehrbar, und erhielt von ihren ehemaligen Arbeitgebern weiterhin das nötige Essen. Sie bat John um Unterkunft: Sie könne die Stube sauber halten und auf das Kind aufpassen, während John arbeite. Auch wenn John Verachtung für ihr Betteln empfand, nahm er sie bei sich auf, und die drei richteten sich in ihrem neuen Alltag ein. Mariken kümmerte sich um die kleine Christine, erzählte ihr Geschichten und brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Auch die Leute hatten etwas Mitleid mit dem kleinen Mädchen, und das verhalf John nach und nach wieder zu mehr Arbeit. Er konnte den Sarg seiner Frau abbezahlen und Christine kleinere Geschenke machen. Doch die Erinnerung an Hanna schmerzte ihn und seine Tochter weiterhin.

Das Ende des John Glückstadt

Ein außergewöhnlich kalter Winter brach herein. Die drei froren fürchterlich. Als Christine kurz vor Weihnachten fragte, ob es nicht wenigstens am Heiligabend etwas wärmer sein dürfte, beschloss John nach langem Gewissenskampf, den Brunnenverschlag an seiner alten Arbeitsstätte abzureißen und zu verfeuern, damit sie es wenigstens einen Tag lang warm hätten.

„,(…) das Bild des John Glückstadt trägt nun einen vollen Rosenkranz; seine Tochter hat jetzt mehr an ihm, nicht nur den Vater, sondern einen ganzen Menschen.‘“ (der Oberförster, S. 93)

Endlich kam der Frühling – und mit ihm kam ein alter Bekannter von John in die Stadt zurück: Wenzel. Er war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden und suchte den Kontakt zu John. Der tat sein Bestes, um ihm aus dem Weg zu gehen, und lehnte seine Bitte ab, sich bei John einmieten zu dürfen. Doch es reichte, dass man die beiden zusammen auf der Straße sah. Als Wenzel von einem Gendarmen auf die Wache geführt wurde, da er sich bei der Stadtverwaltung nicht gemeldet hatte, berichtete der Beamte sofort, dass es verdächtig sei, dass John sich mit Wenzel treffe. Der Bürgermeister wies diesen Verdacht zwar zurück, doch beleidigt über diese Zurückweisung streute der Gendarm trotzdem das Gerücht, Wenzel und John würden erneut teuflische Pläne aushecken. Während Wenzel die Stadt bald wieder verließ, fielen die Konsequenzen dieses Geredes auf John zurück. Wieder bekam er den ganzen Sommer über keine Arbeit. Im Spätsommer fragte er aus Verzweiflung seine Tochter, ob sie nicht betteln gehen könne. Doch sie erschrak über diesen Vorschlag so sehr, dass John seine Bitte schnell zurücknahm.

Geplagt vom Hunger stahl sich John in tiefster Nacht auf einen nahen Acker und füllte einen Sack mit Kartoffeln. Nur ein einziges Mal sollten seine Tochter und er sich satt essen können. Dann zog ein Gewitter auf und er eilte nach Hause. Doch die Nacht war so schwarz, dass er kaum etwas sah. Plötzlich trat er ins Leere – und wurde nie mehr gesehen. Johns plötzliche Abwesenheit überraschte die Stadt keineswegs. Man munkelte, er habe sich umgebracht oder sei mit Wenzel fortgezogen.

Die Auflösung des Doppelgängers

Mitten in der Nacht erwacht der Advokat erschüttert aus seiner Vision. Nun weiß er, was mit John Hansen passiert ist! Er erinnert sich, dass ein Freund damals, in seiner Kindheit, eines Tages berichtet hatte, es würde in der Nähe des Brunnens spuken: Jemand habe seinen Namen, Christian, gerufen. Nun weiß er aber, dass es in Wirklichkeit der verunglückte John war, der mit letzter Kraft nach seiner Tochter Christine gerufen hatte. Auch erinnert er sich an den Bericht eines Arbeiters, dass am Brunnen einmal fast ein Falke gefangen worden sei, weil der Vogel ständig in die Tiefe des Brunnens hinab wollte.

