Ödön von Horváth
Geschichten aus dem Wiener Wald
Suhrkamp, 2001
Was ist drin?
Ein Volksstück warnt vor der dumpfen Spießerseele: Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ sind im wahrsten Sinne zum Heulen komisch.
- Drama
- Neue Sachlichkeit
Worum es geht
Ein Alptraum der Gemütlichkeit
Eigentlich ist die Welt in dieser stillen Straße im achten Bezirk von Wien ja ganz in Ordnung: ein Metzger, eine Tabakbudenbesitzerin und ein Spielwarenhändler gehen ihren alltäglichen Geschäften nach. Da wird gesungen und geschunkelt, geflirtet und geflucht, sich gepaart und getrennt. Ein naives Mädchen, längst verlobt, wirft sich einem ausgemachten Schurken an den Hals, bezahlt ihren Ausbruch mit dem Tod ihres Kindes und landet am Ende doch in den Armen ihres ungeliebten, aber braven Bräutigams. Eine ganz normale Geschichte, möchte man meinen, wie sie fast täglich in der Zeitung steht. Doch genau in dieser scheinbaren Alltäglichkeit und in der zur Schau gestellten Gemütlichkeit liegt ihr Schrecken. Hinter den Masken gesitteter Kleinbürger glotzen uns albtraumhafte Ungeheuer an: Da sticht ein Metzger wonnevoll eine Sau ab und denkt dabei an seine verflossene Verlobte. Eine alte Frau stellt ihren unehelich geborenen Urenkel in die Zugluft und behauptet, ein "Bankert" habe kein Lebensrecht vor Gott. Kritiker warfen Horváth bitterbösen Zynismus vor. Seine Antwort darauf: Er schildere die Welt nur so, wie sie "halt leider ist". Und tatsächlich: Personen, Dialoge und Situationen kommen uns auch heute noch merkwürdig bekannt vor. Eigentlich sind unsere Nachbarn, Eltern und Kollegen ja ganz in Ordnung. Aber was, wenn sie einmal die Masken fallen lassen?
Take-aways
- Mit den Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) etablierte sich Ödön von Horváth als einer der wichtigsten Dramatiker seiner Zeit.
- Am Beispiel des Wiener Milieus demaskiert er die verlogene Welt des Kleinbürgers.
- Die junge Marianne verliebt sich in den Nichtsnutz Alfred und verlässt ihren Verlobten, den stumpfsinnigen Metzger Oskar.
- Ihr Vater, der "Zauberkönig", Besitzer eines Spielwarenladens, verstößt sie dafür.
- Als Marianne schwanger wird, drängt Alfred sie zur Abtreibung. Doch der Eingriff misslingt, das Kind wird geboren.
- Alfred will beide loswerden. Er gibt das Kind zu seiner Mutter und vermittelt Marianne eine Stelle als Nackttänzerin.
- Dort beobachtet ihr Vater sie. Er verzeiht ihr nicht und verweigert seine Unterstützung; sie bestiehlt aus purer Not einen Gast und wird verhaftet.
- Am Ende versöhnt sich Marianne ihrem Kind zuliebe mit Oskar und ihrem Vater.
- Das Kind stirbt durch die Schuld von Alfreds Großmutter an einer Erkältung. Marianne bricht in Oskars Armen zusammen.
- Horváth erfand mit dem Drama das Volksstück neu, indem er es "formal und ethisch" zerstörte.
- Er prägte den Begriff des "Bildungsjargons" für die Redensarten, hinter denen seine Figuren ihre primitive Grausamkeit verbergen.
- Horváths Stücke wurden während der Nazizeit verboten und erst während der Studentenrevolte in den 60er Jahren neu entdeckt.
Zusammenfassung
Was ist schon Liebe?
