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Gehirngerecht führen – die besten Leute gewinnen und halten

Campus,

15 Minuten Lesezeit
8 Take-aways
Audio & Text

Was ist drin?

Hormone haben im Berufsleben nichts zu suchen? Die Neurowissenschaft ist da anderer Meinung.


Bewertung der Redaktion

8

Qualitäten

  • Wissenschaftsbasiert
  • Augenöffner
  • Hintergrund

Rezension

Dass Männer und Frauen unterschiedlich arbeiten und führen, ist mittlerweile bekannt. Die neuesten Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft gehen aber weit mehr ins Detail. Sie beschreiben, wie nicht nur das Geschlecht, sondern vor allem unsere „Neurosignatur“ Verhalten und Leistung beeinflusst. Unternehmen, die das berücksichtigen, werden mit einer zufriedeneren und produktiveren Belegschaft belohnt, ist Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius überzeugt.

Take-aways

  • Die Persönlichkeit eines Menschen wird von seiner Neurosignatur geprägt, einer Mischung der vier Substanzen Dopamin, Serotonin, Testosteron und Östrogen.
  • In der Unternehmenswelt sind Menschen mit Dopamin-Testosteron-Signaturen deutlich in der Überzahl.
  • Etablieren Sie in Ihrem Unternehmen eine Ergebniskultur und kürzen Sie Arbeitszeiten und Meetings.
  • Die Grundlage einer Ergebniskultur ist Vertrauen.
  • Introvertierte Menschen werden im Arbeitsleben systematisch unterschätzt.
  • Je nach Neurosignatur braucht ein Mensch andere Voraussetzungen, um den Flow-Zustand zu erreichen.
  • Neurodiverse Unternehmen fördern die Vereinbarkeit von Karriere und Familie.
  • Neurodiverse Unternehmen vermeiden Gruppendenken.

Zusammenfassung

Die Persönlichkeit eines Menschen wird von seiner Neurosignatur geprägt, einer Mischung der vier Substanzen Dopamin, Serotonin, Testosteron und Östrogen.

Im Rahmen von Diversity-Programmen versuchen heute viele Unternehmen, eine besser durchmischte Belegschaft aufzubauen. Sie versprechen sich davon eine inklusivere und kreativere Unternehmenskultur, die zu mehr Innovation und größerer Mitarbeiterzufriedenheit führt. 

Diversity-Initiativen sind lobenswert, doch eine Dimension wird dabei kaum beachtet: Die Neurowissenschaft hat herausgefunden, dass es vier unterschiedliche „Neurosignaturen“ gibt. Mit Neurosignatur ist eine Mischung aus vier Substanzen gemeint, die jede Persönlichkeit beeinflusst. Diese vier Substanzen sind zwei Botenstoffe – Dopamin und Serotonin – und zwei Hormone – Testosteron und Östrogen. Je nach Individuum prägt die eine oder andere Substanz dessen Neurosignatur.

  • Dopamin-Signatur: Dopamin treibt uns an, wenn eine Belohnung in Aussicht steht. Dopamin-geprägte Menschen sind tatkräftig und neugierig, aber auch schnell gelangweilt. Sie haben viel Energie und lieben Veränderungen, neigen aber zu Leichtsinnigkeit.

  • Serotonin-Signatur: Serotonin ist für den Gefühlshaushalt wichtig. Personen mit Serotonin-Signatur sind zuverlässig und umsichtig, sie brauchen Routinen und Stabilität. Sie sind gut darin, Vertrauen aufzubauen, und verhalten sich meist ausgeglichen. Ihre Schwäche ist ein übertriebener Hang zur Akribie.

  • Östrogen-Signatur: Die Stärken dieser Signatur liegen im Umgang mit anderen und im kreativen Denken. Menschen mit Östrogen-Signatur sind intuitiv, idealistisch und fürsorglich, sie neigen allerdings auch zu Selbstkritik und zum Grübeln.

  • Testosteron-Signatur: Testosteron-geprägte Menschen sind tough und direkt. Sie denken systemisch und linear, sind produktiv und engagiert. Sie leisten viel, doch sie tendieren auch dazu, die Gefühle von anderen und ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren.

Jeder Mensch besitzt die beiden Botenstoffe Dopamin und Serotonin und die beiden Hormone Östrogen und Testosteron, allerdings in unterschiedlichen Verhältnissen. Männer haben häufiger eine Testosteron-Signatur als Frauen, aber bei Weitem nicht alle: Ungefähr 30 Prozent der Männer haben eine Östrogen-Signatur. Jede Signatur hat ihre Stärken und Schwächen, keine ist besser als die anderen.

