Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Grundlinien der Philosophie des Rechts
Meiner, 2013
Was ist drin?
Hegels Rechts- und Staatsphilosophie – ein Werk, an dem sich bis heute die Geister scheiden.
- Philosophie
- Deutscher Idealismus
Worum es geht
Der Staat als organische Einheit
Eines unterscheidet Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts von anderen Werken der politischen Philosophie: Das Buch beschreibt den Staat nicht, wie er sein sollte, sondern wie er, zumindest in Hegels Augen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts war. Im Staat sah Hegel nicht ein abstraktes Konstrukt zur Sicherung bürgerlicher Freiheits- und Eigentumsrechte, sondern die Wirklichkeit gewordene Vernunft. Gegen das liberalistische Modell eines Rousseau oder Kant, das den Vertragscharakter des modernen Staates betonte, setzte er die Vorstellung einer natürlichen, organisch gewachsenen Einheit, die es dem Einzelnen ermöglicht, vollkommen darin aufzugehen. Das brachte ihm später den Vorwurf ein, er rechtfertige bestehende Strukturen und verabsolutiere den Staat. Doch wenn man sich die Mühe macht und dieses komplexe, streckenweise nur schwer verständliche Werk genau liest, erkennt man durchaus den freiheitlichen Grundgedanken in Hegels System. Bei allen staatsverherrlichenden Tendenzen, die sicher vorhanden sind, stellt sein Werk eine Synthese von Liberalismus und Konservatismus dar, die etwa den angloamerikanischen Kommunitarismus unserer Zeit beeinflusst hat.
Take-aways
- Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts sind die systematische Zusammenfassung seines rechts- und staatsphilosophischen Denkens.
- Inhalt: Der Staat ist nicht eine individualistisch geprägte bürgerliche Gemeinschaft zur Sicherung abstrakter Rechte, sondern eine organisch gewachsene Einheit. Der einzelne Bürger findet darin seine wesentliche Bestimmung, sein Wille geht im Allgemeinwillen auf. Im Staat ist das Vernünftige an sich zur Wirklichkeit geworden.
- Hegel wendet sich scharf gegen liberale Bestrebungen seiner Zeit, wie sie in der Studenten- und Burschenschaftsbewegung zum Ausdruck kamen.
- Sein konservatives Staatsverständnis geht vom Staat als einer organisch gewachsenen, lebendigen Einheit aus; der Staat ist für ihn die verwirklichte Vernunft.
- Als beste Staatsform gilt ihm die konstitutionelle Monarchie mit einem starken König. Das Vorbild dafür erkennt er im preußischen Staat unter Friedrich Wilhelm III.
- Im beginnenden Zeitalter der Industrialisierung diagnostiziert Hegel Armut, Arbeitslosigkeit und Vereinzelung als grundlegende Probleme.
- Hegels Sprache ist nüchtern, äußerst spröde und insgesamt schwer verständlich.
- In seiner Berliner Zeit avancierte Hegel zum „preußischen Staatsphilosophen“. Seine Vorlesungen wurden auch von Staatsbeamten besucht.
- Sein Werk beeinflusste die marxistische Philosophie, aber auch den Kommunitarismus unserer Zeit.
- Zitat: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“
Zusammenfassung
Die Aufgabe der Philosophie
Die Philosophie der Gegenwart gleitet immer mehr ins Seichte ab. Sie hält die Erkenntnis einer objektiven Wahrheit für unmöglich und gibt sich mit subjektiven Meinungen zufrieden. Statt Gedanken und Begriffe zu entwickeln, stützt sie sich auf die unmittelbare Wahrnehmung, statt das Wirkliche mit dem Verstand zu ergründen, spekuliert sie über Jenseitiges und leere Ideale. Sie erkennt nicht die Substanz, die Idee hinter den Dingen, die wirklich – und damit vernünftig – sind. In letzter Zeit wird in Deutschland viel über Verfassung und Vernunft geschwätzt, sodass man die Worte kaum mehr in den Mund nehmen mag. Dagegen sollte sich die Überzeugung ausbreiten, dass philosophische Erkenntnis in diesem Bereich nicht aus Nützlichkeits- und Zweckerwägungen und schon gar nicht aus Gefühl, Liebe und Begeisterung resultiert, sondern nur aus Begriffen. Diese Abhandlung will nicht aufzeigen, wie ein Staat sein soll. Ihr Ziel ist es vielmehr, den Staat als etwas in sich Vernünftiges zu begreifen.
