Ralph Waldo Emerson
Essays
Diogenes Verlag, 2003
Was ist drin?
Die Weltsicht von Ralph Waldo Emerson: sozusagen die intellektuelle Unabhängigkeitserklärung Amerikas.
- Essay
- Transzendentalismus
Worum es geht
Die Welt als Schule
Als Ralph Waldo Emerson 1841 seine erste Essayreihe veröffentlichte, impfte er der noch jungen amerikanischen Nation damit sein Gedankengut ein. Optimismus und Machermentalität, zwei als typisch amerikanisch geltende Eigenschaften, werden oft auf Emersons Einfluss zurückgeführt. Man hat ihn sogar für die Flut von Selbsthilfeliteratur verantwortlich gemacht. Immerhin schreibt Emerson bereits im Essay Selbstvertrauen: „Willkommen bei Göttern und Menschen ist stets der Mensch, der sich selbst zu helfen versteht.“ Wer Emerson als simplen Motivationstrainer abtut, wird seiner Bedeutung allerdings nicht gerecht. Er war ein Vordenker großen Kalibers, der die traditionellen Begrenzungen des menschlichen Denkens durchbrechen wollte. Er forderte aber gleichzeitig auch dazu auf, sich den ewigen Gesetzen der Natur zu unterstellen. Die Welt sah er als eine große Schule, die den Menschen charakterlich weiterentwickeln sollte. Folgt man seiner Überzeugung, dass wir bereits auf Erden unsere Saat ernten, drängen sich Bezüge zur Klimaproblematik und zum angeblichen Werteverfall der Gesellschaft auf.
Take-aways
- Mit seinem ersten Essayband etablierte Emerson den amerikanischen Transzendentalismus als eigenständige Denkrichtung.
- Sein Einfluss auf die Gesinnung vieler Amerikaner reicht bis in die heutige Zeit.
- Der Kerngedanke Emersons ist, dass unser gewöhnliches, mit den Sinnen erfassbares Leben von einer höheren Realität geprägt und geleitet wird.
- Es gibt eine allumfassende göttliche Seele, die in jedem einzelnen Menschen wirkt.
- Jeder Mensch hat unmittelbaren Zugang zu ihr. Er muss nur den Mut haben, allein auf ihre Eingebungen und seine darauf aufbauenden Gedanken zu vertrauen.
- Die ganze natürliche Welt ist darauf ausgerichtet, den Menschen zur Tugend zu erziehen.
- Selbst Freundschaft und Liebe dienen dem höheren Zweck der Charakterentwicklung.
- Jeder Mensch wird bereits in diesem Leben ernten, was er gesät hat – gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung.
- Ein Held ist jemand, der ungeachtet äußerer Widerstände an seinen eigenen Prinzipien festhält und Falschheit und Unrecht entgegentritt.
- Alles, was wir erleben, auch vermeintlich Schlechtes, dient unserer Weiterentwicklung.
- In Emersons Sinn muss Freiheit mit der Verantwortung verbunden sein, diese zu konkreten Taten zu nutzen. Er selbst setzte sich z. B. gegen die Sklaverei ein.
- Friedrich Nietzsche besaß einige der Essays in deutscher Übersetzung; in seinem philosophischen Werk lässt sich Emersons Einfluss feststellen.
Zusammenfassung
Geschichte
Es gibt einen Geist, der in allen Menschen wirkt. Sie haben alle in gleicher Weise Zugang zu ihm, sie nutzen ihn nur unterschiedlich. In jeder Person ist die gesamte Menschheitsgeschichte angelegt, und der einzige Weg, wirklich etwas aus ihr zu lernen, besteht darin, sie aus der individuellen Erfahrung heraus zu interpretieren und für die eigene geistige Fortentwicklung zu nutzen. Die Geschichte muss als Biografie des Menschen an sich verstanden werden, als eine Übersicht über das, was in jedem Einzelnen angelegt ist. Dem entspricht auch unsere natürliche Tendenz, beim Betrachten der Geschichte automatisch eine Position der Überlegenheit einzunehmen. Große und mächtige Persönlichkeiten der Geschichte beurteilen wir nach unseren eigenen Erfahrungen, und wir scheuen uns nicht, Werturteile über sie abzugeben. Wir wissen nämlich, dass die Welt in Wirklichkeit dazu da ist, uns als einzelne Menschen über universelle Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten zu belehren und uns damit zu erziehen.
