Cornelius Tacitus
Germania
Artemis & Winkler, 2001
Was ist drin?
Bierselige Proleten? Ja, aber auch tapfere Krieger und treue Ehemänner: Tacitus beschreibt die Germanen halb verächtlich, halb bewundernd.
- Anthropologie
- Römische Antike
Worum es geht
Bewundernswerte Barbaren
Germania ist ein erstaunliches Buch. Nicht nur ist es die einzige erhalten gebliebene ethnografische Einzelschrift der Antike. Es besticht auch durch die Prägnanz, mit der der Römer Tacitus das unheimliche Volk im Norden fassbar macht. Dies tut er mit einer Mischung aus Dünkel, Furcht und Bewunderung: Die Wildheit und Unkultur der Barbaren widert ihn zwar an, gleichzeitig aber lobt er deren Einfachheit und Unverdorbenheit – genau jene Eigenschaften, die er im dekadenten Rom vermisst. Während er die materielle und sexuelle Gier seiner Landsleute beklagt und sie des Sittenzerfalls bezichtigt, malt er das Leben der Germanen in bunten Farben und lobt ihre Tugenden, so seltsam sie ihm auch scheinen mögen. Das ist aus heutiger Sicht an vielen Stellen lustig, an anderen stimmt es verblüffend genau mit der heutigen Wahrnehmung der Deutschen überein. Beklemmend wird die Lektüre erst, wenn man die Wirkungsgeschichte des kleinen Werks in Betracht zieht: Als Warnung für die stolzen Römer geschrieben, befeuerte es ironischerweise den deutschen Germanenkult in der Romantik ebenso wie im Nationalsozialismus – aber dafür kann ja Tacitus nichts.
Take-aways
- Tacitus gilt als bedeutendster Historiker des alten Rom.
- Germania ist die einzige erhaltene ethnografische Einzelschrift der Antike.
- Inhalt: Das Volk der Germanen setzt sich aus einer Vielzahl von Stämmen zusammen. Großgewachsen, blond und blauäugig, vermischten sie sich nicht mit anderen Völkern, weshalb sie ihre besonderen Eigenschaften bewahren konnten: Sie sind mutig, ernsthaft, trinkfreudig, unkultiviert, leben einfach und kommen ohne autoritäre Führung aus.
- Tacitus beschreibt die Germanen mit der Überheblichkeit des kultivierten Römers, lobt aber gleichzeitig ihre Einfachheit und Ehrlichkeit.
- An vielen Stellen schimmert seine Verachtung für die dekadente römische Lebensweise durch.
- Heute geht man davon aus, dass Tacitus mit seiner Schrift Propaganda betreiben wollte. Ob für oder gegen einen Germanienfeldzug, bleibt allerdings unklar.
- Deutsche Gelehrte haben sich seit dem 16. Jahrhundert die vorteilhaften Stellen herausgepickt. In der Romantik entstand so ein regelrechter Germanenkult.
- Auch die Nationalsozialisten beriefen sich in ihrem Rassenwahn auf die Germania.
- Es gelang den Römern nie, die Germanen zu besiegen. Entscheidend war die Niederlage im Teutoburger Wald im Jahr 9 n. Chr., bei der 20 000 Römer fielen.