Der freie Wille
Der schrankenlose Wille setzt sich auf negative Weise von jeder Beschränkung ab, die den Einzelnen in seiner Entfaltung hemmt. Er strebt die absolute Freiheit an und zielt auf die Zerstörung aller bestehenden Ordnungen. Eine zweite Art der Willensfreiheit, wie sie etwa Kant vorschwebt, ist die Willkür: Der Einzelne entscheidet sich in einem Akt der Reflexion bewusst für oder gegen bestimmte Handlungen, die ihm seine Neigungen vorgeben, wobei die Wahl etwas Zufälliges, eben Willkürliches, hat. Der wahrhaft freie Wille dagegen nimmt die Beschränkung und natürliche Bestimmtheit des Ich durch Triebe, Begierden und Neigungen als Teil seiner Identität an. Er gründet, wie bei Kant, in der Reflexion seiner selbst, in menschlichem Denken, nicht in subjektivem Gefühl und in Leidenschaft. Aber er begreift die Beschränkungen der Realität nicht als etwas Fremdes, Äußerliches, sondern als Ausdruck seiner selbst. Wahre Willensfreiheit besteht darin, im dialektischen Prozess den Widerspruch zwischen dem Subjektiven, Besonderen und dem Objektiven, Allgemeinen aufzuheben, sodass das eine im anderen aufgeht. Diese Entwicklung vollzieht sich in verschiedenen Stufen, vom abstrakten Recht bis zur Idee der Sittlichkeit, die sich in der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich im Staat manifestiert.
Der Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität
Das abstrakte Recht, das das Individuum als rechtsfähige Person anerkennt und es auffordert, die anderen Individuen als rechtsfähige Personen zu respektieren, ist zunächst negativ bestimmt. Es enthält Beschränkungen und Rechtsverbote, das heißt keine positiven Rechtsgebote, und behandelt Fragen des Besitz- und Vertragsrechts. Zum Besitz einer Person, der ihrem freien Willen unterliegt, zählen ihr Leben, ihr Körper und ihr Eigentum. Das abstrakte Recht ist ein Zwangsrecht, insofern es von außen gesetzt ist, den freien Willen aber im Grunde nicht bezwingen kann. Verbrechen gegen den Besitz einer Person müssen bestraft werden – nicht weil sie Schaden anrichten, sondern weil sie das Recht als Recht verletzen. Strafe ist die Aufhebung des Unrechts, eine zunächst gerechte Form der Rache. Und doch ist sie willkürlich, solange sie die Handlung eines einzelnen Willens und Ausdruck eines subjektiven Interesses ist. Die Überwindung dieses Gegensatzes von einzelnem und allgemeinem Willen, die Aufhebung des Subjektiven im Objektiven bezeichnet den Übergang vom abstrakten zum konkreten Recht, von der rechtsfähigen Person zum moralischen Subjekt.
„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ (S. 16)
In dieser Sphäre der Moralität ist der besondere Wille des Einzelnen mit dem Willen anderer identisch. Das Subjektive ist nun zum Allgemeinen, zum objektiven Maßstab, erhoben. Das Wohl des Einzelnen steht immer in Beziehung zu dem Wohl vieler anderer. Die moralische Gesinnung in Form des Gewissens bringt den Menschen dazu, das zu wollen, was gut ist. Eine sogenannte moralische Absicht rechtfertigt nicht eine unrechtliche Handlung, und das Glück des Einzelnen kann nicht gegen das Allgemeinwohl geltend gemacht werden. Das Wohl der Allgemeinheit ist absolut, hat objektive Gültigkeit und steht über dem besonderen Recht des Eigentums; alles ist ihm untergeordnet. Der Einzelne hat die Pflicht, für sein Wohl und das Wohl anderer zu sorgen. Doch bleibt die Pflicht allein um der Pflicht willen eine abstrakte, leere Formel, solange sie nicht in konkrete Sittlichkeit übergeht. Kants Gesetz, die eigene Handlung so auszurichten, dass sie als allgemeine Handlungsmaxime gelten könnte, ist daher kein festes Prinzip, sondern im Grunde inhaltslos. Das abstrakte Gute, das man will, ist keine objektive Wahrheit, sondern bestimmt durch subjektive Überzeugung.