In der Unternehmenswelt sind Menschen mit Dopamin-Testosteron-Signaturen deutlich in der Überzahl.

Die Unternehmenswelt wird heute von Menschen dominiert, deren Neurosignatur von Testosteron, Dopamin oder einer Mischung der beiden geprägt ist. Von den Spitzenführungskräften haben ungefähr 73 Prozent der Männer und 65 Prozent der Frauen eine Dopamin-Testosteron-Signatur. Entsprechend Dopamin/Serotonin-getrieben ist unsere Arbeitskultur. Wer anders tickt, muss sich anpassen und arbeitet ständig gegen die eigene Natur. Dieses Sich-verstellen-Müssen ist für die Betroffenen anstrengend. 

„Gezwungen zu sein, so zu tun, als wäre man jemand, der man nicht ist, beansprucht kognitive Ressourcen.“

Lange Arbeitszeiten, Ellbogen-Mentalität, Stress und Wettbewerb – mit all dem kommen Testosteron-Dopamin-Persönlichkeiten besser zurecht als Menschen mit anderen Signaturen. Diese fühlen sich unter Druck gesetzt, und paradoxerweise hindert sie dieser Druck sogar daran, Höchstleistung erbringen. Für Menschen mit Östrogen- und Serotonin-Signaturen ist ein solches Arbeitsumfeld ungesund und frustrierend.

Um bestmöglich zu funktionieren, brauchen menschliche Gemeinschaften aber alle Signaturen. Wenn unsere Vorfahren in der grauen Vorzeit zum Beispiel eine neue Art von Pilzen entdeckten, haben die Dopamin-Menschen sie direkt probiert. Die Serotonin-Menschen hingegen warteten lieber ab, ob man davon keine Bauchschmerzen bekommt. So waren Entdeckungen möglich, ohne gleich die ganze Gruppe zu gefährden. Das Prinzip ist einleuchtend: Kognitive Diversität macht uns als Kollektiv erfolgreicher.

Was in der Steinzeit galt, gilt auch in modernen Unternehmen. Je mehr unterschiedliche Sichtweisen aufgrund unterschiedlicher Neurosignaturen zusammenkommen, desto kreativer und innovativer geht es zu. Es ist darum Zeit, dass Unternehmen eine Kultur schaffen, in der sich alle Arten von Persönlichkeiten wohlfühlen.

Etablieren Sie in Ihrem Unternehmen eine Ergebniskultur und kürzen Sie Arbeitszeiten und Meetings.

Der wichtigste Schritt hin zu einer Unternehmenskultur, in der alle Neurosignaturen berücksichtigt werden, ist die Bewertung von Mitarbeitenden nach Ergebnissen. Es zählt nicht, wie viele Stunden sie im Büro verbringen, sondern was dabei rauskommt.

Kein menschliches Gehirn ist dazu gemacht, sich länger als drei Stunden am Stück wirklich zu konzentrieren. Wer mehr als sechs Stunden täglich arbeitet, verbringt automatisch einen großen Teil dieser Zeit mit Scheinarbeit. Man surft zum Beispiel im Internet oder trödelt an der Kaffeemaschine herum.

„Menschen sind während eines 8-stündigen Arbeitstags im Durchschnitt nur 3 Stunden lang wirklich produktiv.“

Immer mehr Firmen – ein bekanntes Beispiel ist Microsoft Japan – experimentieren deshalb mit kürzeren Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich. Und immer wieder zeigt sich: Nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeitenden steigt, sondern auch der Umsatz und die Qualität der Ergebnisse. Das liegt auch daran, dass solche Firmen andere Neurosignaturen anziehen. Die Atmosphäre, die sie bieten, ist entspannter und produktiver. Wenn ein Unternehmen eine gesunde Work-Life-Balance ermöglicht, erbringen dort auch Mitarbeitende mit Serotonin- und Östrogen-Signaturen Höchstleistungen.

Um eine ergebnisorientierte Unternehmenskultur zu etablieren, sollten Firmen zuerst einmal ein Pilotprojekt starten, in dem sie testen, was für sie passt. Nicht nur die totale Arbeitszeit kann begrenzt werden; hilfreich ist etwa auch die Zeitbegrenzung von Meetings: Es gibt eigentlich keine Frage, die nicht in einer halben Stunde geklärt werden könnte. Der Rest geht meist für die Ego-Show von Dopamin-Testosteron-Personen drauf.

Die Grundlage einer Ergebniskultur ist Vertrauen.