Am nächsten Morgen ist der Advokat kurz allein in der Gaststube und entdeckt an der Wand das Porträt eines jungen Soldaten, der voller Tatendrang in die Kamera blickt. Das muss John Hansen sein. Der Mann, an den sich Christine als ihren guten Vater erinnert und der hier noch nicht vom Unglück und der Schuld seines Doppelgängers, John Glückstadt, überschattet ist. Nach einem schönen Tag zu dritt erzählt der Gast schließlich Franz Adolf, welche Erinnerungen ihm letzte Nacht gekommen sind. Sein Gastgeber tut dies zunächst als Fantasie ab, doch bald nach der Abreise schreibt er seinem Gast einen Brief, in dem er mitteilt, dass er noch am selben Abend alles seiner Ehefrau erzählt habe. Er wollte seiner geliebten Frau nichts verheimlichen und ihr die Möglichkeit geben, ihren ganzen Vater, so wie er war, kennenzulernen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Novelle Ein Doppelgänger besteht aus zwei Handlungssträngen, die beide von einem namenlosen Ich-Erzähler wiedergegeben werden. Der erste schildert die Freundschaft zwischen dem Oberförsterehepaar und dem Erzähler, die während des Besuchs des Letzteren in Jena zustande kommt. In der erzählten Gegenwart steht der Erzähler kurz vor seinem zweiten Besuch bei dem Ehepaar. Dieser Handlungsstrang bildet den Rahmen für die Geschichte des John Hansen, Christines Vater, die als Kindheitserinnerung des Erzählers dargestellt wird und den inhaltlichen Kern der Novelle ausmacht. Storm arbeitet diesen Stoff sehr straff und prägnant aus. Die Handlungen werden stets konzentriert beschrieben und auf die Darstellung eines zugrunde liegenden Konflikts hin fokussiert. Dies entspricht Storms Vorstellungen von einer guten Novelle, die eine der strengsten Formen der Prosa sei und nur das Wesentliche wiederzugeben habe. Ebenso dominant ist der dramatische Charakter der Novelle, der durch lebendige Dialoge und psychologisierende Stimmungsbilder noch erhöht wird. Trotz einiger sprachlicher Anachronismen und verstreutem norddeutschen Lokalkolorit ist der Text gut zu lesen. Storm setzt das Sujet in einer dynamischen und packenden Sprache um und beweist seine Meisterschaft in der Novellendichtung, die den Großteil seines Alterswerks ausmacht.

Interpretationsansätze

  • Exemplarische Fälle von höchster moralischer Bedeutung zu beschreiben und grundlegende Konflikte des Menschen zu thematisieren, darin sah Storm die Aufgabe der Novelle. Letztlich ist die Novelle für ihn eine Form des Dramas.
  • Die beide Erzählstränge in Ein Doppelgänger bilden einen starken Kontrast: Der realistischen, ungeschönten Darstellung der sozialen Realität des Proletariats steht eine versöhnliche und abschwächende Rahmenerzählung gegenüber, in der ländliche Idylle und Glück dominieren.
  • Das Thema des sozialen Schicksals ist in dieser Novelle besonders dominant. John Hansen ist in einem bestimmten sozialen Milieu gefangen; trotz aller Bemühungen schafft er es nicht, seinen Ruf als Verbrecher und Taugenichts loszuwerden. Hilflos ist er Gerüchten und Vorurteilen ausgesetzt, die ihn immer tiefer in eine Spirale aus Armut und Gewalt drängen.
  • Nicht zuletzt durch die politischen Wirren seiner Zeit entwickelte Storm einen starken Kulturpessimismus. Die Existenz des Menschen sei demnach durch eine außergewöhnliche Gewaltbereitschaft bestimmt, die sich immer wieder Bahn breche.
  • Mit der Figur des Bürgermeisters hat Storm eine analytische Stimme in die Novelle eingebaut. Er ist der Einzige, der die sozialen und psychologischen Mechanismen hinter John Hansens Schicksal durchschaut und beim Namen nennt.
  • Die Figur des namenlosen Erzählers lässt autobiografische Einflüsse erkennen. Er wird als etwas älterer Advokat beschrieben, der eine Neigung zur Poesie hat und offenbar aus Norddeutschland stammt – genau wie Storm selbst.
  • Storm bemüht sich um eine komplexe Darstellung der menschlichen Psyche, die auch Widersprüche zulässt. Beispiele sind Christines ambivalente Erinnerung an ihren Vater, oder die zwischen Hass und Liebe hin- und hergerissene Beziehung zwischen John und Hanna. 