Die Stufen der Sittlichkeit: Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat
Das abstrakte Gute wird lebendig und bekommt Gestalt in den sittlichen Gesetzen, die ihre Geltung allein dadurch erhalten, dass sie existieren. Sie sind für das Individuum nichts Fremdes, keine abstrakte, von außen auferlegte Beschränkung, sondern Teil seines eigenen Wesens, naturgegeben und mit seiner Wirklichkeit identisch. Das Sittliche, das in Sitte und Tradition zum Ausdruck kommt, durchdringt sein ganzes Dasein. Die Pflicht, im Geist der zur Wirklichkeit gewordenen Sittlichkeit zu handeln, befreit den Menschen aus der Abhängigkeit von seinen natürlichen Trieben und seiner unbestimmten Subjektivität und gewährt ihm wahre, substanzielle Freiheit.
„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (S. 19)
In der Familie findet der Geist der Sittlichkeit seinen natürlichen, unmittelbaren Ausdruck. Der Einzelne ist nicht mehr eine Person für sich, sondern befreit sich aus der Selbstbeschränkung und geht in der Gemeinschaft auf. Die Mitglieder einer Familie sind durch Liebe, Zutrauen und Gehorsam fest miteinander verbunden. Die Erziehung der Kinder hat das Ziel, diese als selbstständige Persönlichkeiten aus dem Familienverband in die bürgerliche Gesellschaft zu entlassen. Die Gesellschaft aber erzeugt viele voneinander gesonderte Bedürfnisse und zielt auf unendliche Verfeinerung und Vervielfältigung. Das Mittel, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, ist die Arbeit. Die Arbeitsteilung bringt Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten. Indem der Einzelne für sich selbst produziert und erwirbt, tut er dies auch für andere. Die ungleiche Verteilung geistiger und körperlicher Fähigkeiten sowie die ungleiche Vermögens- und Bildungsverteilung führen zu einer Differenzierung, die sich im System der Stände widerspiegelt.
„Im freien Willen hat das wahrhaft Unendliche Wirklichkeit und Gegenwart, – er selbst ist diese in sich gegenwärtige Idee.“ (S. 45)
In der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Verhältnissen und Verwicklungen tritt das Recht an sich in die Form des Gesetztseins, das heißt, es wird zum Gesetz. Das abstrakte Eigentums- und Persönlichkeitsrecht des Einzelnen wird so als allgemeiner Wille anerkannt. Seine Verletzung ist nicht nur eine private, sondern eine allgemeine Angelegenheit. Die Bestrafung der Verletzung erfolgt durch eine öffentliche Macht, nämlich das Gericht. Die bürgerliche Gesellschaft muss den Selbsterhalt und das Wohl des Einzelnen durch eine von außen gesetzte Ordnung schützen. Sie entreißt das Individuum seinen familiären Bindungen, entfremdet es und unterwirft es der eigenen Willkür. Sie bringt es durch Rechte und Ansprüche, die sie ihm gewährt, in ihre Abhängigkeit. Als Folge fortschreitender Industrialisierung und Arbeitsteilung konzentriert sich der Besitz in wenigen Händen und führt zu Not und Vereinzelung bei der arbeitenden Klasse. Diese verliert das Gefühl für das Recht und die Würde, die darin besteht, durch eigene Arbeit existieren zu können, und sinkt zum Pöbel herab. Einen gewissen Ausgleich gegen die Isolierung in den vielfältigen Arbeitszweigen und Lebenswelten der bürgerlichen Gesellschaft bieten die Korporationen, die die Funktion der Familie übernehmen und sich um die besonderen Nöte und Interessen ihrer Mitglieder kümmern. Neben der Familie sind die Standeskorporationen die zweite sittliche Wurzel, die das Disparate der bürgerlichen Gesellschaft mildern und auf denen der Staat sich gründet.
Der Staat als vernünftige Wirklichkeit
Im Staat erhält die Idee der Sittlichkeit konkrete Gestalt. Wer sagt, die Bestimmung des Staates sei es, den Bürgern Sicherheit und Schutz ihrer Eigentums- und Freiheitsrechte zu gewähren, verwechselt Staat und bürgerliche Gesellschaft. Deren höchster Zweck nämlich ist das Interesse der Einzelnen, während der Staat objektiver, zur Wirklichkeit gewordener Geist ist. Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft zu sein, hat etwas Beliebiges – Mitglied eines Staates zu sein, ist dagegen höchste Pflicht und Bestimmung des Menschen. Individuum und Allgemeinheit, das Substanzielle und das Besondere durchdringen einander in einer organischen Einheit, der Privatwille und der Allgemeinwille gehen ineinander über – darin besteht die Vernünftigkeit des Staates. Sein Ursprung und seine äußere Erscheinungsform sind dabei zufällig und nebensächlich.
