Jorge Luis Borges
Fiktionen
Erzählungen 1939–1944
Fischer Tb, 2015
Was ist drin?
Was ist Realität, was Fiktion? Wer Borgesʼ Erzählungen liest, beginnt zu zweifeln.
Worum es geht
Die Fiktion der Wirklichkeit
Warum dicke Romane schreiben, wenn man alles, was man sagen möchte, in wenigen Minuten mündlich darlegen kann, fragt Jorge Luis Borges im Vorwort zu seinem 1944 erschienenen Erzählband Fiktionen. Programmatisch kündigt er an, seine Texte seien nur Kommentare zu fiktiven Büchern. Tatsächlich kommen viele der hier versammelten Kurzgeschichten, die Borgesʼ Weltruhm begründeten, im Gewand des Essays daher. Mit ihren Fußnoten und genauen Quellenangaben geben sie sich hochseriös und wissenschaftlich, nur um sogleich ins Fantastische, Surreale abzugleiten. Die durchgehende Vermischung von Fiktion und Realität, Traum und Wirklichkeit ist das Markenzeichen von Borgesʼ Erzählungen – ob es sich dabei um Pseudoessays, vermeintlich realistische Berichte oder Detektivgeschichten nach dem Vorbild von Edgar Allan Poe handelt. Im ironischen Spiel mit Formen, das den Autor zu einem Wegbereiter der Postmoderne macht, kommt seine tiefe Skepsis gegenüber der menschlichen Vernunft und Erkenntnisfähigkeit zum Ausdruck: Was wir Realität oder Geschichte nennen, ist in Wahrheit nur ein Konstrukt.
Take-aways
- In seinem 1944 erschienenen Erzählband Fiktionen zeigt sich Jorge Luis Borges als Wegbereiter der postmodernen Literatur.
- Inhalt: Ein erfundener Planet beeinflusst die reale Welt; ein Mann erträumt sich einen Menschen, ehe er merkt, dass er selbst nur der Traum eines anderen ist; ein anderer hat ein absolutes Gedächtnis; wieder ein anderer schreibt den Don Quijote neu. Das Leben in Babylon ist ein einziges Lotteriespiel – und das Universum eine unendliche Bibliothek.
- In Borgesʼ Erzählungen vermischen sich Realität und Fiktion, literarisches und historisches Erzählen.
- Literarisches und historisches Schreiben sind für den Autor gleichermaßen Fiktionen.
- Borges spielt mit verschiedenen Formen und Gattungen, vom Literaturessay bis zur Detektivgeschichte à la Edgar Allan Poe.
- Bei allen Unterschieden sind die Erzählungen durch eine tiefe Skepsis gegenüber Erkenntnis und Vernunft verbunden.
- Die verschachtelten Erzählungen stecken voller Paradoxe und Labyrinthe.
- Die französischen Poststrukturalisten erkannten in Borges einen ihrer Vorläufer.
- Fiktionen und der nachfolgende Erzählband Das Aleph begründeten den Weltruhm des argentinischen Autors.
- Zitat: „Als verkündet wurde, die Bibliothek umfasse alle Bücher, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl.“
Zusammenfassung
Tlön, Uqbar, Orbis Tertius
Auf der Suche nach der Quelle eines Zitates in einer Enzyklopädie stellen der Erzähler und sein Freund Bioy Casares 1935 fest, dass das Land Uqbar, nach den Angaben in jener Enzyklopädie im Irak oder in Kleinasien gelegen, nur in einem einzigen Exemplar dieses Werks erwähnt wird. Auch in anderen Nachschlagewerken, Atlanten oder Geschichtswerken findet sich kein Hinweis auf ein solches Land. Auch bleibt der Artikel in der Enzyklopädie seltsam vage: Er nennt Flüsse und Bergketten in Uqbar, ohne das Land genau zu lokalisieren. Über die Literatur des Landes heißt es, sie sei fantastisch und beziehe sich nie auf die Realität, sondern nur auf die Fantasiereiche Mlekhnas und Tlön.
„Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen. Sie halten die Metaphysik für einen Zweig der fantastischen Literatur. Sie wissen, dass ein System nichts anderes ist als die Unterordnung aller Aspekte des Universums unter irgendeinen von ihnen.“ (Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 23 f.)
Zwei Jahre darauf erbt der Erzähler von einem Bekannten seines Vaters ein Buch über einen Planeten namens Tlön; auf der ersten Seite des Buches steht „Orbis Tertius“. Die Bewohner von Tlön sind, laut Buch, radikale Idealisten, ihre Welt ist nicht räumlich, sondern zeitlich bestimmt. Ihre Sprache kennt keine Substantive, was jedes Deduzieren und Klassifizieren unmöglich macht. Metaphysik halten sie für einen Zweig der fantastischen Literatur, sie suchen nicht die Wahrheit, sondern das Erstaunen. Manche leugnen die Zeit, andere betrachten das Leben als reinen Akt der Erinnerung und die Welt als Brief einer Gottheit an einen Dämon. Rückblickend erklärt der Erzähler, das Geheimnis von Tlön sei inzwischen geklärt: Eine Geheimgesellschaft des 17. Jahrhunderts, zu der der Philosoph George Berkeley gehörte, habe den Planeten erfunden. Nachfolgende Generationen haben das Buchprojekt bis heute fortgeführt. Allmählich dringt die fantastische Welt in die reale ein und verändert sie. Eine Gruppe verstreuter Denker hat es so geschafft, die Erde zu verwandeln – und sie wird es weiter tun.
Pierre Menard, Autor des Quijote
Neben seinem sichtbaren Werk hat der verstorbene Autor Pierre Menard auch noch ein unsichtbares hinterlassen – vielleicht das bedeutendste Werk unserer Zeit. Es besteht aus Teilen von Cervantesʼ Don Quijote. Menard ging es nicht darum, den Don Quijote abzuschreiben oder zu transkribieren. Er wollte ihn Wort für Wort neu hervorbringen, und zwar nicht als der Cervantes des 17. Jahrhunderts mit seinem spezifischem Wissens- und Erfahrungshintergrund, sondern als er selbst, Pierre Menard, Zeitgenosse von Bertrand Russell und William James. In mühsamer Arbeit ist es ihm gelungen, zwei Kapitel und ein weiteres unvollendetes Kapitel zu schreiben. Sein Text, ein „vorsätzlicher Anachronismus“, ist tatsächlich Wort für Wort identisch mit dem Text des Cervantes – aber um vieles reicher, weil mehrdeutiger. Durch die Ereignisse der drei Jahrhunderte, die zwischen den Texten liegen – darunter auch die Veröffentlichung des Don Quijote – haben dieselben Worte eine ganz andere, tiefere und subtilere Bedeutung bekommen.
Die kreisförmigen Ruinen
Nach jahrelangen Versuchen gelingt es einem Mann, inmitten kreisförmiger Ruinen eines alten Tempels träumend einen Sohn zu erzeugen. Er entlässt ihn anschließend in die Realität. Doch fürchtet er, der Sohn könnte herausfinden, dass er kein Mensch, sondern ein bloßes Scheinbild, die Projektion eines Traumes eines anderen Menschen ist – eine unfassbare Erniedrigung. Doch am Ende erkennt der Mann – entsetzt, aber auch erleichtert –, dass er selbst nur ein Scheinbild ist und ein anderer Mensch ihn träumt.
Die Lotterie von Babylon
Anfangs ging es in der Lotterie von Babylon nur um Geldgewinne, doch mit der Zeit kamen zunächst Geldbußen hinzu, dann auch Gefängnisstrafen für diejenigen, die ein Unglückslos gezogen hatten. War die Teilnahme ursprünglich freiwillig gewesen, so wurde nun jeder Babylonier durch die geheimnisvolle, allmächtige „Gesellschaft“ dazu verpflichtet, alle 60 Tage ein Los zu ziehen, das über ihr Glück oder Unglück entscheidet: Man konnte Konsul werden oder Sklave, einer angebeteten Frau näherkommen oder im Gefängnis landen, gefoltert werden oder zum Tode verurteilt. Die Zahl der Möglichkeiten wurde stetig erweitert, bis das gesamte Leben in Babylon nichts weiter war als ein unendliches Spiel von Zufällen.
