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Herbst des Mittelalters

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Herbst des Mittelalters

Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden

Kröner,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Das Spätmittelalter, eine Epoche des Niedergangs: Huizinga schildert sie höchst lebendig, quellennah und stilistisch brillant.


Literatur­klassiker

  • Geschichte
  • Moderne

Worum es geht

Das Spätmittelalter als Epoche des Niedergangs

Huizingas Herbst des Mittelalters ist ein Klassiker der Kulturgeschichte. Der niederländische Historiker lässt vor den Augen des Lesers die Welt des Adels im Burgund und Nordfrankreich des 14. und 15. Jahrhunderts auferstehen. Krieg und Krankheiten, materielle Unsicherheit und der allgegenwärtige Tod prägen den Alltag der Menschen. Der harten Wirklichkeit versuchen sie durch den Traum vom schönen Leben zu entfliehen. In prachtvollen Kunstwerken, religiösen Ritualen und Zeremonien feiern sie das aristokratische Ritterideal – das freilich längst zur inhaltsleeren, oberflächlichen Illusion verkommen ist. Das Spätmittelalter erscheint aus Huizingas Sicht nicht als Epoche des Aufbruchs, sondern des Verfalls. Mit seinem Hauptwerk, das kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs erschien, hat der Autor die Kulturgeschichte, wie wir sie heute kennen, mitbegründet. Mag seine Darstellung auch nostalgisch und subjektiv sein, so wirkt der interdisziplinäre Ansatz doch sehr modern. Die farbige, höchst anschauliche Erzählweise macht auch heute noch den Reiz dieses großen Epochenporträts aus.

Take-aways

  • Johan Huizingas 1919 erschienenes Hauptwerk Herbst des Mittelalters ist ein Klassiker der Kulturgeschichtsschreibung.
  • Es entwirft ein breites Gemälde des 14. und 15. Jahrhunderts in Nordfrankreich und Burgund.
  • Das Spätmittelalter erscheint als Epoche extremer Leidenschaften, geprägt von Kriegen, Krankheiten und Unsicherheit.
  • Die Menschen suchen der harten Lebenswirklichkeit durch prächtige Kunstwerke und Feste zu entfliehen.
  • In Kunst und Literatur, in glanzvollen Zeremonien und religiösen Ritualen kommt die allgemeine Sehnsucht nach einem schöneren Leben zum Ausdruck.
  • Gleichzeitig ist das aristokratische Ritter- und Liebesideal am Ende des Mittelalters längst zur reinen Illusion verkommen.
  • Die Gesellschaft wird als gottgegeben und unveränderbar hingenommen; Kunst und Leben sind gefangen in einem starren Formalismus.
  • Heiligenverehrung und Aberglaube grassieren. Der Umgang mit der Religion schwankt zwischen Respektlosigkeit und Ekstase.
  • Das 15. Jahrhundert ist weniger ein Zeitalter des Neubeginns als vielmehr eines des Niedergangs.
  • Altes und Neues vermischen sich, die Übergänge zwischen Spätmittelalter und Renaissance sind fließend.
  • Huizinga blendet die politische und wirtschaftliche Geschichte zugunsten der Mentalitäts- und Kulturgeschichte aus.
  • Er festigt seine Thesen durch akribische Studien der französischen Literatur und der niederländischen Malerei.

Zusammenfassung

Ein Zeitalter der Extreme

Das Leben im 15. Jahrhundert war grell, bunt und voller Gegensätze. Freude und Leid, Glück und Schmerz, Sommer und Winter, Licht und Dunkelheit, Lärm und Stille standen in krassem Kontrast zueinander. Die Menschen waren empfänglich für große Spektakel wie Prozessionen und Hinrichtungen, Predigten und religiöse Zeremonien. Der Alltag des einfachen Volkes bot Platz für glühende Leidenschaft und kindliche Fantasie, das Leben der Fürsten hatte etwas Märchenhaftes, Abenteuerliches. Die Politik war noch nicht bürokratisch eingeschränkt, sondern von menschlichen Gefühlen wie Neid, Hass und Rachebedürfnis gesteuert. Die mittelalterliche Justiz kannte nur zwei extreme Alternativen: grausame Bestrafung oder Gnade. Fragen nach der Zurechnungs- und Schuldfähigkeit, die unser heutiges Rechtsempfinden bestimmen, waren den Menschen fremd. Armen, Kranken und Geisteskranken begegnete man einerseits mit Härte, andererseits mit rührender Barmherzigkeit.