„Das wahrhafte Gewissen ist die Gesinnung, das, was an und für sich gut ist, zu wollen; es hat daher feste Grundsätze; und zwar sind ihm diese, die für sich objektiven Bestimmungen und Pflichten.“ (S. 134)
Rousseau hatte Recht, als er den Willen als Grundprinzip des Staates ausmachte, doch bei ihm vereinigen sich die Einzelwillen per Vertrag bewusst zu einem Gemeinwillen. Ausdrückliche Zustimmung oder willkürliche Meinungen sind nicht die Grundlage des Staates, der objektive Wirklichkeit und Notwendigkeit, absolute Autorität und göttlicher Wille ist – ob das nun vom Einzelnen erkannt und gewollt wird oder nicht. Seine innere Stärke erhält der Staat dadurch, dass er Pflichten und Rechte vereinigt. In der Pflichterfüllung findet das Individuum Befriedigung und Selbstbewusstsein, das allgemeine Interesse ist zugleich sein besonderes Interesse. Für den Einzelnen ist der Staat nichts anderes als er selbst, und in diesem Bewusstsein ist er frei.
Staatliche Organisation
Die Organisation des Staates, seine politische Verfassung, ist organisch gewachsen. Die notwendige Gewaltenteilung in Gesetzgebungs-, Regierungs- und fürstliche Gewalt zielt nicht – wie oftmals behauptet – auf eine absolute Selbstständigkeit der Gewalten im Verhältnis zueinander, denn das würde Feindschaft, Konkurrenz und letztlich Zerstörung des Staates bedeuten. Vielmehr bilden sie eine lebendige Einheit, wie sie am besten in der historisch gesehen jungen Staatsform der konstitutionellen Monarchie verwirklicht ist. Diese vereinigt Momente der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, wenngleich das nur historische Bedeutung hat und für die Idee des Staates irrelevant ist. Ebenso ist die Frage, wer die Verfassung machen soll, sinnlos: Die Verfassung ist nichts Gemachtes, sondern etwas an sich Seiendes, Göttliches, Beharrendes. In ihr drückt sich der Geist des Volks aus.
„In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit.“ (S. 158)
Die abstrakte Individualität des Staates wird in einem Individuum konkret und wirklich: in der Person des Monarchen. Sein Recht gründet sich auf göttliche Autorität. Dem in neuerer Zeit aufgekommenen Begriff der Volkssouveränität dagegen liegt eine falsche Vorstellung des Volks zugrunde. Ohne einen Monarchen als souveräne und entscheidende Staatsgewalt ist das Volk nichts als eine formlose Masse. Der Monarch, dem die höchste Entscheidung im Staat zukommt, ist durch seine Geburt über Willkür und alle äußeren Bedingungen erhaben und so von Natur aus dazu bestimmt, die Einheit des Staates darzustellen. Die Regierungsgewalt dagegen ist ihrem Wesen nach objektiver. Die Individuen, die die konkreten Geschäfte ausführen, sind nicht durch Geburt dazu bestimmt, sondern durch ihre Fähigkeiten. Die Möglichkeit dazu steht prinzipiell jedem Bürger offen.