Anfang der 30er Jahre: Alfred, ein notorischer Spieler und Frauenheld aus Wien, besucht seine Mutter und Großmutter in der Wachau. Mit dabei sind sein Freund Ferdinand Hierlinger und seine Geliebte Valerie, eine wohlhabende, etwa 50-jährige Witwe und Besitzerin eines Tabakladens. Während Hierlinger und Alfreds Mutter eine Burgruine besichtigen, bleiben Alfred und Valerie allein zurück. Valerie weist ihn traurig darauf hin, dass er sie betrogen hat: Er hat mit ihrem Geld auf Pferde gewettet und einen Teil des Gewinns für sich behalten. Beim Abschied giftet seine Großmutter Alfred an, dass er ihr auch noch Geld schulde.
„Elend sind wir dran, Herr Rittmeister, elend. Nicht einmal einen Dienstbot kann man sich halten.“ (Zauberkönig, S. 115)
Szenenwechsel in die "stille Straße im achten Bezirk" von Wien: Havlitschek, der Gehilfe des Fleischhauers Oskar, erregt sich so über die Kritik eines kleinen Mädchens an der Blutwurst, dass er es am liebsten wie eine Sau abstechen würde; ein pensionierter Rittmeister schwelgt in Erinnerungen über die gute alte Zeit der Monarchie; und der Besitzer einer Puppenklinik, der nach dem Namen seines Geschäfts der "Zauberkönig" genannt wird, staucht seine Tochter Marianne zusammen, weil er seine rosafarbenen Sockenhalter nicht finden kann. Der Zauberkönig zieht sich gerade für die Totenmesse von Oskars verstorbener Mutter um. Die beiden Männer sind guter Dinge, da das Trauerjahr vorbei ist und Oskar sich nun mit Marianne verloben kann. Die Braut ist weniger begeistert, denn im Grunde kann sie den scheinheiligen und brutalen Metzger nicht ausstehen. Später erscheint Alfred am Schaufenster der Puppenklinik und tauscht mit Marianne ein Lächeln aus. Valerie beobachtet von ihrer Tabakhandlung aus den Flirt und macht Alfred eine Szene. Schließlich beenden die beiden ihr Verhältnis.
Bäumchen wechsel dich
Am Sonntag unternehmen die Nachbarn und zahlreiche Verwandte einen Ausflug in den Wiener Wald, um die Verlobung zu feiern. Als die Gesellschaft sich zum Baden in der Donau zerstreut, schaut der Zauberkönig der beschwipsten Valerie erst beim Umziehen zu, beklagt dann die Verkommenheit der Welt und fummelt anschließend auf dem Waldboden liegend an ihr herum. Unterbrochen werden die beiden von den Schießübungen Erichs, des deutschnational gesinnten Zauberkönigsneffen aus Kassel. Valerie macht sich an den schneidigen Jurastudenten heran und bietet ihm bei ihr daheim eine kostenlose Unterkunft an. Die beiden verschwinden im Wald. Nun steigt Marianne aus der blauen Donau und erblickt Alfred. Das Mädchen ist von der Romantik des Augenblicks ganz überwältigt und erwidert bald leidenschaftlich Alfreds Kuss. Dieser erschrickt, als er bemerkt, wie ernst es dem Mädchen ist. Er möchte auf keinen Fall eine Entlobung riskieren. Als der Zauberkönig plötzlich erscheint, verspricht Alfred hastig, Stillschweigen zu bewahren. Schließlich kommt auch Oskar hinzu und überblickt sofort die Lage. Marianne hat das Lügen satt, wirft dem Metzger den Verlobungsring ins Gesicht und beteuert, ihn niemals zu heiraten. Doch Oskar gibt sich unbeeindruckt. Er droht, dass sie seiner Liebe nicht entkommen könne. Der Zauberkönig sagt sich von seiner Tochter los. Alfred entschuldigt sich bei Marianne für seine Feigheit.
Trüber Wiener Alltag
Ein Jahr ist vergangen. Marianne putzt sich in einer trostlosen Einzimmerwohnung die Zähne. Alfred liegt im Bett und raucht. In der Ecke steht ein Kinderwagen und ein paar Windeln hängen zum Trocknen auf der Leine. Von romantischer Liebe ist nichts mehr zu spüren. Alfred gibt Marianne die Schuld an ihrer verzweifelten Lage: Anstatt weiter auf den Rennplatz zu gehen, muss er sich als Vertreter für Hautcreme verdingen - natürlich ist er gänzlich erfolglos. Marianne verweist auf die schwierige Wirtschaftslage. Schließlich kommt Alfred auf ein Thema zu sprechen, über das die beiden offenbar schon häufig gestritten haben: Er möchte das Kind zu seiner Mutter in die Wachau geben. Doch Marianne will nichts davon wissen.