- Zitat: „Wer würde (...) Kleinasien oder Afrika oder Italien verlassen, um nach Germanien zu ziehen mit seinen hässlichen Landschaften, dem rauen Klima, dem trostlosen Äußeren – es sei denn, es ist seine Heimat?“
Zusammenfassung
Land und Leute
Germanien wird durch die Flüsse Rhein und Donau, durch Gebirge und durch den Ozean begrenzt. Benachbarte Völker sind die Gallier, die Räter, die Sarmaten und die Daker. Es geht die Legende, dass es Ulixes (Odysseus) auf seinen Irrfahrten nach Germanien verschlagen habe; Asciburgium (Asberg bei Moers) soll von ihm gegründet worden sein. Das Volk der Germanen ist nicht vermischt mit anderen Völkern. Für Nichtgermanen gibt es auch gar keinen Grund, sich in den unwirtlichen Landschaften niederzulassen. So sind die Germanen ein reines, unverwechselbares Volk geblieben: Sie haben alle blaue Augen und rotblondes Haar, sind groß und plump, kräftig, aber nicht ausdauernd. Ihr Land mit seinen Wäldern und Sümpfen ist entsetzlich. Obstbäume gedeihen dort nicht, Getreide allerdings schon. Das Vieh ist von kleinem Wuchs. Silber- und Goldvorkommen fehlen, zumindest hat noch niemand danach gesucht, denn die Germanen sind gewöhnlich nicht interessiert an den Edelmetallen. Nur diejenigen, die in Nachbarschaft zu den Römern leben, haben gelernt, sie als Zahlungsmittel anzunehmen. Die Stämme, die mit dem Römischen Reich nicht in Kontakt stehen, tauschen noch ihre Waren.
Kriegs- und Gemeinwesen
Eisen gibt es bei den Germanen kaum; die Krieger verwenden für ihre Waffen nur wenig davon, lediglich kleine, scharfe Spitzen. Ihre Ausrüstung ist nicht aufwändig, ebenso wenig die der Pferde. In Schlachten setzen sie ganz auf das Fußvolk. Die Front richten sie dabei stets keilförmig aus. Es gilt nicht als unrühmlich, seinen Posten zu verlassen, wenn man wieder zurückkommt, aber es ist die größte Schande, den Schild zu verlieren. Nicht wenige versuchen ihr durch Selbstmord zu entgehen. Die Macht der Heerführer und Könige ist nicht uneingeschränkt und beruht auf Respekt. Menschen können nicht einfach festgenommen und hingerichtet werden, es sei denn von Priestern. Der Glaube der Germanen stärkt sie im Krieg, sie nehmen auch religiöse Symbole mit in die Schlachten. Die wichtigste Unterstützung ist aber die Anwesenheit der Familie. Verwandte bilden zusammen die Keile der Front, und die Frauen halten sich während der Schlachten ganz in der Nähe auf, um Zeugen zu sein und ihren Männern Mut zu machen. Frauen sollen sogar schon wankende Heere wieder aufgerichtet haben, indem sie den Kriegern ihre Brüste entgegenstreckten und vor der drohenden Gefangenschaft warnten.
„Wer würde (...) Kleinasien oder Afrika oder Italien verlassen, um nach Germanien zu ziehen mit seinen hässlichen Landschaften, dem rauen Klima, dem trostlosen Äußeren – es sei denn, es ist seine Heimat?“ (S. 10)
Über wichtige Angelegenheiten befindet die ganze Gemeinschaft. Die Germanen treffen sich bei Voll- oder Neumond (die Nacht ist ihnen wichtiger als der Tag), allerdings gelingt es ihnen kaum, pünktlich zusammenzukommen. An der Volksversammlung kann man auch anklagen. Verbrecher, etwa Verräter, werden an Bäumen aufgehängt und damit öffentlich bloßgestellt, Schandtaten hingegen werden eher verborgen, Feiglinge z. B. im Moor versenkt. Leichtere Vergehen werden mit der Abgabe von Pferden und Vieh gesühnt.
„Ich selbst schließe mich der Meinung derjenigen an, die glauben, Germaniens Völkerschaften seien nicht durch Heiraten mit anderen Völkern zum Schlechten hin beeinflusst und seien deshalb ein eigener, reiner und nur sich selbst ähnlicher Menschenschlag geworden.“ (S. 11)
Die Germanen tragen immer Waffen bei sich, egal was sie tun. Waffen zu tragen, gilt als Zeichen der Mannbarkeit. In einer Zeremonie wird dem Heranwachsenden diese Ehre zuteil. Entsprechend wichtig ist es, sich im Kampf zu erproben. Sollte im eigenen Stamm zu lange Frieden herrschen, so verlassen ehrgeizige junge Männer die Heimat und gehen dorthin, wo gekämpft wird. Fleißig sein Feld zu bestellen, ist hingegen nicht hoch angesehen – die notwendigen Arbeiten erledigen Frauen und Ältere. Städte kennen die Germanen nicht. Sie wohnen vereinzelt: In den Dörfern hängen die Gebäude nicht zusammen wie bei den Römern, jedes Haus steht frei. Man baut nur mit unschönem, unbehauenem Holz, manche Wände werden mit heller Erde bestrichen. Als Vorratskammern und zur Zuflucht im Winter graben die Leute Gruben und decken sie mit Reisig ab, damit der Feind sie nicht findet.