Untersuchung des Werks von Herbert Quain
Nach dem Tod des Schriftstellers Herbert Quain macht sich der Erzähler daran, dessen Werk zu sichten. Bei Quains erstem, 1933 veröffentlichtem Buch handelt es sich um eine Detektivgeschichte mit dem Titel The God of the Labyrinth, deren Lösung präsentiert und am Ende wieder infrage gestellt wird. Das zweite Buch April March konzipierte der Autor, für den das Erstaunen ein wichtiges Element der Literatur war, als eine Art Spiel: Im ersten Kapitel schildert er eine Szene, in den folgenden Kapiteln liefert er drei alternative Vorgeschichten dazu, zu denen er wiederum je drei mögliche Vorgeschichten entwirft. Ausgehend von der Schlussszene enthält das Werk, das insgesamt 13 Kapitel umfasst, somit neun grundverschiedene, sich ausladend verzweigende Romane. Zuletzt schrieb Quain ein Buch namens Statements, dessen acht Erzählungen alle zunächst einen guten Plot verheißen, der allerdings vom Autor selbst absichtlich hintertrieben wird. Eine davon, Die kreisförmigen Ruinen, hat der Erzähler selbst für seinen Erzählband übernommen.
Die Bibliothek von Babel
Das Universum, auch Bibliothek genannt, setzt sich aus einer unbestimmten Zahl sechseckiger Galerien zusammen, in deren Regalen die je gleiche Zahl von Büchern mit je 410 Seiten steht. Jedes Buch enthält eine andere Kombination der 25 Schriftzeichen, es finden sich keine zwei identischen Bücher. Die Bibliothek enthält alle Bücher, die je geschrieben wurden und geschrieben sein werden, darunter auch ganz sinnlose Zeichenkombinationen. Eine Zeit lang hofften die Menschen, Aufschluss über den geheimnisvollen Ursprung der Bibliothek oder Rechtfertigungen der in den Büchern enthaltenen Lehren zu finden. In den engen Gängen und auf den Treppen zwischen den Regalen disputierten sie, jagten und töteten einander. Manche sahen in der Bibliothek nur ein Werk des Zufalls; andere meinten, überflüssige Bücher vernichten zu müssen; wieder andere suchten das eine Buch, das der Schlüssel zu allen übrigen sei. Auch der Erzähler vergeudete seine Jugend mit der Suche nach dem totalen Buch. Inzwischen weiß er: Alle möglichen Kombinationen von Schriftzeichen sind in dieser göttlichen, unbegrenzten Bibliothek, die die Gattung Mensch überdauern wird, bereits vorausgesehen. Würde ein ewiger Wanderer sie durchqueren, stieße er irgendwann auf dieselben Bücher in derselben Unordnung.
Der Garten der Pfade, die sich verzweigen
Auf der Flucht vor seinem Verfolger Richard Madden gelangt Yu Tsun, der im Ersten Weltkrieg für die Briten kämpft, aber für die Deutschen als Agent tätig ist, in einen wunderbaren, chinesisch anmutenden Garten. Dort trifft er den Sinologen Stephen Albert, von dem er erfährt, dass der Garten von Yu Tsuns Urgroßvater Ts’ui Pên erbaut wurde, der sich aus der Welt zurückgezogen hat, um ein Buch und ein Labyrinth zu schaffen. Allerdings hat er nur ein wirres Manuskript hinterlassen, das seine Familie vor Rätsel stellte. Albert klärt Yu Tsun darüber auf, dass beide Werke identisch sind: Das chaotisch und widersprüchlich erscheinende Buch ist das Labyrinth. Anders als in üblichen Fiktionen, in denen immer nur eine Möglichkeit des Geschehens weiterverfolgt wird, zeichnete Ts’ui Pên alle möglichen Alternativen auf und erschuf so verschiedene Zukünfte, die sich ins Unendliche verzweigen. In den meisten dieser parallelen Zeiten, so Albert, existierten er und Yu Tsun nicht, und nur durch einen günstigen Zufall seien sie heute hier zusammengetroffen. Da taucht plötzlich Madden auf, und Yu Tsun erschießt – bevor er festgenommen wird – Albert, den er schätzt und bewundert. Über seine Tat wird in den Zeitungen berichtet. Sie ist eine verschlüsselte Nachricht an die Deutschen, den Standort der britischen Armee betreffend – eine Stadt namens Albert. Als Agent hat Yu Tsun gesiegt, aber er ist darüber unendlich traurig.