Frau in den Beruf
Alfred besucht nach langer Zeit mal wieder eines seiner früheren Stammcafés und trifft dort Hierlinger zum Billardspielen. Er beklagt sich über seine Probleme mit Marianne, stößt aber bei seinem Freund auf wenig Verständnis. Hierlinger kann nicht begreifen, warum sie sich in so schwierigen Zeiten auch noch ein Kind zugelegt haben. Alfred protestiert: Er habe Marianne ja trotz all ihrer Widerstände zu einer Abtreibung überredet und viel Geld dafür bezahlt - aber die Prozedur sei schiefgelaufen. Marianne erscheint in der Eingangstür. Hierlinger, der sie zum ersten Mal sieht, äußert sich abfällig und bedauert, dass sein Freund nicht mehr mit der wohlhabenden Valerie zusammen ist. Seine Worte scheinen zu wirken, denn nun spricht Alfred davon, dass er Marianne loswerden möchte. Das Kind sei bereits bei seiner Mutter in der Wachau. Hierlinger schlägt vor, Marianne finanziell auf eigene Füße zu stellen - schließlich sei die Berufstätigkeit der Frau Gift für jede Beziehung. Als Alfred erwähnt, dass Marianne sich für rhythmische Gymnastik interessiert, hat sein Freund eine Idee: Seine Bekannte, die Baronin, sucht junge Mädchen, die in diversen Etablissements auftreten.
Getrennte Wege
Hierlinger bringt Marianne zur Baronin. Diese umrundet die junge Frau wie ein Stück Vieh und fragt sie, ob sie singen könne. Marianne ist unsicher, singt dann aber doch das Heimatlied von der Wachau. Sie scheint noch immer davon auszugehen, dass ihr zukünftiger Arbeitsplatz etwas mit rhythmischer Gymnastik zu tun hat. Unterdessen besucht Alfred seine Familie, um sich wieder einmal von der Großmutter Geld zu leihen. Aber die denkt nicht daran. Alfred schimpft sie eine Hexe. Die Großmutter kneift ihn dafür so lange in den Arm, bis es weh tut. Am meisten stört sie, dass er mit dieser "schlamperten Weibsperson" zusammen ist. Sie näht ihm aber schließlich nicht nur einen losen Knopf an, sondern lässt doch noch über das Geld mit sich reden. Unter einer Bedingung: Alfred soll Marianne verlassen und sich in Frankreich Arbeit suchen.
Keine Erlösung in Sicht
Der Zauberkönig fühlt sich ohne seine Tochter mit dem Geschäft überfordert und vergrault seine Kunden durch grobe Beleidigungen. Erich verletzt Valerie, indem er darauf besteht, ihr nach seinem Studium jede einzelne geborgte Zigarette in bar zurückzuzahlen. Dann schimpft er den Rittmeister einen Feigling und behauptet, dass Preußen ohne Österreich den Weltkrieg gewonnen hätte. Der Rittmeister kontert, Erich sei nichts als ein grüner Junge, der sich von einer alten Tabakhändlerin aushalten lasse. Bei diesen Worten läuft Valerie weinend in ihr Geschäft. Nun betritt Alfred die Tabakhandlung. Er kündigt an, Marianne zu verlassen und in der Speditionsbranche in Frankreich einen Job zu suchen. Nachdem er fort ist, frohlockt Valerie und fragt Oskar, ob er Marianne jetzt nicht doch heiraten wolle. Sicher, meint dieser, wenn nur das Kind nicht wäre. Aber, so hofft er, vielleicht sterbe es ja.
„Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“ (Marianne, S. 123)
Marianne begibt sich zur Beichte in den Stephansdom. Der Beichtvater geht hart mit ihr ins Gericht und fragt sie dann, ob sie den Abtreibungsversuch bereue. Marianne bejaht. Und ihre wilde Ehe mit dem Nichtsnutz? Sie zögert kurz und bejaht erneut. Als der Priester sie auffordert, auch die uneheliche Geburt ihres Kindes zu bereuen, weigert sie sich. Sie liebt ihren kleinen Leopold. Wie könnte sie seine Existenz bedauern? Der Beichtvater schickt sie verärgert fort - ohne ihr die Absolution zu erteilen. Marianne fragt sich, was Gott wohl noch mit ihr vorhabe.
Beim Heurigen
Der Zauberkönig, Valerie und Erich sitzen beim Heurigen im Freien, betrinken sich und singen das Lied von der Wachau. Der Zauberkönig grapscht jungen Mädchen an die Brüste und Erich spielt Soldat, indem er sich selbst herumkommandiert. Alle sind in einer angeheitert-aggressiven Stimmung. Als der Rittmeister erscheint, fixiert Erich ihn finster und gibt sich dann schneidig den Befehl zum Abmarsch. Valerie will ihn erst zurückhalten, meint dann aber resigniert, dass es wohl bald aus sein werde zwischen ihnen. Der Rittmeister stellt ihnen seinen Freund vor, den korpulenten Mister, der seit 20 Jahren in den Vereinigten Staaten lebt. Die beiden haben zwei nostalgische Tage in Wien hinter sich und sind ebenfalls ziemlich betrunken. Als der Mister von den schönen Wiener Frauen schwärmt, schimpft der Zauberkönig auf seine verstorbene Ehefrau und bedauert, statt ihrer nicht Valerie geheiratet zu haben. Von ihr, meint er, hätte er ein besser geratenes Kind bekommen.
Die Jagd nach dem Glück
Es beginnt zu regnen. Der Rittmeister schlägt vor, ins "Maxim" zu gehen: Dort erwarte sie etwas ganz Besonderes. In der schlüpfrigen Nachtbar kündigt der Conferencier ein Programm an, das seine Zuschauer in den "Himmel der Erinnerungen" entführen werde. Der Vorhang hebt sich und einige Mädchen tanzen Walzer in Alt-Wiener Tracht. Dann klingelt das Telefon am Tisch der feuchtfröhlichen Runde. Ein Mädchen von der Bar spricht den Zauberkönig als "Onkel" an, versichert ihm, dass sie noch Jungfrau sei und bittet ihn zu sich. Der Alte springt auf und eilt zur Bar. Der Mister erklärt Valerie, dass er nur noch mit Prostituierten ins Bett könne, weil die Frauen ihn zu oft enttäuscht hätten. Nun kündigt der Conferencier den lebenden Akt "Donaunixen" an: Zum Walzer An der schönen blauen Donau stellen sich drei halbnackte Mädchen, verkleidet mit Schwanzflossen, in Positur. Im nächsten Bild "Fredericus Rex" erscheinen drei nackte Mädchen mit einem Propeller, einem Globus und einem kleinen Zeppelin. Das Publikum tobt. Schließlich hebt sich der Vorhang zum dritten Bild, der "Jagd nach dem Glück". Nackte Mädchen laufen einer goldenen Kugel hinterher. Auf dieser balanciert "das Glück" auf einem Bein: Es ist die ebenfalls unverhüllte Marianne.
„Ich gestatte mir nun aus dieser Feldflasche auf Euer ganz Spezielles zu trinken. Glück und Gesundheit und viele brave deutsche Kinder! Heil!“ (Erich, S. 126 f.)