Religion und Orakel
Höchster Gott der Germanen ist Merkur, ihm werden sogar Menschen geopfert. Herkules und Mars bringen sie Tieropfer. Die Götter werden auf heiligen Lichtungen verehrt, nicht aber in Tempeln, weil es den Germanen widerstrebt, Götter einzusperren. Menschenähnliche Darstellungen von Göttern gelten als unwürdig. Orakel sind den Germanen wichtig wie niemandem sonst. Es gibt Losorakel, bei denen kleine, mit Zeichen versehene Zweige auf einem Tuch ausgeschüttet werden, worauf sie ein Priester deutet. Wie bei den Römern wird auch der Vogelflug gedeutet. Speziell germanisch ist der Brauch der Pferdeorakel: Man achtet auf das Schnauben und Wiehern spezieller heiliger Schimmel.
Ehe und Familie
Die Germanen kleiden sich nur in einen Mantel, der mit einem Dorn geschlossen wird, darunter sind sie nackt. Manche tragen auch Tierfelle. Alles wird ohne ästhetischen Ehrgeiz gefertigt. Die Frauen bekleiden sich oft mit rot gefärbten Umhängen aus Leinen, die die Arme und sogar einen Teil der Brust frei lassen. Trotzdem gelten die Ehen lobenswerterweise als verbindlich, die Vielehe ist weitgehend unbekannt. Orgien sind den Germanen fremd, Ehebruch gibt es kaum. Wenn es doch dazu kommt, prügelt der Mann seine untreue Frau nackt und mit kahl geschorenem Kopf durchs Dorf. Noch besser sind die Sitten jener Stämme, in denen nur Jungfrauen heiraten dürfen. Die Mütter überlassen das Stillen nicht den Ammen, sondern übernehmen es selbst. Die jungen Leute haben erst spät ihre ersten sexuellen Kontakte, das erhält lange ihre Kraft, die sie weitervererben können. Kinderlosigkeit bringt keinen materiellen Vorteil.
Feste, Riten, Spiele
Die Germanen sind ein sehr gastfreundliches Volk. Beim Bewirten machen sie keinen Unterschied zwischen Fremden und Bekannten, eine Einladung braucht es nicht. Geschenke werden gerne angenommen, aber nicht gegeneinander aufgerechnet. Germanen sind große Zecher – eine Schwäche, die man ausnutzen kann. Wenn sie getrunken haben, sprechen sie ganz ohne Berechnung. Die Betrunkenen geraten nicht selten in Streitereien, die tödlich enden können. Getrunken wird ein Gersten- oder Weizengebräu, die Stämme an Rhein und Donau mögen auch Wein. Auf die Speisen hingegen legen sie nicht viel Wert, sie sind einfach zubereitet und ungewürzt.
„Sie glauben sogar, irgendetwas Heiliges und Seherisches wohne den Frauen inne, und deshalb weisen sie weder ihre Ratschläge zurück, noch übergehen sie ihre Bescheide.“ (S. 14)
An Darbietungen kennen sie nur eine: Junge Männer werfen sich nackt zwischen Schwerter, zur Ergötzung der Zuschauer. Die Germanen spielen auch Würfelspiele, aber merkwürdigerweise nie in betrunkenem Zustand. Das Spiel ist für sie eine sehr ernste Sache; es geht oft nicht nur um Haus und Hof, sondern am Ende gar um Freiheit und Leben. Starrsinnig erfüllen sie die eingegangene Wette, lassen sich gefangen nehmen und als Sklaven verkaufen. Sklaven behandeln sie aber anders als die Römer: Jeder von ihnen hat ein eigenes Haus, der Sklave ist mehr Pächter als Diener. Die häuslichen Arbeiten des Herrn übernehmen die Frauen und Kinder. Sklaven werden selten bestraft, manchmal aber totgeschlagen – in einem Wutanfall, als handele es sich bei dem Sklaven um einen Intimfeind. Strafbar ist das nicht.