Das unerbittliche Gedächtnis
Der Erzähler berichtet von einem jungen Mann, Ireneo Funes, der infolge einer – durch einen Sturz vom Pferd verursachten – Querschnittslähmung über ein absolutes Gedächtnis verfügt. Alles prägt sich ihm unerbittlich ein, selbst das kleinste Detail nimmt er wahr. So erinnert er sich an jedes Blatt an jedem Baum in jedem Wald und darüber hinaus an jedes Mal, da er es gesehen oder es sich vorgestellt hat. Er kann sich an alle seine Träume erinnern und nimmt Dinge wie das ständige Fortschreiten der Verwesung oder der Karies wahr. Ans Bett gefesselt erfindet er ein Zahlensystem, in dem jeder einzelnen Zahl ein Wort zugeordnet ist. Zur Abstraktion ist er nicht fähig, er sieht nur Einzelheiten. So fällt es ihm schwer, die verschiedenen Arten von Hunden, ja sogar ein und denselben Hund, den er in verschiedenen Situationen erlebt hat, unter dem Begriff „Hund“ zu vereinen. Trotz der Lähmung empfindet er seinen Zustand als Gewinn: Vorher sah er, ohne zu sehen, hörte er, ohne zu hören. Jetzt nimmt er wirklich wahr.
Thema vom Verräter und vom Helden
Bei der Recherche über das Leben seines Urgroßvaters, des irischen Rebellen und Volkshelden Fergus Kilpatrick, über den er ein Buch schreiben will, stößt Ryan auf Rätsel. Kilpatricks Ermordung im 19. Jahrhundert weist auffällige Parallelen zu Shakespeares Dramen Macbeth und Julius Caesar auf. Könnte es sein, dass die Geschichte nicht nur – im Sinne einer periodischen Wiederkehr des Gleichen – sich selbst kopiert, sondern auch die Literatur? Dann aber findet Ryan heraus, dass die Rebellen Kilpatrick als Verräter entlarvt und ihn zum Tod verurteilt hatten. Um der Bewegung keinen Schaden zuzufügen, ließen sie ihren Anführer, der in der Bevölkerung hohes Ansehen genoss, einen Heldentod sterben. Sie inszenierten Kilpatricks letzte Tage und seine Ermordung nach dem Vorbild von Shakespeares Dramen und verliehen damit der Rebellion neuen Schwung. Die allzu deutlichen Hinweise auf Shakespeare sollten wohl dafür sorgen, dass jemand später die Wahrheit herausfinden würde. Ryan beschließt jedoch, das Geheimnis für sich zu behalten, und schreibt ein ruhmreiches Porträt seines Urgroßvaters – was vielleicht ebenfalls so vorgesehen war.