Valerie kreischt hysterisch Mariannes Namen. Der Mister schlägt seiner Tischnachbarin verärgert auf die Brust. Daraufhin rastet Valerie völlig aus, stößt sich an einem Tisch blutig und rennt kreischend nach Hause. Das Programm ist beendet und der Saal leert sich. Marianne erscheint im Bademantel und fragt ihren Vater, warum er nicht auf ihre Briefe geantwortet habe. Sie gesteht, dass es ihr und dem Kind schlecht geht, und bittet um Hilfe. Schließlich habe er sie keinen Beruf erlernen lassen. Doch der Zauberkönig bleibt stur, selbst als Marianne droht, sich vor den Zug zu werfen. Der Mister hat in der Zwischenzeit Ansichtskarten geschrieben und bittet Marianne, ihm für viel Geld ein paar Briefmarken zu verkaufen - offenbar will er sie als Prostituierte anheuern. Marianne überlegt kurz, schaut in seine Brieftasche und lehnt ab. Da packt der Mister ihr Handgelenk, brüllt "Diebin", entreißt ihrer Hand 100 Schilling und gibt ihr eine Ohrfeige. Dann ruft er die Polizei.
Erzwungene Versöhnung
Zurück in der Wachau: Die Großmutter keift Alfred an, weil er das geborgte Geld auf der Rennbahn verspielt hat, statt damit nach Frankreich zu fahren. Alfred will sich noch mehr ausleihen, aber die Großmutter wirft ihn wütend aus dem Haus. Die Mutter erscheint und beugt sich besorgt über den Kinderwagen. Der kleine Leopold hat sich erkältet. Sie fixiert die Großmutter und gibt ihr zu verstehen, dass sie sie in der Nacht dabei beobachtet hat, wie sie die Fenster geöffnet und das Kind in die Zugluft gestellt hat.
„Zieh dich an, aber marsch-marsch! Du Badhur!“ (Zauberkönig zu Marianne, S. 138)
In der stillen Straße hängt vor der Puppenklinik das Schild "Ausverkauf". Aus dem Gespräch zwischen dem Rittmeister und Valerie geht hervor, dass der Zauberkönig einen Schlaganfall erlitten und Marianne vier Wochen lang in Untersuchungshaft gesessen hat. Valerie sieht keine andere Chance für Marianne, als dass sie sich mit ihrem Vater und Oskar aussöhnt. Alfred und Oskar schlendern in aufgeräumter Stimmung herbei. Der Hallodri hat Marianne offiziell an den Fleischhauer abgetreten. Die beiden sind sich einig, dass die Frau im Allgemeinen und Marianne im Besonderen ein verdorbenes Geschöpf ist. Alfred unternimmt den Versuch, sich mit Valerie zu vertragen. Diese lässt ihn erst abblitzen, stellt ihm dann aber 50 Schilling in Aussicht, wenn er den möglichen Wettgewinn seinem kleinen Sohn gebe. Als Marianne hinzukommt, bringt Valerie sie dazu, ihren Stolz zu überwinden. Gebrochenen Herzens öffnet Marianne die Tür zur Puppenklinik. Dann dreht sie sich noch einmal um und erklärt, dass sie ihr alle gestohlen bleiben könnten: Sie tue das nur für den kleinen Leopold.
Ende gut, gar nichts gut
Was Marianne noch nicht weiß: Das Kind ist inzwischen an der Erkältung gestorben. Alfreds Mutter plagt das schlechte Gewissen. Die Großmutter aber ist vollauf mit sich zufrieden. Sie unterstellt dem "Fräulein" sogar, dass ihr der Tod des Kindes im Grunde nur recht sei. Während sie ihrer Tochter einen grausamen Brief mit der an Marianne gerichteten Nachricht vom Tod des Kindes diktiert, kommen Marianne, der Zauberkönig, Alfred, Valerie und Oskar zu Besuch. Marianne liest den Brief und stürzt sich auf die alte Frau, um sie mit deren Zither zu erschlagen. Oskar hindert sie daran. Er versucht, Marianne mit ein paar Floskeln zu trösten, zeigt aber offen seine Zufriedenheit über den Tod des Kindes. Marianne haucht "Jetzt kann ich nicht mehr"; als Antwort küsst Oskar sie auf den Mund und geht mit ihr davon.