„Über weniger wichtige Angelegenheiten entscheiden die führenden Männer, über die bedeutenden alle, jedoch so, dass auch die Fragen, über die das Volk befindet, von den führenden Männern vorbehandelt werden.“ (S. 16)
Der germanische Beerdigungsritus ist schlicht, nur berühmte Männer werden mit besonderen Hölzern zusammen verbrannt. Den Toten werden ihre Waffen mitgegeben, manchen auch das Pferd. Das Grab wird durch einen Grashügel bezeichnet. Aufwändige Mausoleen wären in den Augen der Germanen eine Last für die Toten.
Einzelne germanische Stämme
Die Gallier waren einst mächtiger als die Germanen, wie schon Julius Cäsar berichtet. Deswegen kamen wohl auch Gallier nach Germanien: Zwischen dem Herkynischen Wald (die Mittelgebirge nördlich der Donau und östlich des Rheins) und den Flüssen Rhein und Main lebten einst die Helvetier, weiter östlich die Boier, beide Völker waren gallisch. Bei anderen Stämmen ist die Herkunft unklar; die Treverer und die Nervier aber pochen geradezu auf ihre germanische Abstammung, wohl um eine eher gallische Trägheit von sich zu weisen. Besonders romtreue Stämme siedeln am Rheinufer, die tapfersten von ihnen sind die Bataver, die auf einer Insel im Rhein leben. Sie genießen Steuerfreiheit und müssen sich lediglich für Schlachten bereithalten.
„Allen Geschäften öffentlicher und privater Natur aber gehen sie in Waffen nach.“ (S. 17)
Im Herkynischen Wald leben die Chatten. Weil ihr Stammesgebiet hügelig und nicht sumpfig ist, haben sie zähere Körper und sind geistig regsamer. Für Germanen erstaunlich, gehen sie sehr planvoll und strategisch vor. Sie sind militärisch gut organisiert und befolgen die Befehle ihrer Vorgesetzten, sie greifen bei Tag an und warten günstige Gelegenheiten ab. Bei ihnen zählt, wie sonst nur in Rom, der Heerführer mehr als das Heer. Äußerlich sind viele Chatten an ihren langen Haaren und ihrem langen Bart zu erkennen. Das Ablegen der Haartracht ist nur erlaubt, wenn man den ersten Feind getötet hat. Feiglinge bleiben so lebenslang erkennbar. Ansonsten sind die Chatten ungesittet, sie besitzen kein Haus, keinen Acker und leben von dem, was andere ihnen überlassen.
„Wenn sie nicht in den Krieg ziehen, verbringen sie nicht viel Zeit mit der Jagd, mehr mit Nichtstun, dem Schlafen und Essen ergeben.“ (S. 19)
Die Brukterer wurden von den Chamavern und Angrivariern vertrieben oder getötet: 60 000 fielen in Schlachten – ein besonderes Schauspiel für die Römer, denen es sehr gelegen kommt, wenn Feinde sich gegenseitig hassen und ausrotten. Im Westen stoßen die Friesen an das Gebiet der Sieger, danach kommt schon der Ozean. Im Norden bewohnen die Chauken ein riesiges Gebiet. Sie sind ein sehr friedlicher Stamm und beginnen keine Kriege, obwohl sie militärisch gut ausgerüstet sind; dennoch genießen sie einen vorzüglichen Ruf. Den benachbarten Cheruskern dagegen ist das Friedlichsein nicht bekommen, sie sind schlaff geworden und gelten jetzt als dumm und träge. An der gleichen Bucht wie sie siedeln die Kimbern, ein berühmter Stamm, von dem die Römer zum ersten Mal vor 210 Jahren gehört haben. So lange kämpft Rom jetzt schon gegen die Germanen. Weder die Gallier noch die Spanier haben den Römern mehr zu schaffen gemacht – das liegt daran, dass die Germanen so ungebunden sind.