Selbstvertrauen
Der Mensch, den wir als echt schöpferischen Genius anerkennen, weiß, dass er nur seinen eigenen Gedanken Vertrauen zu schenken braucht und diese dann für alle Menschen die Wahrheit bedeuten. Wenn wir unser Bestes geben und mutig auf die göttlichen Ideen hören, die jedem von uns zugänglich sind, dann können wir auch auf uns selbst vertrauen. Dazu müssen wir aufhören, uns feige anzupassen und die Ideen anderer aus reinem Opportunismus anzunehmen. Wer wirklich Mensch sein will, muss ein Nonkonformist sein, bereit, nur auf die göttliche Eingebung zu hören. Bereit aber auch, sich von den Erfahrungen, die ihm die Vorsehung zuteilwerden lässt, belehren zu lassen. So wird er Wahrheit, Tugend und Charakter gewinnen und den Weg zu einem glücklichen Leben finden. Dabei ist jeder von uns auf sich allein gestellt. Wir dürfen nie vergessen, dass wir letztlich nur unserem eigenen Urteil vertrauen können.
Kompensation
Die Theologie behauptet oft, dass die Bösen auf Erden gut leben, während die Guten ihren gerechten Lohn erst im Jenseits erhalten würden. In Wirklichkeit hat alles im Leben seinen Preis – und jede Medaille hat ihre Kehrseite: Der Präsident, der den Einzug ins Weiße Haus geschafft hat, trägt auch die damit einhergehende Last. In gleicher Weise bringt jeder falsche Genuss automatisch Nachteile mit sich und jede tugendhafte Handlung Vorteile. Ewige, natürliche Gesetze, die dem Prinzip von Ursache und Wirkung folgen, stellen sicher, dass alles bereits auf Erden seinen gerechten Ausgleich findet. So belohnt oder bestraft sich jede Tat selbst, auch wenn es manchmal etwas länger dauert, bis dies erkennbar wird. Wer Unrecht tut, wird Unrecht erleiden, wer liebt, wird geliebt werden. Dieses Ausgleichsgesetz gilt auch im Arbeitsleben. Der Dieb bestiehlt sich selbst, weil er etwas für nichts erhalten will und ihm dabei die Lehren, die aus ehrlicher Arbeit erwachsen, entgehen. Der eigentliche Lohn für unsere Arbeit sind Tugend und Erkenntnis, und die kann man nicht stehlen. Alles, was uns hilft, diese Eigenschaften zu erwerben, ist gut – und so sind selbst Schicksalsschläge positiv zu werten, wenn wir aus ihnen lernen.
Geistige Gesetze
Wir würden uns das Leben viel leichter machen, wenn wir im Einklang mit der Natur und ihren einfachen Gesetzen lebten. Die Natur drängt uns zur Tugend und zur Moral, nur behindern wir sie oft durch unseren Eigenwillen. Stattdessen sollten wir uns dem Strom der göttlichen Gedanken bereitwillig öffnen. Wir müssen lernen, dass im Grunde ein höheres Gesetz als unser eigener Wille die Ereignisse in unserem Leben lenkt. Aus dieser Tatsache sollen wir Glauben und Gehorsam erlernen. Für uns alle gibt es einen angemessenen Platz in der Welt und Pflichten, die uns auferlegt wurden. Oft geraten wir eher zufällig in irgendwelche Berufe, die wir nur zum Broterwerb ausüben. Unsere wirkliche Berufung liegt aber in unseren einzigartigen Talenten. Wenn wir diesem Ruf folgen, dann werden uns unsere Tätigkeiten leichtfallen und Freude bereiten, und wir werden erfolgreich sein. Wenn wir ehrlich auf unser Herz hören, dann werden wir auch recht handeln. Ein Mensch wird am Ende für das anerkannt, was er wirklich wert ist, für sein Sein und nicht für seinen Schein oder sein Haben.