Der Tod und der Kompass
Der berühmte Detektiv Erik Lönnrot untersucht die Ermordung eines Rabbis, neben dessen Leiche im Hotelzimmer kabbalistische Werke sowie ein Blatt mit dem Satz „Der erste Buchstabe des NAMENS ist artikuliert worden“ gefunden wurden. Anders als der schlicht gestrickte Kommissar Treviranus, der den Zufall am Werk sieht, hält Lönnrot den Mord für eine Art jüdisch-orthodoxes Opferritual. In dieser Vermutung wird er durch zwei weitere Morde bestätigt, die das Buchstabenrätsel jeweils fortführen. Als er einen Brief mit einem Stadtplan erhält, in den die Orte der Verbrechen als gleichseitiges Dreieck eingezeichnet sind, glaubt Lönnrot, zu wissen, wo der vierte Mord stattfinden wird. Er verspricht, den Täter zu fassen. Doch als er in der labyrinthisch angelegten Villa Triste-le-Roy eintrifft, überrascht ihn der Verbrecher Red Scharlach, dessen Bruder vor Jahren bei seiner Verhaftung durch Lönnrot starb, mit einer Erklärung der Vorgänge: Der erste Mord im Hotel sei tatsächlich reiner Zufall gewesen, man habe sich im Zimmer getäuscht. Als Scharlach in der Zeitung von Lönnrots Vermutung gelesen habe, sei ihm die Idee gekommen, die Hypothese des Detektivs zu bestätigen, ihn in eine Falle zu locken und so den Tod seines Bruders zu rächen. Anschließend erschießt er Lönnrot.
Das geheime Wunder
Jaromir Hladik, Autor der unvollendeten Tragödie Die Feinde, wird am 19. März 1939 in Prag von der Gestapo verhaftet und zum Tode verurteilt. Seine Erschießung wird auf den 29. März festgesetzt. In seiner Angst stellt sich Jaromir immer wieder den Ablauf der Exekution vor und durchlebt Hunderte imaginärer Tode. Aus der Tatsache, dass die Wirklichkeit nie mit Vorausgesehenem übereinstimmt, zieht er die Schlussfolgerung, er könne auf magische Weise grässliche Einzelheiten verhindern, indem er sie voraussehe. Er bittet Gott um ein Jahr Aufschub, um sein Drama, das von der unaufhörlichen Wiederholung der Zeit handelt, vollenden zu können. In der Nacht träumt er, dass Gott ihm seine Bitte erfüllt. Als am nächsten Morgen die Soldaten ihre Gewehre auf ihn richten und der Feldwebel das Kommando zur Erschießung gibt, bleibt plötzlich die Zeit stehen und alles – auch er selbst – erstarrt. In einem Jahr werden die Deutschen ihn töten, aber bis dahin kann er im Geist sein Stück zu Ende bringen.
Der Süden
Weil er es nicht abwarten kann, in einem gerade erstandenen Exemplar von Tausendundeine Nacht zu blättern, stößt sich Juan Dahlmann an einem Fensterflügel und zieht sich eine schwere Kopfverletzung zu. Acht Tage, die ihm wie acht Jahrhunderte vorkommen, liegt er darnieder und durchlebt eine Hölle aus Schmerzen und fieberhaften Albträumen. Anschließend zieht er sich im Sanatorium eine Blutvergiftung zu und stirbt beinahe daran. Um sich zu erholen, reist er nach seiner Entlassung gen Süden auf sein Landgut, das er geerbt, bislang aber nie besucht hat. Im Zug will er zunächst in Tausendundeine Nacht lesen, doch dann schaut er aus dem Fenster und überlässt sich dem Staunen darüber, dass er am Leben ist. Die Landschaft, das Essen, die Farben, das Licht – alles erfüllt ihn mit Glück. Auf dem Fußweg zu seinem Landgut macht er in einer Schänke halt. Ein paar betrunkene Landarbeiter ärgern ihn, und er will gehen. Doch als der Wirt, der einem Angestellten des Sanatoriums ähnelt, ihn mit Namen anspricht und ihn ermahnt, sich nicht provozieren zu lassen, sieht er sich persönlich angegriffen und nimmt die Herausforderung eines Arbeiters an. Ein alter Gaucho – für Dahlmann die Personifikation des Südens – wirft ihm einen Dolch hin. Vor dem Tod, der ihn nun mit Sicherheit erwartet, hat Dahlmann keine Angst. Damals, als Patient des Sanatoriums, hätte er es als Glück und als Erlösung empfunden, in einem Messerkampf zu sterben.