Historischer Hintergrund

Deutschlands Weg zum Einheitsstaat

Aus dem Wiener Kongress von 1814/15 war der Deutsche Bund hervorgegangen, ein völkerrechtlich organisierter Zusammenschluss deutscher Fürsten- und Herzogtümer, dem auch Österreich, das dänische Holstein und das Großherzogtum Luxemburg angehörten. Den politischen Vorsitz übernahm zunächst Österreich, doch spätestens ab 1862, mit der Bestellung von Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten, entwickelte Preußen einen starken Anspruch auf die Vormachtstellung innerhalb des Bundes.

Als Preußen 1864 im Deutsch-Dänischen Krieg die von Dänemark verwalteten Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg annektierte, war Österreich noch ein wichtiger militärischer Partner. Doch bereits zwei Jahre später kam es im Deutschen Krieg von 1866 zum Ende dieser Partnerschaft. Österreich unterstützte nationalistische Bestrebungen in Schleswig und Holstein, während Preußen diese seinem Staatsgebiet einverleiben wollte. 1866 annektierte Preußen die beiden Herzogtümer im Rahmen seines Plans, Österreich als Konkurrenten im innerdeutschen Machtkampf auszuschalten. Preußen siegte, Österreich zog sich aus der deutschen Machtpolitik zurück und konzentrierte seine Bestrebungen auf den Balkan. Damit war das Ende des Deutschen Bundes besiegelt. Preußen organisierte jetzt den Norddeutschen Bund, in dem alle deutschen Staaten nördlich des Mains zu einem deutschen Bundesstaat zusammengeschlossen waren.

Infolge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 schlossen sich die süddeutschen, nicht vereinten Staaten Preußen an. Dies war die Vorbedingung für die Ausrufung eines geeinten Deutschen Kaiserreichs, die nach dem Sieg über Frankreich im Frühjahr 1871 erfolgte. Der preußische König Wilhelm I. wurde erster Deutscher Kaiser, und Mitteleuropa erhielt zwischen Frankreich und Russland einen dritten starken Machtpol. Die Industrialisierung fasste nun in Deutschland voll Fuß, drängte die Agrarwirtschaft immer stärker zurück und führte zu Urbanisierung, Bevölkerungswachstum und dem Aufkommen eines Industrieproletariats.

Entstehung

Mit der Annexion Schleswig-Holsteins durch Preußen verlor Storm 1866 seine Stellung als Landvogt und wurde Amtsrichter. Er musste nun für Geld schreiben, um seinen Söhnen die Ausbildung finanzieren zu können. Dementsprechend trat die Lyrik in seinem Spätwerk stark in den Hintergrund. Storm konzentrierte sich voll auf die Produktion von Novellen. Er arbeitete wie am Fließband und schrieb rund zwei Novellen pro Jahr. Dabei behielt er stets den Buchmarkt und den aktuellen Publikumsgeschmack im Auge und versuchte, sein Schreiben daran anzupassen. Gleichzeitig sah er weiter in der Kunst einen Selbstzweck. Diese Spannung zwischen Lohnarbeit und dichterischer Selbstverwirklichung trug dazu bei, dass Storm selbst vielen seiner späten Novellen skeptisch gegenüberstand – eine Einschätzung, die durch Storms Eigenwahrnehmung, seine poetische Kraft lasse mit dem Alter nach, noch verstärkt wurde.