Liebe
Die Liebe ist eine positive Kraft, die einem Entwicklungsprozess unterliegt. Obwohl die erste Form der Liebe, die Leidenschaft, in jedem Alter zuschlagen kann, sind es vor allem junge Menschen, die ihr erliegen. Durch sie wird oft eine Ehe begründet und damit der menschlichen Gesellschaft Beständigkeit verliehen. Es ist erstaunlich zu sehen, wie die Leidenschaft die menschlichen Beziehungen verändert, z. B. aus einem jungen Rüpel einen verzückten, umsorgenden Liebhaber macht. Echte Liebe entwickelt sich aber erst dann, wenn die Betonung des Körperlichen und Sinnlichen durch die Hervorhebung des Charakterlichen abgelöst wird. Hochherzigkeit, Demut und Rechtschaffenheit sind dann plötzlich die neuen Kriterien. So ist die Leidenschaft nur die Pforte, durch die die Liebe schreitet. Und auch diese individuelle Liebe mündet am Ende in universelle Ziele. Die von der Leidenschaft ausgelöste Liebe zu einer Person geht über in die Liebe zu allem und damit in die Liebe zu Gott.
Freundschaft
Wir sind oft beeindruckt von anderen Menschen. Aber sobald wir sie näher kennen lernen, schwindet dieser Respekt, und wir beginnen sie fast zu verachten. Auf diese Weise durchschreiten wir etliche Stufen von Freundschaften. Wichtig ist, dass wir unsere Freundschaften auf uns zukommen lassen. So werden nur diejenigen Menschen in unser Leben treten, die für uns bestimmt sind und die uns in unserem jeweiligen Entwicklungsstadium förderlich sind. So werden wir manchen alten Freund verlieren, aber neue, für uns wertvollere gewinnen. Das alles hängt von unserer Offenheit für göttliche Einflüsse ab. Eine echte Freundschaft ist das Beständigste, was wir überhaupt kennen. Der Mensch ist auf der Suche nach dem Sinn seines Daseins noch keinen Schritt vorwärtsgekommen, aber in der Freundschaft zu anderen Menschen kann er zum Kern dieses Daseins vorstoßen. Mit einem echten Freund können wir immer aufrichtig sein und brauchen uns nie zu verstellen – etwas, was uns für gewöhnlich nur gelingt, wenn wir allein sind.
Klugheit
Klugheit ist die Fähigkeit, die Dinge des physischen Lebens erfolgreich zu handhaben. Unechte Klugheit hält die Sinnenwelt für das einzig Existierende und hat kein Auge für die ihr zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten. Echte Klugheit hingegen weiß um die Existenz der Seele, einer tieferen, inneren Welt, und kann die sinnlichen Wahrnehmungen umso besser einordnen und verstehen. Sie erkennt die natürlichen Gesetzmäßigkeiten, hält sich daran, und gewinnt daraus Befriedigung und Weisheit. Von daher kommt es, dass Bewohner nördlicher Regionen die Südländer an Fähigkeiten übertreffen: Wem die Natur härtere Aufgaben auferlegt, der kann mehr daraus lernen. Die Gesetze der Natur können auf vielfache Weise verinnerlicht werden, vor allem durch die eigene Arbeit. Aber auch bei Vergnügungen soll der Mensch sich an die richtigen Prinzipien halten, wenn er den Genuss später nicht bereuen will. Dabei lohnt es sich, auf Kleinigkeiten zu achten: Wer sie nicht würdigt, wird langfristig untergehen.
Heroismus
Ein Held ist ein stolzer Mensch von extremer Individualität. Der Kriegsheld, die roheste Verkörperung des Heldentums, verachtet Sicherheit und Bequemlichkeit. Eine verfeinerte Form des Heroismus ist das Festhalten an eigenen Prinzipien unter schwierigen Umständen. Der Held ist ein Mensch der Tat, seine Grundhaltung ist die des Selbstvertrauens und der Unerschütterlichkeit. Er verachtet die Enge des gewöhnlichen Lebens. Wo er Mäßigkeit an den Tag legt, tut er dies aus einer inneren Würde heraus und nicht als Zugeständnis an äußere Zwänge. Damit zeigt uns der Held den Weg zum vollkommenen inneren Frieden: Diesen findet man nur, wenn man konsequent seiner inneren Stimme folgt. So lässt sich Unsterblichkeit erlangen.