„Die sittliche Substanz, als das für sich seiende Selbstbewußtsein mit seinem Begriffe geeint enthaltend, ist der wirkliche Geist einer Familie und eines Volks.“ (S. 162)
Der Staat besteht nicht einfach aus einer Ansammlung von vielen, er ist ein organisch gewachsenes, in Kreise gegliedertes Ganzes. Mitglied eines Staates ist man nur als Mitglied eines Standes, einer Korporation oder einer Gemeinde. In der gesetzgebenden Gewalt kommt der Wille der vielen zum Ausdruck, vertreten durch die ständischen Abgeordneten. Die Funktion der Stände ist es, zwischen der Regierungsgewalt einerseits und der formlosen, ungezügelten Menge mit ihren besonderen Bedürfnissen andererseits zu vermitteln. Es herrscht die verbreitete Vorstellung, das Volk wisse am besten, was gut für es sei, und die Regierung handle stets böswillig. Aber abgesehen davon, dass das Interesse am Wählen allgemein gering ist, hat die Masse nicht die Fähigkeit zu tiefer Erkenntnis und Einsicht in die Vernunft, die den höchsten Staatsbeamten eigen ist. Die Ständeabgeordneten kennen sich in der Sphäre aus, der sie entstammen – etwa Handel oder Industrie –, und repräsentieren deren spezielle Bedürfnisse und Interessen. Die Garantie des öffentlichen Wohls und der Freiheit wird indes nicht durch die Stände gewährleistet, die ja Sonderinteressen vertreten, sondern durch die monarchische Souveränität. Sie steht über allem subjektiven Meinen und Räsonieren, das letztlich die Zerstörung des Staates zur Folge hat.
Das Wirken des Weltgeists
Die Geschichte ist nicht bloß eine Abfolge zufälliger menschlicher Leidenschaften und Bestrebungen. Ebenso wenig folgt sie der abstrakten, vernunftlosen Notwendigkeit eines blinden Schicksals oder einem Plan der Vorsehung, der sich nicht erkennen und begreifen lässt. Vielmehr gelangt in der Weltgeschichte der allgemeine Geist zur Wirklichkeit, der auch in Kunst und Religion, Wissenschaft und Philosophie zum Ausdruck kommt. Staaten, Völker und Individuen in verschiedenen Epochen und Ländern entstehen und vergehen. In ihnen und durch sie aber arbeitet sich der allgemeine Geist nach dem Prinzip von Vernunft und Freiheit von einer Entwicklungsstufe zur nächsthöheren empor.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Grundlinien der Philosophie des Rechts sind in drei große Abschnitte gegliedert: „Das abstrakte Recht“, „Die Moralität“ und „Die Sittlichkeit“. Sie setzen sich aus fortlaufend nummerierten, meist kurzen Paragrafen zusammen. Mitunter werden sie um Kommentare erweitert, die das Gesagte erläutern oder Beispiele bringen. Hegel bedient sich in diesem Text eines auffallend knappen, apodiktischen Tonfalls. Ein Grund dafür könnte sein, dass das Buch auf Vorlesungsmanuskripten basiert. Die Gedanken sind von einem sehr hohen Abstraktionsgrad, der bis an die Grenze zur Unverständlichkeit reicht. Die Sätze sind verschachtelt, lang und unübersichtlich, der Stil ist spröde und schnörkellos. So nüchtern und streng der Autor überwiegend argumentiert, so emphatisch und lebendig wird seine Sprache mitunter doch, wenn er über das angeblich sinnlose Geschwätz seiner Zeitgenossen zum Thema Verfassung und Freiheit lospoltert. In solchen seltenen Momenten erkennt man, dass der sich so streng rational gebende Philosophieprofessor doch auch von einigen Leidenschaften bewegt wird.
Interpretationsansätze
- Hegel liefert in den Grundlinien der Philosophie des Rechts eine fundamentale Kritik am liberalen, individualistischen Staatsverständnis, dem er sein konservatives Staatsverständnis einer organisch gewachsenen, lebendigen Einheit entgegensetzt. Besondere Berühmtheit erlangte die häufig kritisierte Aussage: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“
- Hegel distanziert sich von den Staatstheorien von Hobbes, Rousseau und Kant. Sie begreifen Freiheit im Naturzustand als Willkür, die für ein geregeltes Zusammenleben durch Vertrag aufgehoben werden muss. Dagegen ist Hegel der Ansicht, dass der menschliche Geist von Natur aus nach rechtlichen Verhältnissen strebt.
- Wie die Philosophie des deutschen Idealismus insgesamt versucht Hegel, die Welt in ihrer Differenz und Zerrissenheit als Identität zu denken. Einerseits möchte er zeigen, wie sich in den Formen menschlichen Zusammenlebens – Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat – in einem dialektischen Prozess Stufe für Stufe die Idee der Vernunft und der Freiheit verwirklicht. Andererseits diagnostiziert er zeitkritisch negative Entwicklungen, etwa die unreife Sittlichkeit der Familie und die Vereinzelung in der bürgerlichen Gesellschaft, die erst im Staat aufgehoben werden können.