Suebische Stämme
Die Sueben gliedern sich ihrerseits in mehrere Stämme, sie nehmen den größten Teil Germaniens ein. Charakteristisch für sie alle ist, dass sie das Haar zu einem Knoten hochstecken, um vor Feinden größer zu erscheinen. Ein suebischer Stamm, die Semnonen, schlachtet Menschen im Rahmen eines religiösen Kults. Verschiedene andere Stämme eint, dass sie Nerthus, Mutter Erde, vergöttern. Die Festtage zu ihren Ehren gehen so vor sich: Ein Priester bemerkt, wenn die Göttin sich unter die Menschen mischen will, und fährt sie auf einem Wagen aus ihrem heiligen Hain. Wenn die Göttin genug hat von den Menschen, geleitet derselbe Priester sie wieder zurück, anschließend werden der Wagen und die Gottheit selbst in einem geheimen See gewaschen. Die Sklaven, die diese Arbeit verrichten, werden vom See verschlungen.
„Trotzdem hält man dort die Ehen streng ein, und keinen Bereich ihrer Sitten sollte man mehr loben. Denn fast als Einzige unter den Barbaren geben sie sich mit einer Frau zufrieden (...) “ (S. 21)
Die Hermunduren, in deren Stammesgebiet die Elbe entspringt, zeichnen sich durch besondere Treue zu den Römern aus; deshalb dürfen sie als Einzige frei die Grenze zum Römischen Reich passieren. Sogar die römischen Häuser stehen ihnen offen. Die Nahanarvaler im Süden Germaniens sind für ihre Furcht einflößende Aufmachung bekannt: Sie bemalen ihre Körper und Schilde schwarz und greifen nur in dunklen Nächten an. Der Feind erschrickt tief vor diesem Gespensterheer. Ganz im Norden, schon auf den Inseln des Ozeans, leben die Svionen. Sie haben die Befehlsgewalt einem einzigen Mann übertragen und leisten ihm unbedingten Gehorsam. Bemerkenswert ist außerdem, dass sie ihre Waffen wegsperren und von Sklaven bewachen lassen – weil das Meer zumeist ein hinreichender Schutz gegen Angriffe ist, und weil Waffen in Friedenszeiten zu Aufruhr führen können.
„Als Getränk dient ihnen ein Saft aus Gerste oder Weizen, der zu einem weinähnlichen Gebräu vergoren ist (...)“ (S. 25)
Auch die Ästier sind vom Meer umgeben. Sie sehen aus wie die Sueben und pflegen die gleichen Bräuche wie sie, ihre Sprache ist aber der britannischen ähnlich. Sie glauben an die Göttermutter und tragen als Zeichen dieses Aberglaubens und zur Abwehr von Gefahren Bilder von Ebern. Was den Ackerbau betrifft, sind sie weniger faul als die übrigen Germanen. Auch das Meer trägt für sie Früchte: Sie sammeln Bernstein, bearbeiten ihn aber nicht selbst. Seinen Wert wissen diese Barbaren erst zu schätzen, seit die Römer ihnen den Bernstein abkaufen. Die Sithonen schließlich sind wie alle Sueben – bis auf die Tatsache, dass sie eine Frau zur Herrscherin haben. Sie sind also nicht nur keine freien Männer, sondern nicht einmal so viel wert wie Sklaven.