Die Überseele
Die Ereignisse im Leben des Menschen unterliegen nicht seinem eigenen Willen. Sie werden ebenso wie seine Gedanken von einer höheren Quelle, der allumfassenden Seele, beeinflusst. Wie jedes Gestirn, jede Pflanze und jedes Tier ist der Mensch Teil dieser Seele und eine ihrer äußerlichen Erscheinungsformen. Wenn sich das Wirken der Seele im Menschen ungehindert manifestieren kann, wird sie in seinem Intellekt zum schöpferischen Geist, zum Genius. Im Willen bewirkt sie die Tugend, im Gefühl die Liebe. Eine Grenze, wo der Mensch als Wirkung aufhört und Gott als Ursache beginnt, gibt es nicht. Die Seele steht außerhalb von Raum und Zeit, sie kann an allen Orten und zu allen Zeiten ihre Wirkung entfalten. Sie offenbart uns die Wahrheit, sie ermöglicht es uns, die absoluten, ewigen Gesetze des natürlichen Universums wahrzunehmen. Im Wirken der Seele werden Mensch und Gott vereint.
Kreise
Das Universum ist ständig im Fluss. Wie ein ins Wasser geworfener Stein immer weitere Kreise zieht, so schreitet auch unser Leben kreisförmig fort und erweitert sich ständig. Instinktiv wissen wir zu jeder Zeit, dass in uns noch größere Möglichkeiten schlummern, als wir bisher verwirklicht haben. Alles, was wir erleben, dient am Ende unserem persönlichen Wachstum und unserer Fortentwicklung. Selbst unsere Beziehungen zu anderen Menschen entstehen vor diesem Hintergrund. Wenn wir reif dafür sind, werden neue Freunde, die für unser Wachstum förderlicher sind, in unser Leben treten. Auch die menschliche Kultur unterliegt einer solchen kreisförmigen Entwicklung. Immer wenn ein kultureller Höhepunkt erreicht scheint, stellt sich dieser doch nur als Ausgangspunkt für eine noch weiter gehende Entwicklung heraus. So schreitet alles ewig in einer endlosen Folge von Kreisen voran; beständig bleibt nur der göttliche Erzeuger derselben. Der Mensch sehnt sich nach Sicherheit, aber seine wirkliche Hoffnung liegt allein darin, dass alles im Fluss bleibt und dass dadurch noch höhere Ziele erreicht werden können.
Intellekt
Unser Intellekt ermöglicht uns das objektive, von uns selbst losgelöste Denken. Mit seiner Hilfe können wir die einfachen Prinzipien erkennen, die allen Dingen zugrunde liegen. Er selbst ist wiederum der Seele unterworfen: Wann immer unser Denken zur Wahrheit führt, ist es ein Empfangen von höheren Impulsen der Seele. Die Wahrheit wird uns so durch das Zusammenspiel von Seele und Gehirn offenbart. Uns allen steht dabei die gleiche Weisheit aus der universellen Natur zur Verfügung – nur nutzen wir diesen Zugang mit unserem rezeptiven Intellekt unterschiedlich gut. Daneben gibt es auch noch den konstruktiven Intellekt. Dieser wirkt als Genius, als schöpferischer Geist, durch ein direktes, unmittelbares Verknüpfen des Denkens mit der Natur. Die größten Geister sind diejenigen, welche die Denkgesetze vollkommen verstehen und die reine Vernunft verkörpern. Wenn solche Menschen in Erscheinung treten, stehen sie mit ihrer Erkenntnis weit über ihren Zeitgenossen.