Dennoch erfuhr er zu jener Zeit viel Wertschätzung. Die Kritiker zeigten sich meist wohlgesonnen. 1882 erhielt er den bayrischen Maximilian-Orden für Kunst und Wissenschaft. Ab 1880 war Storm im Ruhestand und erhielt eine Pension vom preußischen Staat. Er zog sich nach Hademarschen zurück, wo er ein parkähnliches Gartenidyll genoss und sich weiter durch Novellen zu finanzieren versuchte. Im Frühjahr 1886 gab der österreichische Publizist Karl Emil Franzos eine Novelle in Auftrag, die zunächst Der Brunnen heißen sollte. Schließlich entschied sich Storm jedoch für Ein Doppelgänger.

Wirkungsgeschichte

Ein Doppelgänger erschien in sechs Teilen zwischen dem 1. Oktober und dem 15. Dezember 1886 in Franzosʼ Halbmonatsschrift für deutsche Dichtung und ist eines der letzten Werke Storms. Er verfasste nur zwei weitere Novellen: Ein Bekenntnis und Der Schimmelreiter. Diese Werke der letzten Schaffensperiode haben, wohl aufgrund ihrer chronologischen Stellung, lange um den Titel des definitiven literarischen Vermächtnisses konkurriert. Sie waren auch ein Grund dafür, dass Storm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands war. Um 1900 wurde er dann zunehmend in die Ecke der nationalistisch-konservativen Heimatdichtung gedrängt, aus der er aber inzwischen wieder herausgeholt wurde.

In diesem Rehabilitationsprozess spielte die gesellschaftskritische und sozial engagierte Novelle Ein Doppelgänger eine entscheidende Rolle. Bis heute gilt sie als dasjenige Werk Storms, das den meisten Zeitbezug und die stärkste ethische und politische Komponente aufweist. 1975 erschien der frei nach Ein Doppelgänger angelegte Film John Glückstadt. Er wurde mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet und nahm einige Akzentverschiebungen am Inhalt der Novelle vor. 

Über den Autor

Theodor Storm wird am 14. September 1817 als Spross einer alteingesessenen Husumer Patrizierfamilie geboren. Sein Vater ist Rechtsanwalt. Storm studiert Jura und lässt sich 1843 ebenfalls als Rechtsanwalt in Husum nieder. Als er sich 1853 gegen die Annektierung Husums durch Dänemark auflehnt, muss er seine Heimatstadt verlassen. Erst 1864 kann er wieder dorthin zurückkehren. In der Zwischenzeit arbeitet er als Assessor in Potsdam, wo er unter anderem mit Theodor Fontane, Joseph von Eichendorff und Paul Heyse verkehrt. In Husum hat er zwischen 1864 und 1880 zuerst das Amt des Landvogts, dann das des Amtsrichters inne. Storm heiratet zweimal, aus den beiden Ehen gehen insgesamt sieben Kinder hervor. Zu einer einschneidenden Erfahrung wird für ihn der Versuch, nach dem Tod der ersten Ehefrau mit der zweiten Frau erneut eine glückliche Ehe zu führen. Die permanente geistige Präsenz der Verstorbenen stellt das neue Eheglück immer wieder infrage. Storm verarbeitet diese Erfahrung in der Novelle Viola Tricolor (1874). Zwischen Immensee (1849), einer Novelle über den Widerstreit zwischen bürgerlichem Leben und Künstlerexistenz, mit der Storm schlagartig berühmt wird, und dem Schimmelreiter (1888) publiziert der Autor noch viele weitere Novellen, unter anderem Pole Poppenspäler (1874), Aquis submersus (1876), Carsten Curator (1878), Hans und Heinz Kirch (1882) sowie Ein Doppelgänger (1886). Daneben entstehen realistisch-impressionistisch getönte Gedichtbände. Theodor Storm erkrankt an Magenkrebs und stirbt am 4. Juli 1888.

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