„Wenn man ihrem Hang zum Trinken entgegenkommt, indem man ihnen hinstellt, soviel sie wollen, wird man sie nicht weniger leicht durch diesen Fehler als mit Waffen besiegen.“ (S. 25)
Nicht suebisch, aber erwähnenswert sind die Fennen, weil sie besonders wild leben. Sie haben keine Häuser, keine Pferde, keine Kriegswaffen, sie bestellen keine Felder – das ist ihnen zu mühsam –, sondern sie leben von der Jagd und suchen nur unter geflochtenen Zweigen Schutz. So ganz ohne Wünsche, fühlen sie sich sorglos. Noch wilder sollen Gerüchten zufolge die Hellusier und die Oxionen sein, deren Angehörige halb Tier, halb Mensch sind. Das ist aber nicht verbürgt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Germania ist eine schmale Schrift von rund 40 Seiten. Tacitus hat keine Zwischentitel gesetzt, den Text aber in 46 Abschnitte gegliedert. Dabei folgt er dem Prinzip der assoziativen Reihung, das er zwar nicht erfunden hat, dessen gleitende Übergänge er aber meisterhaft beherrscht. So kommt er z. B. vom Land zu dessen Erzeugnissen, darunter das Eisen, geht zum Thema Bewaffnung über, dann zu den Pferden, der Reiterei, dem Fußvolk usw. Die Abschnitte 1–27 behandeln die Germanen im Allgemeinen, die Abschnitte 28–46 widmen sich einzelnen Stämmen. Den Sueben wird aufgrund ihrer geografischen Ausdehnung und ihrer zahlreichen Unterstämme am meisten Platz eingeräumt. Tacitus schreibt sachlich, aber nicht ohne Witz; der Text enthält viele griffige Sentenzen und rhetorische Kabinettstückchen, vor allem zum Abschluss der Kapitel. Über die Haartracht der Sueben schreibt Tacitus etwa: „So putzen sie sich, wenn sie in den Krieg ziehen, heraus und schmücken sich für die Augen ... der Feinde.“
Interpretationsansätze
- Tacitus zeichnet kein realistisches Bild Germaniens. Manche Details mögen zwar stimmen, aber bei vielen Stellen lassen sich die Abweichungen von der Wirklichkeit durch andere Quellen belegen.
- In seiner ethnozentrischen Darstellung wird das fremde Volk an den Maßstäben des eigenen gemessen und erscheint als dessen verzerrtes Spiegelbild, als „verkehrte Welt“. Tacitus’ Beobachtungen sind selektiv, sie lassen die Konflikte und das Selbstverständnis der römischen Gesellschaft durchscheinen und sind überdies von persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen geprägt.
- Von zahlreichen Vorgängern übernimmt Tacitus das Barbarenklischee: Die Germanen sind die „Wilden“ im Gegensatz zu den „Zivilisierten“, den Römern. Diese Wilden werden belächelt, aber auch bestaunt und romantisiert – eine Betrachtungsweise, die jener ähnelt, mit der Urvölker bis heute beschrieben werden.
- Tacitus scheint vom dekadenten Rom enttäuscht zu sein. Zwar wird er nicht müde zu betonen, was es den Barbaren im Gegensatz zu den Römern fehlt (z. B. Städte, Heerführer, Esskultur), er lobt aber auch die Dinge, die es bei den Germanen noch gibt und bei den Römern nicht mehr: Einfachheit, Natürlichkeit, Aufrichtigkeit, Treue.
- Die Absicht, mit der Tacitus den Text schrieb, ist unklar. Er äußert sich dazu an keiner Stelle. Die Theorie vom Sittenspiegel der ersten Humanisten im 15. Jahrhundert geht davon aus, dass er die Sitten der Germanen direkt mit denen der Römer vergleichen wollte. Diese Theorie wurde im 18. Jahrhundert dahingehend zugespitzt, dass es sich um eine Satire auf römische Zustände handeln soll.
- Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Schrift als Propaganda gedeutet. Was Tacitus’ konkret bewegen wollte, bleibt jedoch unklar. Manche Interpreten glauben, er habe Kaiser Trajan vor einem Feldzug gegen die Germanen warnen wollen, andere sprechen im Gegenteil gerade von einem Aufruf zum Kampf.