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die letzte von vielen Fassungen der Geschichten aus dem Wiener Wald besteht aus drei Teilen mit insgesamt 15 Bildern. Der erste Teil behandelt Mariannes Ausbruchsversuch aus der trostlosen Beziehung zum grobschlächtigen Metzger Oskar durch ihre Liebe zum Hallodri Alfred. Im zweiten Teil gerät Marianne zunehmend in die Opferrolle, bis sie im dritten endgültig von Oskars "Liebe" bezwungen wird. Rein äußerlich hat die Geschichte alle Zutaten eines deftigen Volksstücks: Ihre Hauptpersonen kommen aus der Unter- und Mittelschicht, sie hassen und sie lieben sich und "am Ende kriegen sie sich doch". Dazu erklingt gemütliche Walzer- und Heimatmusik, welche die Zuschauer eigentlich zum Schunkeln einladen könnte - wenn nicht alles so schrecklich unheimlich wäre. Denn unter den braven Bürgermasken der Figuren treten teuflische Fratzen zutage. Sie entlarven sich durch eine Sprache, die Horváth selbst "Bildungsjargon" nannte: Bemüht hochgestochen und mit Bibel- und Klassikerzitaten durchsetzt, steht die sprachliche Hülle im krassen Gegensatz zur Niedertracht und Unmenschlichkeit seiner Figuren. In der "Gebrauchsanweisung" zu seinen Dramen schrieb Horváth 1932, dass er mithilfe einer "Synthese aus Ernst und Ironie" das alte Volksstück "formal und ethisch" zerstören wolle. Entscheidend war für ihn der dramaturgische Einsatz der Pause. Denn hier, so Horváth, "kämpft das Bewusstsein oder Unterbewusstsein miteinander".
Interpretationsansätze
- Horváths Stück handelt vom Scheitern der kleinbürgerlichen Existenz in der zunehmend entmenschlichten Moderne. Nach dem Zusammenbruch der alten Zivilisation - versinnbildlicht durch den Untergang der Donaumonarchie - scheint das "Tier" im Menschen die Oberhand zu gewinnen. (Die häufigsten Beschimpfungen im Stück sind "Mistvieh" und "Bestie".)
- Die Charaktere sind bewusst als grobe Klischees angelegt, die dem Publikum einen Spiegel vorhalten: Alfred ist der nichtsnutzige Schwerenöter, Oskar der dumpf-sadistische Metzger, der Zauberkönig der heuchlerische Patriarch, Marianne das gutherzige Opfer und Valerie die männerfressende Mittfünfzigerin, die sich gegen das Altern sträubt.
- Die Männer erweisen sich ausnahmslos als heuchlerisch, egoistisch, dumm, grob oder opportunistisch. Nur die beiden Frauen Marianne und Valerie sind ansatzweise selbstlos, hilfsbereit und sensibel für die Gefühle anderer - Eigenschaften, die die Männer schamlos ausnutzen.
- Das "Volksstück und die Parodie dazu", wie der Kritiker Alfred Polgar es nannte, stellt die Gattung der volkstümlichen Liebeskomödie auf den Kopf: Mariannes Liebe zu Alfred führt nicht zum Happy End, sondern in die Katastrophe. Am Ende wird sie das Opfer der Zuneigung Oskars. Statt Erlösung bringt Liebe nur Unheil und Strafe.
- Hinter der durch Walzermusik und Heurigen-Weinseligkeit erzeugten Scheinidylle tun sich menschliche Abgründe auf: Die Figuren reden aneinander vorbei und bleiben letztlich jede für sich allein. Die Scheinvolkstümlichkeit wird noch unterstrichen durch die Wahl des Titels, der sich eng an Johann Strauß’ Walzerkette G’schichten aus dem Wienerwald anlehnt.
- Auch gesellschaftliche Umstände sind Horváth zufolge für die Verrohung der Menschen verantwortlich: Er greift in seinem Stück zeitgenössische Themen wie den internationalen Mädchenhandel und die verlogenen Moralvorstellungen der katholischen Kirche auf. Mithilfe der Figuren Erichs und des Zauberkönigs warnt er in dem 1931 entstandenen Stück außerdem vor der Gefahr des aufkommenden Faschismus.