- Sein Vorbild für den vernunftgemäßen Staat, in dem der Einzelne sich als Rechtsperson anerkannt und zugleich als Bürger geborgen fühlt, ist der preußische Staat. Allerdings entsprach Preußen unter Friedrich Wilhelm III. kaum einer konstitutionellen Monarchie, wie sie Hegel als Ideal vorschwebte.
- In der Armut erkannte Hegel ein Problem des beginnenden Industriezeitalters, in dem die Maschine begann, den Menschen zu ersetzen und ihn in die Arbeitslosigkeit zu treiben. Doch dies durch finanzielle Umverteilung abzumildern, verstieße gegen ein wesentliches Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, wonach die Bürger ihren Lebensunterhalt aus eigener Arbeit bestreiten sollen.
- Berühmt ist auch ein poetischer Satz aus der Vorrede: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Hegel sagt damit, dass die Philosophie gesellschaftliche Verhältnisse immer erst erkennen kann, wenn diese Wirklichkeit geworden sind, sie kann aber nicht im Voraus bestimmen, wie diese Verhältnisse sein sollen.
Historischer Hintergrund
Liberalismus und Restauration zu Beginn des 19. Jahrhunderts
In ganz Europa diskutierte man Ende des 18. Jahrhunderts über den idealen Staat, der Menschenrechte und die Gleichheit aller vor dem Gesetz sowie Presse-, Eigentums- und Meinungsfreiheit gewähren sollte. In Deutschland war Immanuel Kant ein Wegbereiter des Liberalismus. Er betonte aber stets die Grenzen bürgerlicher Freiheit, lehnte eine Herrschaft des Volks ab und trat für eine aufgeklärte Monarchie ein. Während die Französische Revolution 1789 die Volkssouveränität und in einem bis dahin unerreichtem Maß Eigentums- und Freiheitsrechte durchsetzte, bevorzugten die deutschen Aufklärer eine vernunftgemäße Selbstreform des Absolutismus. Die Herrscher sollten an das Naturrecht gebunden sowie auf den Staatszweck verpflichtet werden und bürgerliche Freiheiten garantieren. Als Musterland galt vielen Intellektuellen Preußen, das um 1818 – als Hegel nach Berlin kam – der am weitesten aufgeklärte Staat in Deutschland war. So hatte Preußen bereits 1740 die Folter und 1749 die Enteignung von Bauern durch Gutsherren verboten, es gewährte seinen Bürgern Religionsfreiheit und förderte Handel und Wirtschaft. Als preußische Minister setzten Karl vom und zum Stein und Karl August von Hardenberg ab 1807 zahlreiche Reformen durch, um einer gefürchteten Revolution zuvorzukommen.
Nach Napoleon Bonapartes Sturz drängten die europäischen Mächte auf dem Wiener Kongress 1814/15 darauf, die alte, vorrevolutionäre Ordnung wiederherzustellen. Unter Friedrich Wilhelm III. wurde der preußische Reformeifer deutlich gebremst, die Pressezensur wurde wieder eingeführt und die Überwachung der Universitäten vorangetrieben. Gegen diese restaurativen Tendenzen richteten sich die studentischen Proteste, die auf dem Wartburgfest in Eisenach 1817 einen Höhepunkt fanden. In teils stark emotional gefärbten, romantisch überspannten Reden riefen Teilnehmer zur Realisierung der deutschen Einheit und zur Abschaffung aller Feudalprivilegien auf. Mitglieder der Jenaer Burschenschaft forderten unter anderem Eigentums-, Meinungs- und Pressefreiheit und die Gleichheit aller vor dem Gesetz – liberale Grundpositionen der Französischen Revolution. Die Proteste gipfelten in der Verbrennung von als reaktionär und antideutsch geltenden Büchern, darunter das Werk des Dichters August von Kotzebue. Dessen Ermordung durch den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand führte 1819 zu den Karlsbader Beschlüssen und zur strengen Überwachung der Universitäten.