Zum Text
Aufbau und Stil
Jorge Luis Borgesʼ Erzählband Fiktionen teilt sich in zwei große Abschnitte: Der erste Teil, „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“, versammelt sieben Erzählungen, der zweite Teil, „Kunststücke“, enthält neun. Beiden ist ein Vorwort vorangestellt. Stilistisch spielt Borges mit literarischen Traditionen und Techniken: Manche Erzählungen sind realistisch – wie Der Süden – , andere – wie Die kreisförmigen Ruinen – haben etwas Surreales, wieder andere – wie Pierre Menard, Autor des Quijote – spielen mit der Form des Literaturessays. In vielen Erzählungen tritt ein Ich-Erzähler auf, der jedoch keinesfalls mit dem Autor Borges identisch ist. Oft wirken die Texte wie Tatsachenberichte oder wissenschaftliche Analysen, doch lösen sie die Erwartungen des Lesers nicht ein, sondern gleiten ins Fiktive, Surreale, Fantastische ab. Die Freude am ironischen Spiel mit literarischen Formen und an der Irreführung des Lesers zeigt sich auch an Borgesʼ Vorliebe für Paradoxe, für Spiegel – als Symbol der Vervielfältigung und des Identitätsverlustes – und für das Labyrinth, das für die menschliche Grunderfahrung von Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit steht.
Interpretationsansätze
- Im Vorwort zum ersten Teil von Fiktionen schreibt Borges, es sei ein mühseliger Unsinn, dicke Bücher zu verfassen und auf 500 Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen mündliche Darlegung wenige Minuten beanspruche. Seine eigenen Texte versteht Borges als Anmerkungen zu imaginären Büchern, womit er die Verschränkung von Fiktion und Metatextualität – also des Interpretierens und Kommentierens von Texten – zum Programm erhebt.
- Wie Franz Kafka, den er sehr verehrte, verbindet Borges in seinen Erzählungen das Unheimliche, Fantastische mit einer metaphysischen Dimension. Zu den Philosophen, auf die er verweist, zählen unter anderem Leibniz, Spinoza und Schopenhauer. Daneben finden sich Bezüge zur Kabbala, zum Buddhismus und zum Hinduismus, denen eine tiefe Skepsis gegenüber Erkenntnisfähigkeit und Vernunft gemein ist.
- In seinen Erzählungen setzt sich Borges kritisch mit der abendländischen Geschichtsschreibung auseinander und weist auf die Nähe zwischen historischem und literarischem Erzählen hin. Indem er in seinen Werken sogenannte Tatsachen mit Fiktionen vermischt, äußert Borges seine Zweifel an historischer Kausalität und entlarvt Geschichtsschreibung als Konstrukt.
- Zugleich stellt Borges das Konzept der Autorschaft infrage, am deutlichsten in der Erzählung über Pierre Menard, der den Don Quijote schreibt. Die Beziehung zwischen Schriftsteller und Werk ist für Borges beliebig, Literatur ist bloß Plagiat und Wiederholung – so wie überhaupt die Welt ein Palimpsest, ein immer wieder überschriebenes Manuskript voller Wahrheiten und Dementis ist.
- In Borgesʼ Erzählungen dominiert der Typus des unzuverlässigen Erzählers. In Der Süden etwa – eine auf den ersten Blick realistische Geschichte – weiß der Leser am Ende nicht, ob die Reise in den Süden und die Messerstecherei nicht nur eine Wahnvorstellung der schwer kranken Hauptfigur sind.
- Manche Erzählungen – etwa Der Tod und der Kompass – stehen in der Tradition von Arthur Conan Doyle, G. K. Chesterton und Edgar Allan Poe. Wie Poes Meisterdetektiv Dupin versucht Borgesʼ Lönnrot, ein komplexes System aus Zeichen zu entschlüsseln und so dem Täter auf die Spur zu kommen. Allerdings ironisiert Borges das Genre der Kriminalgeschichte in typisch postmoderner Manier, wenn sein genialer Detektiv am Ende erfährt, dass die Mordserie doch nur auf Zufall und bewusster Irreführung beruhte.