Eine Ergebniskultur kann sich nur dann etablieren, wenn Führungskräfte und Mitarbeitende sich gegenseitig vertrauen. Es gibt keinen schnellen und einfachen Weg, ein allgemeines gegenseitiges Vertrauen im Unternehmen aufzubauen. Vertrauen wächst langsam, und es ist schnell zerstört. 

Einige Schritte hin zu einer Vertrauenskultur sind offensichtlich, werden aber trotzdem häufig ignoriert. So sollte es sich zum Beispiel von selbst verstehen, dass Führungskräfte ehrlich und fair mit ihren Mitarbeitenden umgehen und eine positive Atmosphäre schaffen. Außerdem sollten alle versuchen, authentisch zu sein, anstatt Perfektion vorzugaukeln. Schwächen zu zeigen und Fehler zu gestehen ist für einen vertrauensvollen Umgang unerlässlich. 

Ebenfalls essenziell in Zeiten von Zoom und E-Mail ist der persönliche Kontakt. Wer sich im realen Leben kennt, fasst viel eher Vertrauen. Es gibt diverse einfache Möglichkeiten, das Kontakteknüpfen zu fördern. Etablieren Sie beispielsweise ein Ritual wie ein gemeinsames Frühstück. Das Unternehmen Trivago organisiert sogar monatliche „F**k Up Fridays“: Man trifft und unterhält sich über die doofsten Fehler, die man im letzten Monat gemacht hat. Wichtig ist, dass die persönlichen Kontakte in einer entspannten Stimmung stattfinden. Versuchen Sie also, Ihren eigenen Stress abzubauen, sobald Sie mit Ihren Kollegen und Kolleginnen zu tun haben – denn Stress ist ansteckend und führt dazu, dass wir nicht vertrauensvoll, sondern in ständiger Alarmbereitschaft interagieren.

Introvertierte Menschen werden im Arbeitsleben systematisch unterschätzt.

Die Neurosignatur sagt nichts darüber aus, ob jemand introvertiert oder extravertiert ist. Der wesentliche Unterschied zwischen Intro- und Extravertierten ist vielmehr, dass sich Erstere eher zurückziehen, um ihre Batterien wieder aufzuladen, während Letztere dafür Gesellschaft brauchen.

Introvertierte werden im Arbeitsleben systematisch unterschätzt, einfach weil sie sich nicht in den Mittelpunkt drängen und oft übersehen werden. Firmen- und Netzwerk-Events sind ihnen ein Gräuel – entsprechend weniger werden sie beachtet und entsprechend seltener befördert. Auch die Firmenkultur prägen sie weniger stark.

„Extravertierte sind nicht die besseren Führungskräfte.“

Dabei können Introvertierte hervorragende Arbeits- und Führungskräfte sein. Ihre intrinsische Motivation ist tendenziell höher als bei extravertierten Menschen. Sie sind weniger anfällig für Gruppendruck und folgen eher ihrem moralischen Kompass. Das kann Unternehmen vor Skandalen schützen.

Wie schafft man eine Unternehmenskultur, in der sich introvertierte Menschen wohlfühlen? Zunächst müssen ausreichend Rückzugs- und Ruheorte vorhanden sein. Wer möchte, soll die Bürotür schließen dürfen. Außerdem ist es für introvertierte Menschen wichtig, dass sie nicht zu Gesprächen und Zusammenkünften gezwungen werden. Sie sind dankbar für kurze Meetings und froh, wenn sie nicht angerufen werden – insbesondere, wenn eine E-Mail denselben Zweck erfüllt.

Je nach Neurosignatur braucht ein Mensch andere Voraussetzungen, um den Flow-Zustand zu erreichen.

Mit „Flow“ beschreiben wir jenen Zustand, in dem wir ganz in unserer Arbeit aufgehen und besonders produktiv sind. Wir erreichen diesen Zustand, wenn das Anforderungsniveau unseren Fähigkeiten entspricht: Wir dürfen uns weder langweilen noch überfordert sein.

„Finden Sie das richtige Niveau von Freude und Furcht, und der Fokus wird sich von selbst einstellen.“

Diese Balance ist für die verschiedenen Neurosignaturen unterschiedlich: Während Menschen mit Dopamin-Testosteron-Signatur unter Stress und Druck aufblühen und in den Flow geraten, sind andere mit dem gleichen Stressniveau überfordert. Neuroinklusive Führungskräfte wissen das und unterstützen ihre Mitarbeitenden darin, ein Umfeld zu schaffen, das weder zu stressig noch zu eintönig ist. Außerdem ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden nach einer Flow-Phase eine Pause einlegen dürfen, um sich zu regenerieren.