Kunst
Es gibt die nützlichen Künste – Wissenschaft, Technik – und die schönen Künste. Bei Letzteren bemüht sich der wahre Künstler, dem Göttlichen Ausdruck zu verleihen. Das tut er mit den zu seiner Zeit und in seinem Kulturraum üblichen Symbolen der Wahrheit. Es gelingt ihm umso besser, je mehr er sich von einer höheren Kraft leiten lässt. Alle schönen Künste schulen uns einerseits darin, die Schönheit der Welt wahrzunehmen, und andererseits darin, die Wahrheit der Schöpfungsgesetze zu erkennen. Eine Kunst, die versucht, Schönheit von Nützlichkeit zu trennen, erniedrigt sich selbst und wird am Ende bedeutungslos. Das Gleiche gilt für die nützliche Kunst, wenn sie nur den wirtschaftlichen Nutzen sucht und allein von gewinnsüchtigen Motiven angetrieben wird. In der Natur finden sich Nutzen und Schönheit stets in Harmonie vereint. Ähnlich verhält es sich mit der Wissenschaft: Erst wenn sie in Liebe ausgeübt wird, wird es ihr gelingen, die Schöpfung zu ergänzen und weiterzuentwickeln.
Zum Text
Aufbau und Stil
Emersons erste Serie von Essays, die er 1841 veröffentlichte, umfasst zwölf Aufsätze. Sie sind einer Reihe von klar definierten Themen gewidmet, die jeweils im Titel genannt werden: Geschichte, Selbstvertrauen, Kompensation, Geistige Gesetze, Liebe, Freundschaft, Klugheit, Heroismus, Die Überseele, Kreise, Intellekt und Kunst. In den Texten selbst ist dann nicht mehr viel von strenger Struktur zu spüren. Schon das jedem Essay vorangestellte, meist von Emerson selbst verfasste Gedicht weist darauf hin, dass wir es hier nicht nur mit einem Denker, sondern auch mit einem Dichter zu tun haben. Eine poetische Wortgewalt durchzieht Emersons Gedanken, die bisweilen lyrisch wirkt und eine Flut von Aphorismen hervorbringt. Es wird spontan, intuitiv und manchmal fast frei assoziiert, verschiedenste Begriffe für die gleichen Gegenstände jagen sich in atemberaubendem Tempo und großer terminologischer Freiheit. Das entspricht durchaus Emersons Philosophie: Er glaubt, wie er in einem der Essays erwähnt, an die höhere Inspiration des guten Autors – und die lässt sich offenbar nicht einfach in stringente, klar gegliederte Argumentationen packen. Gleichzeitig ist Emerson überzeugt, dass der Leser intuitiv weiß, ob ein Gedanke wahr ist oder nicht, und deshalb keine langatmigen Beweise braucht.
Interpretationsansätze
- Mit den Essays verleiht Emerson dem amerikanischen Transzendentalismus endgültig eine eigenständige Stimme. Zwar sind seine Ideen von europäischen Philosophen beeinflusst – insbesondere von den deutschen Idealisten Kant, Hegel, Fichte und Schelling –, aber mit seiner Vorstellung einer Allseele geht er weit über deren Konzepte hinaus.
- In gewisser Weise propagiert Emerson die vollständige religiöse Befreiung. Während die Puritaner aus Europa auszogen, um sich der Unterdrückung durch andere christliche Konfessionen zu entziehen, ruft Emerson zur individuellen Religionsfreiheit auf, die keinerlei Gängelung durch irgendeine religiöse Organisation oder Hierarchie akzeptiert.
- Emerson glaubt fest an die Intuition, die jeden Menschen zum spontanen Erkennen der Wahrheit befähigt, wenn er sich frei von Vorurteilen und doktrinären Zwängen dafür öffnet.
- Emerson war kein lebensferner Schwärmer. Wie sein mutiger Einsatz gegen die Sklaverei beweist, war er überzeugt, dass man durch konkretes Handeln für seine Grundsätze einstehen muss. Dieses Festhalten an Prinzipien macht für ihn den modernen Helden aus.
- Während er die Freiheit von Doktrinen und Konventionen predigt, mahnt Emerson gleichzeitig zur Wahrnehmung persönlicher Verantwortung. Der Mensch soll sich nicht vorschreiben lassen, was er zu denken hat – aber dem Gesetz, dass er am Ende ernten wird, was er sät, kann er sich nicht entziehen.
- Alle Essays sind von einem tiefen Respekt vor der Schönheit und Ordnung der Natur geprägt. Emerson lehnt es entschieden ab, wirtschaftliche Nützlichkeit über die Unversehrtheit von Natur und Mitmensch zu stellen.