Historischer Hintergrund
Modernismo, Ultraismo und Fantastik
Der wirtschaftliche Aufschwung und Modernisierungsschub in Lateinamerika am Ende des 19. Jahrhunderts wurde von einem markanten ästhetischen Wandel begleitet. In der Literatur setzte sich die auch in Spanien vorherrschende Bewegung des Modernismo durch, die sich gegen literarische Konventionen auflehnte und nach modernen, subtileren Ausdrucksmitteln suchte. Im Rahmen dieser literarischen Strömung, die stark vom französischen Symbolismus beeinflusst war, erlebte auch die Gattung der Fantastik einen Boom. Lateinamerikanische Autoren wie der Nicaraguaner Rubén Darío oder der Argentinier Leopoldo Lugones entwickelten nach Vorbildern wie Edgar Allan Poe und H. G. Wells fantastische Motive. In Lugonesʼ Werken tauchen irreale, fantastische Wesen auf, die menschlichen Träumen entstammen könnten, aber auch göttlichen Ursprungs oder das Produkt einer Maschine sein könnten.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geriet der Modernismo unter Beschuss durch eine jüngere Generation spanischer Schriftsteller, die vor allem die affektierte, manierierte Sprache und den Hang zum Exotischen, Ornamentalen kritisierten. Autoren wie Rafael Cansinos Assens, Guillermo de Torre und Borges, der damals in Spanien lebte, gründeten 1918 in Madrid in Abgrenzung zum Modernismo die avantgardistische Literaturbewegung des Ultraismo. Zu den wichtigsten Forderungen der Ultraisten zählte, die Dichtung von allem sprachlichen Ballast zu befreien und insbesondere die Lyrik allein auf der Wirkung der Metapher aufzubauen. Sprache sollte nicht mehr als Mittel der Abbildung von Realität oder psychologischer Vorgänge dienen, sondern reine Poesie sein.
Für Borges, der zahlreiche Manifeste für die Bewegung verfasste, stellte der Ultraismo eine Mischung aus Expressionismus, Futurismus, Dadaismus und Kubismus dar. Anders als der Expressionismus war der Ultraismo jedoch keine Avantgarde der lauten Töne, und auch ein radikaler Bruch mit Konventionen oder gar Gesellschaftskritik lag dieser ästhetizistischen Bewegung fern. Man bediente sich moderner literarischer Techniken unter Beibehaltung traditioneller Formen. Während dem Ultraismo in Spanien keine lange Dauer beschieden war, gewann er in Argentinien in den 1920er-Jahren an Bedeutung und verdrängte allmählich die bis dahin beherrschende modernistische Literatur.
Entstehung
Nach seiner Rückkehr nach Buenos Aires 1921 verfasste Borges vornehmlich Gedichte – nach ultraistischer Manier in einer präzisen, kargen, ironischen Sprache –, wandte sich im Lauf der Zeit aber verstärkt der essayistischen Form zu. Seine Essays, die sich mit philosophischen Grundfragen wie der Relativität von Raum und Zeit und der Unendlichkeit beschäftigten, mündeten in einer neuen Bewegung der fantastischen Literatur. Zusammen mit seinem Freund Adolfo Bioy Casares und dessen Frau Silvana Ocampo gab Borges eine Anthologie der phantastischen Literatur heraus und begann selbst, fantastische Kurzgeschichten zu schreiben. Als sein erstes Werk bezeichnete Borges rückblickend Pierre Menard, Autor des Quijote aus dem Jahr 1939. Zwar hatte er schon vorher Erzählungen geschrieben, aber dieser Text begründete tatsächlich eine neuartige Ästhetik in seinem dichterischen Werk.