Neurodiverse Unternehmen fördern die Vereinbarkeit von Karriere und Familie.

Ein weiterer Faktor, der dazu beiträgt, dass in Unternehmen vor allem Dopamin- und Testosteron-Signaturen das Sagen haben, ist die Unvereinbarkeit von Karriere und Familie. Wenn sich Menschen mit Serotonin- oder Östrogen-Signatur zwischen ihrer Familie und einem Job entscheiden müssen, entscheiden sie sich für die Familie. Ihre privaten Beziehungen sind ihnen einfach zu wichtig. Wenn keine Zeit mehr für das Privatleben bleibt, kündigen immer mehr Mitarbeitende – außer diejenigen mit Dopamin- und Testosteron-Signatur.

Wenn ein Unternehmen also alle Neurosignaturen zufriedenstellen möchte, muss es eine gesunde Work-Life-Balance ermöglichen. Flexible Arbeitszeiten, betriebliche Kinderbetreuung und Freiwilligkeit bei Firmenreisen sind eine gute Basis. 

Firmen, die es wirklich ernst meinen, fordern ihre Mitarbeitenden aktiv dazu auf, bezahlte Elternzeit zu nehmen, und sie erleichtern ihren Leuten die Arbeit im Homeoffice. Es gibt sogar Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden eine Mitgliedschaft in einem Co-Working-Space in der Nähe ihres Wohnortes anbieten. So können sie in einer ruhigen Umgebung arbeiten oder Kunden empfangen, ohne einen langen Arbeitsweg auf sich zu nehmen. Auch ein Concierge-Service im Büro kann sich lohnen. Mitarbeitende werden damit bei ihren privaten Pflichten entlastet: Sie können Wäsche zur Reinigung bringen lassen oder spontan einen Babysitter organisieren, falls sie mal länger im Büro bleiben müssen.

Und schließlich haben Maßnahmen wie diese noch einen weiteren Vorteil: Die sogenannte Care-Arbeit kann gleichmäßiger auf Frauen und Männer verteilt werden – ein zusätzlicher Gewinn für die Diversität im Arbeitsumfeld.

Neurodiverse Unternehmen vermeiden Gruppendenken.

Gruppendenken ist ein sozialer Mechanismus, bei dem abweichende Denkstile unterdrückt werden. Wo Gruppendruck herrscht, werden öfter falsche Entscheidungen getroffen und Innovationen im Keim erstickt. Die Gruppe blendet aus, was sie nicht sehen will, und Stereotype werden verstärkt. Wenn sich dieser Mechanismus verselbstständigt, handelt und denkt die Gruppe wie gleichgeschaltet.

Führungspersonen, die Neurodiversität fördern möchten, sind sich dieses Problems bewusst und arbeiten aktiv gegen das Gruppendenken. Das heißt zuallererst, dass sie abweichende Meinungen gezielt einfordern und unterstützen. Widerspruch nehmen sie ernst, selbst wenn die Kritik nicht besonders fundiert ist.

„Unterschätzen Sie nicht die Macht, die eine Führungskraft dadurch ausübt, dass sie Experten oder Daten auswählt, die ‚beweisenʻ, dass sich die Gruppe hinter ihre Vision stellen muss.“

Manchmal hilft Anonymität dabei, problematische Gruppendynamik zu vermeiden. So kann es sich beispielsweise lohnen, dass vor einem Meeting alle Teilnehmenden ihre Ideen anonym notieren. Denn wenn sich erst mal eine Denkrichtung herauskristallisiert hat, halten viele Menschen ihre ursprünglichen Ideen zurück, um nicht anzuecken. Ähnliches gilt für Abstimmungen: Auch sie sollten anonym erfolgen. Natürlich geht es in Arbeitsgruppen, die Neurodiversität zulassen, oft stürmisch zu. Aber genau das ist das Ziel: Sie wollen alle Sichtweisen kennen, bevor Sie sich für eine entscheiden. 

Erinnern Sie sich an Galileo Galilei: Für seine Behauptung, dass die Erde um die Sonne kreist, wurde er zu Hausarrest verurteilt und aus der Kirche ausgeschlossen. Dennoch hatte er Recht. Jedes Unternehmen, das mehr Galileis unter seinen Mitarbeitenden möchte, sollte sich heute mit dem Thema Neurodiversität auseinandersetzen und sie gezielt fördern.

Über die Autorin

Friederike Fabritius war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Max-Planck-Institut für Hirnforschung und Beraterin bei McKinsey. Heute vermittelt sie ihre Kenntnisse an das Management internationaler Konzerne.

Dieses Dokument ist für den persönlichen Gebrauch bestimmt.

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