Historischer Hintergrund
Die amerikanische Unabhängigkeit
Anfang des 19. Jahrhunderts waren in den USA die Weichen für ein rapides Wirtschaftswachstum gestellt. Als die Amerikaner den Franzosen 1803 das Louisiana-Territorium abkauften, bedeutete dies flächenmäßig fast eine Verdopplung des jungen Staates. Gleichzeitig erhielten die USA damit eine weit offene Westgrenze. Der Eroberung des amerikanischen Westens stand nichts mehr im Weg. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts kam auch die Industrialisierung in den Nordstaaten der USA in die Gänge. So machten sich die Amerikaner entschlossen auf den Weg, ihren Kontinent zu erobern, seine unbändige Natur zu zähmen und sich seiner Ressourcen zu bemächtigen. Ausdruck dieses gewachsenen Selbstbewusstseins war die „Monroe-Doktrin“ (1823): Präsident James Monroe machte den europäischen Mächten unmissverständlich klar, dass die Neue Welt (einschließlich Südamerika) Einflusssphäre der USA war und Europa dort nichts mehr verloren hatte.
Was den Amerikanern trotz zunehmender wirtschaftlich-politischer Unabhängigkeit fehlte, war ein originäres intellektuelles Gedankengut. Wissen und Philosophie wurden nach wie vor aus Europa „importiert“. Das im Volk verankerte, von den puritanischen Siedlern geprägte Sendungsbewusstsein war unter Intellektuellen weit weniger erfolgreich. Viele Amerikaner wollten endlich auch geistig aus dem Korsett ausbrechen, das ihnen ihre europäische Herkunft angelegt hatte. Gleichzeitig spielte die Religion weiterhin eine wichtige Rolle, sodass die meist säkularen europäischen Philosophien der Aufklärung keine Alternative zum Puritanismus sein konnten.
Entstehung
Als Ralph Waldo Emerson 1841 seine erste Essayreihe veröffentlichte, war das lose Netzwerk des Transcendental Club, den er mitbegründet hatte, bereits fünf Jahre alt. Ein Jahrzehnt vor der Gründung des Clubs hatte Emerson seine Position als Pastor einer Unitarierkirche aufgegeben, weil er sich nicht länger den Doktrinen einer organisierten Religion unterwerfen wollte. Auf einer längeren Europareise kam er mit dem Gedankengut der englischen Romantik und des deutschen Idealismus in Kontakt. Mit dem schottischen Essayisten Thomas Carlyle sollte ihn anschließend eine lebenslange Freundschaft verbinden. Nach seiner Rückkehr begann Emerson eine Reihe umfangreicher Vortragsreisen durch die USA. Die Themen dieser Vorträge sowie viele Gedanken aus früheren Tagebucheintragungen flossen in seine ersten Essays ein. Zentral ist der Begriff „transzendental“, den er im Essay Kreise aufnimmt. Er geht auf Immanuel Kant zurück. Emerson unterlegte ihm eine andere Bedeutung, aber das Prinzip, dass der Mensch sich bei seinem Streben nach Erkenntnis nicht allein auf seine Sinne verlassen kann, behielt er bei. In seinen religiösen Ansichten wurde Emerson stark vom antidogmatischen Schweden Emanuel Swedenborg beeinflusst. Zwar blieb er in seiner Betonung der Einheit Gottes seinen religiösen Wurzeln als Unitarier treu, er lehnte aber vehement die Vorstellung ab, dass der Mensch eine religiöse Organisation mit starrer Doktrin brauche, um mit Gott in Verbindung zu treten. Für ihn war jeder Gotteskontakt ein eigenständiges, unmittelbares Erlebnis des einzelnen Menschen.