Historischer Hintergrund
Sozialkritik der Neuen Sachlichkeit
Der Roman spielt in einer Zeit schwerer Enttäuschungen und Demütigungen für Österreicher, die alt genug waren, um sich noch an die "glorreiche" Zeit der k. u. k. (kaiserlichen und königlichen) Monarchie zu erinnern. Nach deren Zusammenbruch 1918 war die flächenmäßig einst zweitgrößte Macht Europas zum vergleichsweise winzigen österreichischen Bundesstaat zusammengeschrumpft. Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise traf das unter Kriegsfolgen und Reparationen ächzende Land besonders stark; Hunderttausende verloren ihre Arbeit. Im März 1931 beschlossen Deutschland und Österreich eine Zollunion. Die offizielle Begründung war der gemeinsame Kampf gegen die Wirtschaftskrise. In England, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei wurde dieser Schritt jedoch bereits als "versteckter" Anschluss des Alpenstaats an das Deutsche Reich gewertet. Nachdem die Creditanstalt, die größte Bank Österreichs, 1931 ihre Zahlungsunfähigkeit verkündet hatte, erhielt das Land 1932 eine Völkerbundanleihe von 300 Millionen Schilling, musste sich aber im Gegenzug bereit erklären, mindestens 20 Jahre auf einen Anschluss an Deutschland zu verzichten.
In der deutschsprachigen Literatur löste zwischen 1925 und 1930 die so genannte "Neue Sachlichkeit" den zu Gefühlsüberschwang und Irrationalität tendierenden Expressionismus der Vorkriegszeit ab. Zu den Vertretern der neuen Kunstrichtung gehörten neben Ödön von Horváth u. a. Erich Kästner, Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer und Erich Maria Remarque. Ihr Ziel war es, die gesellschaftliche Wirklichkeit nüchtern-beobachtend zu beschreiben und mittels scharfer Sozialkritik Veränderungen zu bewirken.
Entstehung
Ödön von Horváths Schreibpraxis ähnelte den Techniken in der Filmindustrie: Er schnitt einzelne Passagen aus seinen Manuskripten heraus und montierte sie immer wieder neu. Von den Geschichten aus dem Wiener Wald etwa existieren so viele unterschiedliche Fassungen aus unzähligen Arbeitsstufen, dass in der Literaturwissenschaft noch immer keine Einigung über eine korrekte und endgültige Edition besteht. Von der zweitletzten Version "in sieben Bildern" sind in Horváths Nachlass beispielsweise zwei unterschiedliche, z. T. stark voneinander abweichende Fassungen gefunden worden. Das Stück geht auf frühere Dramenfragmente zurück, darunter den um 1928 entstandenen Bühnentext Ein Fräulein wird verkauft. Dieser handelt von einer jungen alleinstehenden Mutter, die einen Selbstmordversuch unternimmt. Das Fragment Schönheit aus der Schellingstraße aus dem Jahr 1931 gilt als direkter Vorläufer der Geschichten aus dem Wiener Wald. Nach Ansicht einiger Wissenschaftler ist das ein Beleg dafür, dass das kleinbürgerliche Milieu und seine Figuren anstatt in Wien ursprünglich in der Münchner Schellingstraße angesiedelt waren. Horváth behauptete stets, dass er den Stoff für seine Stücke aus dem Leben griff und dabei dem einfachen Volk aufs Maul schaute. "Ich kenne die Welt nur von der Aschingerseite aus", sagte er einmal (Aschinger war eine Kette von Bierlokalen in Berlin). Und: "Man wirft mir vor, ich sei zu derb, zu ekelhaft, zu unheimlich, zu zynisch und was es dergleichen noch an soliden, gediegenen Eigenschaften gibt - und man übersieht dabei, dass ich doch kein anderes Bestreben habe, als die Welt so zu schildern, wie sie halt leider ist ..."