Historischer Hintergrund
Römer gegen Germanen
Im Zuge der Ausweitung ihres Imperiums versuchten die Römer ab 113 v. Chr. immer wieder, auch Germanien zu unterwerfen. Es gab gewonnene wie verlorene Schlachten gegen einzelne germanische Stämme. Ziemlich erfolgreich war Julius Cäsar, der 58. v. Chr. im Elsass eine entscheidende Schlacht gegen linksrheinisch vorgestoßene Germanen gewann und den Rhein als Grenze zu Germanien etablieren konnte. Unter Kaiser Augustus, der Rom von 31 v. Chr. bis 14 n. Chr. regierte, wagte der Feldherr Claudius Drusus zahlreiche Vorstöße nach Germanien. Viele heutige deutsche Städte gehen auf römische Kastelle zurück, die damals zur Sicherung der Grenzen angelegt wurden, etwa Trier, Mainz oder Bonn. Im Jahr 9 n. Chr. brachten die Germanen den Römern jedoch in der Hermannsschlacht im Teutoburger Wald die entscheidende Niederlage bei: 20 000 Römer fielen, ein Großteil der am Rhein stationierten Truppen. Heerführer aufseiten der Germanen war der Cherusker Arminius („Hermann der Cherusker“), der unterlegene römische Feldherr war Publius Quinctilius Varus.
Nach dieser Niederlage verzichtete Augustus auf weitere große Angriffe gegen die Germanen, und seine Nachfolger hielten es ebenso. Man beschränkte sich auf Abwehrkämpfe und eng begrenzte Offensiven. Damit versuchte man, die Germanen zur Kooperation zu bewegen. Einige Stämme arrangierten sich durchaus mit ihren imperialen Nachbarn, andere aber blieben feindlich. Das erforderte über längere Zeit eine aufwändige und teure römische Truppenpräsenz an der Grenze – die den Germanen u. a. ein Straßennetz entlang dem Rhein bescherte. Das Spezielle an der Beziehung zwischen den ungleichen Gegnern war, dass das Weltreich Rom, das zu Tacitus’ Lebzeiten seine maximale Ausdehnung über drei Kontinente hatte, keiner organisierten Großmacht gegenüberstand, sondern einem Volk aus unabhängigen Stämmen.
Entstehung
Tacitus schrieb die Germania offenbar zwischen 98 und 111 n. Chr.; Hinweise im Text auf kaiserliche Regierungszeiten machen diesen Zeitraum am wahrscheinlichsten. Es müssen ihm verschiedene Quellen vorgelegen haben, mit einiger Wahrscheinlichkeit Schriften von Titus Livius, Velleius Paterculus und Plinius dem Jüngeren. Im Zusammenhang mit Gallien nennt Tacitus an einer Stelle explizit Cäsar (Der Gallische Krieg). Es ist davon auszugehen, dass eine große Zahl von Schriften der antiken Geschichtsschreibung nicht überliefert sind. Das Gliederungsprinzip der assoziativen Reihung war typisch für diese Gattung, Vorbild war u. a. Herodot (Historien, fünftes Jahrhundert v. Chr.). Die vielen Richtungsangaben im Text deuten darauf hin, dass Tacitus neben historischen Schriften eine Karte benutzte. Manches hat er wohl auch von Augenzeugen erfahren, etwa von Offizieren, die an der Grenze zu Germanien stationiert waren, oder von Händlern, die aus dem Landesinneren zurückkehrten. Der Autor selbst war wahrscheinlich nie in Germanien.
Wirkungsgeschichte
Nur ein einziges Exemplar der Germania blieb bis in die Renaissance erhalten: Ein Agent des italienischen Humanisten Poggio Bracciolini fand es 1455 in der Abtei Hersfeld und brachte es nach Rom. Vatikanische Geistliche benutzten die Germania sogleich im diplomatischen Kontakt mit Deutschland, mal zugunsten und mal zuungunsten der Deutschen: Enea Silvio de Piccolomini, der später Papst wurde, zog die Schrift 1458 heran, um Vorwürfe aus Deutschland über vatikanische Misswirtschaft zu kontern. Der päpstliche Gesandte Giannantonio Campano dagegen berief sich 1471 in einer Rede in Regensburg auf die alte Kampfeslust der Germanen, um die Regensburger mit dem antiken Vorbild zum Krieg gegen die Türken zu animieren. 1470 wurde die Schrift in Nürnberg erstmals gedruckt. In der Folge ließen italienische Humanisten die „nördlichen Barbaren“ immer wieder ihre kulturelle Unterlegenheit spüren.
