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Hand an sich legen
Buch

Hand an sich legen

Diskurs über den Freitod

Stuttgart, 1976
Diese Ausgabe: Klett-Cotta, 2012 Mehr

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Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Ein Buch für niemanden – oder jeden

Ein „Untrostbuch“ nannte Günter Kunert das Buch seines Schriftstellerkollegen Jean Améry. Hand an sich legen geht eigentlich niemanden an – bloß seinen Autor. Wer sich als Leser selbst „vor dem Absprung“ befindet, ist gewöhnlich über alle Philosophie hinaus, und wer am Leben hängt, wird sich kaum in jene paradoxale Düsternis fallen lassen, in die Amérys Gedankenketten führen. Der Autor fasst Wittgensteins „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ als willkürliche Anweisung auf, die durch mutigen Ungehorsam auch hintergangen werden könne. Und so sucht er nach Worten für das Unsagbare, ja, er zeigt sich als Meister des Wortes und führt diese Stärke angesichts des Themas mit befremdlicher Vitalität vor. Améry will über den Freitod sprechen, besser noch: über den Freitod aus der Sicht des Betroffenen, um jeden Preis. Es schmerzt, ihm dabei zuzuhören. Dennoch ist das Buch, auch wenn es scheinbar niemanden betrifft außer seinen Autor, lesenswert: Es lotet eine spezifisch menschliche Möglichkeit aus, die letztlich doch jeden betrifft.

Zusammenfassung

Innenperspektive statt Objektivierung

Das Phänomen des Suizids ist bislang nur unzureichend erforscht. Zwar gibt es eine unübersehbare Menge wissenschaftlicher Abhandlungen zum Thema, doch dem Kern der Sache ist mit den Werkzeugen der Psychologie, Soziologie, Medizin und Statistik, kurz der objektivierenden Wissenschaften, nicht beizukommen. Der Suizid ist wesentlich subjektiv, seine Bedingungen sind daher nur „von innen“, d. h. aus der Perspektive des Einzelnen zu verstehen. Was einen Menschen an jene Schwelle gebracht hat, an der er den Plan fasst, sich das Leben zu nehmen, ist die Summe seines gelebten Lebens und ist in seiner Ganzheit völlig einzigartig und unvergleichbar. Nicht nur entzieht sich das Phänomen des Suizids jeder objektivierenden Herangehensweise, auch bringt uns der Versuch, überhaupt etwas Sinnvolles, Allgemeinverständliches über die entsprechenden seelischen Vorgänge auszusagen, an die Grenzen der Sprache. Hier gilt, könnte man denken, Wittgensteins Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Tatsächlich aber muss über den Tod und speziell über den Freitod geredet werden; wenn unsere Sprache als Instrument logisch stringenter Wirklichkeitsabbildung...

Über den Autor

Jean Améry wird am 31. Oktober 1912 als Hans Chaim Mayer in Wien geboren. Sein Vater stirbt 1917. Die zarte Gesundheit des Jungen macht einen Umzug aufs Land nötig. Die Mutter pachtet ein Wirtshaus in Bad Ischl, Hans besucht das Gymnasium, das er aber nach anderthalb Jahren wieder verlässt. 1926 zieht er mit der Mutter zurück nach Wien. Hier vervollständigt er seine Bildung auf eigene Faust und schreibt nebenbei Prosa und Lyrik. An der Volkshochschule, damals ein intellektueller Hotspot, besucht er u. a. Vorlesungen von Elias Canetti und Robert Musil. 1938 flieht er vor den Nazis nach Belgien, das 1940 von deutschen Truppen besetzt wird. Mayer schließt sich dem Widerstand an, wird 1943 verhaftet und gefoltert und schließlich im KZ Auschwitz-Monowitz interniert. Nach Kriegsende kehrt er nach Brüssel zurück. Als Brotberuf wählt er den Journalismus und erweist sich hier als überaus produktiv. Verschiedene Arbeiten erscheinen in Buchform, etwa sein viel gelesenes Karrieren und Köpfe (1955). Doch als eigentliches Thema tritt bald die Zerrissenheit zwischen seiner Rolle als Jude und Holocaustopfer und derjenigen des auf ein deutsches Publikum zielenden Schriftstellers hervor. Diesen Zwiespalt verarbeitet Mayer, der sich jetzt Jean Améry nennt, während der 60er und 70er Jahre in zahlreichen Essays. Er erhebt seine Stimme gegen die kollektive Verdrängung der Nazigräuel und wird bald zur Gallionsfigur der Aufarbeitungsdebatte, die zum Leitmotiv des deutschen Geisteslebens werden soll. Alfred Andersch bezeichnet die Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne (1966) als „eines der Grunddokumente unserer Zeit“. Doch alle Anerkennung (u. a. der Deutsche Kritikerpreis 1970, der Preis der Stadt Wien für Publizistik 1977) vermag nichts gegen die Wunden, die durch Verfolgung, Folter und KZ in Amérys Seele entstanden sind. Am 17. Oktober 1978 nimmt er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.


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