Wirkungsgeschichte
Das "Volksstück in drei Teilen" wurde am 2. November 1931 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Heinz Hilpert uraufgeführt. In den Reaktionen spiegelte sich die zunehmende politische Polarisierung jener Zeit: Der expressionistische Schriftsteller Kurt Pinthus bezeichnete das Drama anerkennend als "das bitterste, das böseste, das bitterböseste Stück neuer Literatur" und die New York Times wies dem Autor einen Platz unter den "besten zentraleuropäischen Dramatikern" zu. Carl Zuckmayer verlieh dem Dichter wenige Tage vor der Uraufführung den bedeutenden Kleist-Preis. Die rechtsradikale Presse verdammte das Stück als "beispiellose Unverschämtheit" und "dramatische Verunglimpfung des alten Österreich-Ungarn". Horváth hoffte nach dem Erfolg in Berlin auf weitere Inszenierungen, doch schon kurz vor Hitlers Machtergreifung machten die Theaterhäuser einen Rückzieher. Nach dem Krieg (Horváth starb bereits 1938) wurden die Geschichten aus dem Wiener Wald 1948 erstmals am Volkstheater in Wien inszeniert und führten dort prompt zu einem Skandal: Die österreichische Presse beklagte die angeblich "giftige Verhöhnung des Wienerischen". Bis Anfang der 60er Jahre geriet Horváth fast in Vergessenheit. Erst im Zuge der 68er-Studentenbewegung wurden seine Volksstücke neu entdeckt und avancierten neben denen von Marieluise Fleißer zu Vorbildern für Dramatiker wie Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz. Heute gilt Horváth als "Klassiker der Moderne". Seine Stücke zählen zu den meistgespielten auf deutschsprachigen Bühnen, die Geschichten aus dem Wiener Wald wurden mehrmals verfilmt, u. a. durch Maximilian Schell mit Helmut Qualtinger in der Rolle des Zauberkönigs. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki würdigte Horváth als "verspielten und verschlampten" Dichter, einen "Schlawiner mit Fantasie, dessen Persönlichkeit dem preußischen Klischeebild vom typischen Österreicher entsprach".
Über den Autor
Ödön von Horváth wird am 9. Dezember 1901 im ungarischen Fiume (dem heute kroatischen Rijeka) als unehelicher Sohn österreichisch-ungarischer Eltern geboren. Sein Vater ist Diplomat, sodass Ödön von klein auf immer wieder umzieht: zunächst nach Belgrad, dann nach Budapest, München, Pressburg und Wien, wo er 1919 sein Abitur macht. Anschließend besucht er an der Münchner Universität theater-, kunst- und literaturwissenschaftliche Seminare. Er verlässt die Universität ohne Abschluss und nimmt sich vor, Schriftsteller zu werden. Ab 1923 wohnt er abwechselnd bei seinen Eltern im oberbayerischen Murnau und in Berlin. 1927 wird sein erstes Theaterstück Revolte auf Côte 3018 uraufgeführt. Im selben Jahr lehnen die bayerischen Behörden seinen Antrag auf Einbürgerung ab. Horváth behält die ungarische Staatsbürgerschaft. Zwei Jahre darauf sichert ihm ein Vertrag mit dem Ullstein Verlag über sein gesamtes schriftstellerisches Werk ein Einkommen. 1931, auf dem Höhepunkt seines Schaffens, werden die erfolgreichsten Volksstücke Italienische Nacht und Geschichten aus dem Wiener Wald uraufgeführt. Horváth siedelt nach immer heftigeren Anfeindungen seitens der politischen Rechten 1933 nach Wien über. Seine Stücke dürfen nun in Deutschland nicht mehr gespielt werden. Er heiratet, lässt sich aber wenige Monate darauf wieder scheiden. 1934 wird er auf eigenen Antrag hin in den nationalsozialistischen Reichsverband deutscher Schriftsteller aufgenommen und führt ein recht unstetes Leben zwischen Wien und Berlin. Unter dem Pseudonym H. W. Becker arbeitet er an einigen trivialen Drehbüchern für die deutsche Filmindustrie mit. Als ihm das Deutsche Reich 1936 die Aufenthaltserlaubnis entzieht, bleibt er ganz in Wien. 1937 erscheint in einem Amsterdamer Exilverlag der Roman Jugend ohne Gott, eine Anklage gegen die Nazidiktatur. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich flieht Horváth über Budapest, Prag, Zürich und Amsterdam nach Paris. Er stirbt am 1. Juni 1938, als er während eines Gewitters auf den Champs-Élysées von einem herabfallenden Ast getroffen wird.
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