Wirkungsgeschichte
Emersons Essays brachten zum ersten Mal eine breite Palette von transzendentalistischen Themen schriftlich zum Ausdruck. Damit begründete er ein authentisch amerikanisches Gedankengebäude: Viele seiner Ideen flossen später in die amerikanische Philosophie des Pragmatismus ein, die vor allem durch William James, mit dessen Vater Emerson befreundet war, einen weiten Bekanntheitsgrad erreichte. Ebenso beeinflusste Emerson Williams Bruder, den berühmten Schriftsteller Henry James. Von der gesamten modernen amerikanischen Literatur bis hin zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung lässt sich Emersons Einfluss kaum überschätzen. Mit Essays wie Selbstvertrauen hat er dem typisch amerikanischen Streben nach Unabhängigkeit entscheidende Impulse vermittelt, sein Optimismus hat die Weltsicht der ganzen Nation geprägt und sein Konzept der Selbsthilfe bildet den Keim der heutigen „Motivationsindustrie“.
Selbst in Europa ist sein Einfluss deutlich erkennbar. So spielte das Buch Walden seines Schützlings Henry David Thoreau auch in der Alten Welt eine wichtige Rolle für die Umwelt- und Bürgerschutzbewegung. Thoreau hatte sein zugrunde liegendes Selbstexperiment – er lebte allein an einem Waldsee – auf einem abgelegenen Grundstück Emersons durchgeführt. Besonders erwähnenswert ist aber Friedrich Nietzsches Verehrung für Emerson. Nietzsche besaß nachweislich einige von dessen frühen Essays in deutscher Übersetzung, versah sie ausführlich mit Randnotizen und arbeitete ihre Ideen in sein eigenes Werk ein – etwa Emersons Aufforderung, nicht zwischen großen und kleinen, wichtigen und unwichtigen Dingen zu unterscheiden.
Über den Autor
Ralph Waldo Emerson wird 1803 als Sohn eines Priesters in Boston geboren. Sein Vater stirbt, als der Junge erst acht Jahre alt ist. Nur mithilfe einer streng religiösen Tante gelingt es der Mutter, ihre fünf Kinder aufzuziehen. Schon früh liest Emerson griechische und römische Philosophen. 1821 graduiert er vom Harvard College und lehrt einige Jahre an der Privatschule seines Bruders William. Danach studiert er Theologie an der Universität Harvard und erhält 1826 seine Zulassung als Prediger. 1829 wird er Pfarrer einer Unitariergemeinde in Boston und heiratet Ellen Tucker. Er führt eine glückliche, aber kurze Ehe: Seine Frau stirbt bereits 1831 an Tuberkulose, was ihn hart trifft. Emersons lebenslange Faszination für junge Männer, die sich auch in sexuell aufgeladener Lyrik äußert, deutet auf seine Bisexualität hin. Nach Meinungsverschiedenheiten mit den doktrinären Kirchenoberen gibt er sein Predigeramt auf und unternimmt eine erste, ausgedehnte Europareise. Hier lernt er die Dichter Coleridge und Wordsworth sowie den schottischen Historiker Carlyle kennen und macht sich mit den Ideen der Romantik und des deutschen Idealismus vertraut. Nach seiner Rückkehr nach Neuengland beginnt er ausgedehnte Vortragsreisen und heiratet Lydia Jackson, die ihn „Mr. Emerson“ nennt. 1836 erscheint anonym sein erster Essay Nature, und im gleichen Jahr gründet er mit Gleichgesinnten den Transcendental Club. Eine enge Freundschaft entsteht zu Henry David Thoreau, der zeitweise Emersons Grundstück an einem Waldsee bewohnt. Emersons erster Sohn Waldo stirbt bereits mit sechs Jahren; den weiteren Kindern Ellen, Edith und Edward ist mehr Glück beschieden. 1838 hält Emerson in Harvard eine Rede, in der er Jesus zwar als großen Mann bezeichnet, aber der Auffassung widerspricht, der zufolge Jesus Gott sei. Auch die biblischen Wunder zweifelt er an. Es hagelt Kritik, und Emerson wird fast 30 Jahre lang nicht mehr nach Harvard eingeladen. 1841 veröffentlicht er seine erste Essayreihe, 1844 die zweite, bevor er wiederum durch Europa reist. Nach seiner Rückkehr trifft er Präsident Lincoln und setzt sich öffentlich für Frauenrechte und gegen die Sklaverei ein. 1866 versöhnt sich Harvard mit Emerson und verleiht ihm die Ehrendoktorwürde. Er stirbt am 27. April 1882 in seiner Heimatstadt Concord an einer Lungenentzündung.
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