In der von ihm selbst herausgegebenen Anthologie publizierte Borges erstmals seine quasi-essayistische Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius aus dem Jahr 1940. Unter dem Titel Der Garten der Pfade, die sich verzweigen veröffentlichte er 1941 eine weitere Anthologie, die sieben zwischen 1939 und 1941 entstandene Erzählungen umfasste. Drei Jahre später fügte der Autor der Sammlung einen zweiten, Kunststücke benannten Teil mit sieben neuen Kurzgeschichten hinzu. Das Gesamtwerk erschien 1944 unter dem Titel Fiktionen. In die Auflage von 1956 nahm Borges mit Der Süden, Die Phönix-Sekte und Das Ende drei weitere, Anfang der 50er-Jahre geschriebene Erzählungen in den Band auf und entfernte eine in der argentinischen Erstausgabe noch abgedruckte Erzählung.
Wirkungsgeschichte
Fiktionen erregte gleich nach seinem Erscheinen in Lateinamerika großes Aufsehen und erhielt mit dem Gran Premio de Honor de la Sociedad Argentina de Escritores 1944 die höchste literarische Auszeichnung Argentiniens. Ab den 50er-Jahren wurde Borgesʼ Werk auch international rezipiert, seinen Durchbruch erlebte es erst in den frühen 70ern, als Philosophen wie Roland Barthes, Michel Foucault und Jacques Derrida das Werk als Vorläufer des Poststrukturalismus und später des Dekonstruktivismus feierten. Einzelne Erzählungen aus Fiktionen und dem 1949 erschienenen Erzählband Das Aleph begründeten den weltweiten Ruhm des Autors, dessen Geschichten heute als Klassiker der postmodernen Literatur gelten. In seinem 1980 erschienenen Roman Der Name der Rose schuf der italienische Schriftsteller Umberto Eco in Anspielung auf die Erzählung Die Bibliothek von Babel eine labyrinthische Bibliothek, der ein blinder Mönch namens Jorge von Burgos vorsteht.
Über den Autor
Jorge Luis Borges wird am 24. August 1899 in Buenos Aires als Sohn eines Rechtsanwalts und Psychologiedozenten und Autors geboren. Borges, der väterlicherseits von Engländern abstammt, wächst zweisprachig auf und liest sich schon früh durch die umfangreiche Bibliothek seines Vaters. In Genf, wohin die Familie 1914 wegen mehrerer Augenoperationen des Vaters zieht, lernt er Deutsch und Französisch. Nach dem Abitur lebt Borges zeitweise in Spanien und verfasst hier erste Prosa- und Lyrikwerke. 1921 kehrt die Familie nach Buenos Aires zurück. Borges schreibt Beiträge für Literaturzeitschriften und veröffentlicht seinen ersten Gedichtband: Buenos Aires mit Inbrunst (Fervor de Buenos Aires, 1923). Ab 1938 arbeitet er als Bibliothekar im Staatsdienst und übersetzt unter anderem Poe, Kafka, Hesse und Virginia Woolf ins Spanische. Bald darauf erscheint sein erster Erzählband Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (El jardin de los senderos que se bifurcan, 1941), doch trotz positiver Aufnahme auch des Bandes Fiktionen (Ficciones, 1944) kann Borges nicht vom Schreiben leben. Unter dem von ihm verabscheuten Diktator Juan Perón quittiert er 1946 den Staatsdienst und ist an verschiedenen Institutionen als Literaturdozent tätig. Nach Peróns Rücktritt im Jahr 1955 wird Borges trotz seiner erblichen Sehschwäche zum Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ernannt. Ab seinem 55. Lebensjahr ist Borges völlig blind und auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen, doch mit der Unterstützung seiner Freunde ist er weiterhin schriftstellerisch tätig und unternimmt lange Lesereisen durch Europa. Er wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 1967 heiratet er seine Jugendfreundin Elsa Astete Millán, doch die Ehe wird nach drei Jahren wieder geschieden und Borges zieht zu seiner Mutter zurück, bei der er bis zu ihrem Tod 1974 lebt. Als kränkend empfindet der Perón-Gegner Borges die Kritik von linker Seite an seinem Konservativismus. Im April 1986 heiratet er seine langjährige Sekretärin María Kodama. Borges stirbt am 14. Juni 1986 in Genf.
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