Anfang des 16. Jahrhunderts begannen deutsche Gelehrte, die Germanen mit den Deutschen gleichzusetzen und die Stellen der Germania zusammenzutragen, in denen Positives über ihr Volk stand – bzw. das Negative ins Positive zu wenden: Aus Grobschlächtigkeit wurde Stärke, aus Dumpfheit Schlichtheit, aus Starrsinn Treue. Diese Mystifizierung verband sich mit Trotz gegen die verfeinerte (französische) Leitkultur des Barock. Man leitete aus der Schrift auch politische Forderungen ab, z. B. einen deutschen Anspruch auf das Elsass. Anfang des 19. Jahrhunderts, als in der Romantik das deutsche Nationalbewusstsein erwachte, wurde die Germania besonders häufig herangezogen. Man teilte Europa in zwei kulturelle Lager, zum einen in das germanische, repräsentiert durch den großen, blonden, blauäugigen Germanen, der aufrichtig, freiheitsliebend, mutig, bodenständig und treu ist, zum anderen in das Lager der finsteren, kleinen, dunkelhaarigen, durchtriebenen Romanen. Insbesondere das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich war lange Zeit von diesen Klischees belastet. Und doch war es kurioserweise ein Franzose, der Diplomat Joseph Arthur Graf Gobineau, der 1853 die „Arier“ und speziell die Germanen zur Eliterasse erklärte – eine Lehre, die Adolf Hitler beeinflusste und das theoretische Fundament für den mörderischen Rassenwahn des Nationalsozialismus legte.
Über den Autor
Cornelius Tacitus wird vermutlich um 55 n. Chr. geboren, möglicherweise in Südgallien, der heutigen Provence; die Region ist ihm jedenfalls vertraut. Über sein Leben ist nur wenig bekannt. Vereinzelte Informationen finden sich in seinen eigenen Texten und in denen anderer Autoren, vor allem seines Freundes Plinius des Jüngeren. Um das Jahr 77 n. Chr. verlobt er sich und heiratet kurze Zeit danach; das Leben seines Schwiegervaters Julius Agricola beschreibt er später in Agricola (98 n. Chr.). Wohl im selben Jahr verfasst er die Germania, in der er jenes Volk nördlich der Alpen charakterisiert, das sich zum gefürchtetsten Gegner der Römer entwickelt hat. Wie viele ehrgeizige junge Römer besucht Tacitus die Rhetorenschule, die auf eine Karriere als Anwalt und Politiker vorbereitet, und durchschreitet dann die übliche Ämterlaufbahn bis hin zum Konsul. Zwischen 112 und 114 n. Chr. regiert er als Prokonsul die Provinz Asia, die dem westlichen Teil der heutigen Türkei entspricht. Plinius der Jüngere beschreibt ihn als besonders begabten Redner und Anwalt. Beide, Plinius und Tacitus, werden im Jahr 100 n. Chr. vom Senat mit der Anklage gegen Marius Priscus, den ehemaligen Statthalter der Provinz Africa, beauftragt: Dieser soll die Bewohner der Provinz erpresst haben. Tacitus’ Hauptwerke sind die Historien und die Annalen, sie machen ihn zum bedeutendsten Historiker Roms. Die Historien, fertiggestellt um 109 n. Chr., behandeln die Periode vom Vierkaiserjahr 69 n. Chr. bis zum Ende der flavischen Dynastie 96 n. Chr. In den Annalen, an denen er vermutlich bis zu seinem Tod arbeitet, widmet er sich der Geschichte vom Tod des Kaisers Augustus 14 n. Chr. bis zum Tod Neros im Jahr 68 n. Chr. Tacitus hat einen ausgeprägten Sinn für Spiritualität, er ist Mitglied einer der bedeutendsten römischen Priesterschaften. Er stirbt vermutlich um das Jahr 120 n. Chr.
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