Entstehung
Hegel begann seine Arbeit an den Grundlinien der Philosophie des Rechts vermutlich im Frühjahr 1819. In seiner Vorrede, in der er klagte, die Zeitgenossen argumentierten nicht mehr aufgrund von Begriffen, sondern nur aus Gefühlen und Leidenschaft heraus, bezog er sich unmittelbar auf den radikalen Flügel der Studentenbewegung. Einen ihrer Wortführer, den Jenaer Professor und Kantianer Jakob Friedrich Fries, der auf dem Wartburgfest als Redner aufgetreten und Lehrer des Attentäters Sand gewesen war, nannte er gar den „Heerführer dieser Seichtigkeit“. Dem gefühlsbetonten „Geschwätz“ setzte Hegel seine auf Begriffen und Vernunft beruhende, systematisch ausgearbeitete Staatslehre entgegen, die ihm auch als Leitfaden für seine Vorlesungen und Seminare dienen sollte.
Schon als Professor in Heidelberg hatte Hegel öffentliche Vorlesungen zur politischen Philosophie gehalten, in denen er seine in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817) umrissenen Vorstellungen zu veranschaulichen versuchte. Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Werks ging er Johann Gottlieb Fichtes Nachfolger an die neu gegründete Berliner Universität, wo er seine populären Vorlesungen fortsetzte. Sie wurden nicht nur von Studenten und Kollegen, sondern auch von Staatsbeamten besucht. In Berlin fand Hegel nach den familiären und beruflichen Wirren der vorangegangenen Jahre auch erstmals Zeit und Ruhe, die verschiedenen Vorlesungsmanuskripte zur Rechts- und Staatsphilosophie zu einem eigenständigen Buch zusammenzufassen. Es erschien im Jahr 1821 in Berlin.
Wirkungsgeschichte
Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts lösten eine zwiespältige Wirkung aus. Arthur Schopenhauer etwa urteilte rundheraus, Hegels Rechtsphilosophie bestehe größtenteils aus Unsinn. Dennoch beeinflusste das Werk über den Linkshegelianismus die politische Theorie des jungen Karl Marx ebenso wie über den Rechtshegelianismus die Apologeten bestehender Ordnung und eines starken, autoritären Staates. Im 20. Jahrhundert tat sich Karl Popper als Hegel-Kritiker hervor und wollte in dessen Rechtstheorie sogar eine Ursache für die Entstehung des Nationalsozialismus sehen. In den 1980er-Jahren beriefen sich angloamerikanische Philosophen und Vertreter des Kommunitarismus, vor allem der Kanadier Charles Taylor, auf Hegels Konzept vom Staat als gewachsener Gemeinschaft.
Über den Autor
Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird am 27. August 1770 in Stuttgart geboren. Der pietistische, strenggläubige Vater sieht für seinen Sohn eine theologische Ausbildung vor. Nach der Lateinschule wechselt der junge Hegel ans Stuttgarter Gymnasium. Er ist ein ausgezeichneter Schüler. 1788 tritt er ins Tübinger Stift ein. Fünf Jahre studiert er hier Theologie und Philosophie, schließt Freundschaft mit Friedrich Hölderlin und Friedrich Schelling und genießt das Studentenleben. Am Ende des Studiums steht seine Entscheidung: Er will kein Priester werden. Während Kollege und Freund Schelling schnell reüssiert und mit 23 Jahren schon eine Professorenstelle erhält, plagt sich Hegel ab 1793 als Privatlehrer in Bern und anschließend in Frankfurt am Main. 1801 kommt er nach Jena, wo Schelling und später auch Goethe seiner Karriere auf die Sprünge helfen. 1805 erhält er seine erste unbesoldete Professur in Jena, die sich nur aus Hörergeldern speist. In Jena erblicken sowohl die Phänomenologie des Geistes als auch sein unehelicher Sohn das Licht der Welt. Nach dem Einmarsch der Franzosen flieht Hegel aus Jena. Sein Weg führt über Bamberg nach Nürnberg, wo er die Leitung des Ägidiengymnasiums übernimmt. Hier erscheint sein Werk Die Wissenschaft der Logik (1812 bis 1816). 1811 heiratet er Marie von Tucher, mit der er drei Söhne hat. Eine weitere Durchgangsstation zum großen Durchbruch stellt Heidelberg dar: 1816 nimmt er an der dortigen Universität die Professur für Philosophie an und veröffentlicht die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Schließlich folgt er Fichte auf den Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin. Hier avanciert er zum „preußischen Staatsphilosophen“ und hält Vorlesungen in überfüllten Hörsälen. Sein Ruf breitet sich in ganz Europa aus. Hegel stirbt am 14. November 1831 in Berlin an der damals dort grassierenden Cholera.
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