Unsicherheit und Sehnsucht nach Schönheit

Die Abfolge von Misswirtschaften und Hungersnöten, Krankheiten und Kriegen rief ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit hervor. Hinzu kam die durch Volksprediger geschürte Angst vor der Hölle, vor Hexen und Teufeln. Bei aller Lebenslust und Freude waren die Menschen des Spätmittelalters von Angst und düsteren Vorahnungen beherrscht. Aus ihrem Leiden an der Wirklichkeit erwuchs die Sehnsucht nach einem schöneren Leben. Nicht erst in der italienischen Renaissance des 16. Jahrhunderts, wie immer behauptet wird, sondern schon ab dem 12. Jahrhundert ist ein Bedürfnis nach verfeinerter Lebensschönheit auszumachen. Zwar galt Genuss in Form von Lektüre, Musik, Kunst, Sinnesfreuden und Körperertüchtigung im Mittelalter als sündhaft, weil er irdischen Ursprungs war. Dennoch wurden an den Höfen Frankreichs und Burgunds in höchstem Maße Pracht und Glanz, ritterlicher Sport und Mode – mit einem Wort: Lebenskunst – zelebriert.

„Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute.“ (S. 1)

Bei aller Leidenschaftlichkeit wurden Etikette und Ehrgefühl im Mittelalter großgeschrieben. Das Schwanken zwischen den Extremen, zwischen buntem Treiben und Dunkelheit, zwischen Lebensfreude und Leid, erforderte einen festen Rahmen von Regeln, in dem man sich bewegte. Nicht nur bei Hof war es üblich, Gefühle in schöne Formen zu kleiden und starke Gemütsbewegungen als Schauspiel für andere zu gestalten. Die allgemeine Sehnsucht nach Schönheit fand weniger in Kunst und Literatur als vielmehr im alltäglichen Leben, in Mode und Kunstgewerbe, in Höflichkeit und Verhaltensregeln ihren Ausdruck.

Der Adel zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die mittelalterliche Gesellschaft beruhte auf der Vorstellung einer gottgegebenen, unveränderlichen Ordnung. Jeder der drei großen Stände hatte im Staat seine feste Funktion: Das gemeine Volk, also die Bauern und Bürger, sollte den Boden bestellen und Handel treiben, die Geistlichkeit den Glauben verbreiten, und der Adel hatte die Aufgabe, Volk und Glauben zu schützen, sich um das Gemeinwohl zu kümmern und gegen Tyrannei zu kämpfen. Obwohl der Adel stetig an Bedeutung verlor, war die spätmittelalterliche Gesellschaft noch in hohem Maß vom aristokratischen Ritterideal geprägt. In den kriegerischen und politischen Wirren bot die Vorstellung ritterlicher Ehre und Tugend die Illusion einer festen Ordnung. Die zeitgenössische französische Literatur verbreitete das romantische Ideal des Ritters. Dessen Haupttugenden waren Frömmigkeit und Zurückhaltung, Treue und Tapferkeit. Mit der rauen Wirklichkeit des Krieges hatte das freilich nichts zu tun.

Das Ritterideal als reine Illusion

Obgleich vom Adel selbst als Schein und Lüge erkannt, beherrschte das ritterliche Ideal Politik und Kriegsführung bis ins Spätmittelalter. So wurde in der Auseinandersetzung des christlichen Westens mit den Türken das alte Motiv des religiösen Kreuzzugs bemüht. Im Fürstenduell lebte trotz aller strategischen Neuerungen in der Kriegsführung die ritterliche Kultur des Zweikampfes fort. Allmählich aber verlagerte sich das Ritterideal in die Sphäre der Literatur, der Feste und Spiele. Neben dem Ritterroman bot der mittelalterliche Sport, vor allem der Turnierkampf, Platz für Fantasie und Heldenmut aus Liebe, was aus dem Hofalltag längst verdrängt worden war. Im 15. Jahrhundert war das aristokratische Ideal vom Ritter nur noch eine Illusion, geboren aus dem leidenschaftlichen Traum vom schönen Leben.

„So grell und bunt war das Leben, dass es den Geruch von Blut und Rosen in einem Atemzuge vertrug. Zwischen höllischen Ängsten und kindlichem Spaß, zwischen grausamer Härte und schluchzender Rührung schwankt das Volk hin und her wie ein Riese mit einem Kinderkopf.“ (S. 28)

Auch in der höfischen Liebesliteratur äußerte sich der Wunsch nach Lebensschönheit. Die reine, treue, selbstverleugnende Liebe war ein wesentlicher Bestandteil des ritterlichen Lebensideals. Von der Realität waren die höfischen Ideale allerdings weit entfernt: Während in der aristokratischen Literatur das Ideal der aufopfernden, tugendhaften Liebe weiterlebte, wurde der Alltag adliger Eheschließung weitgehend von materiellen Überlegungen bestimmt. Nüchtern betrachtet erscheint das Rittertum mit seinen Idealen von Schönheit und Tugend am Ende des Mittelalters als ein nutzloser, lächerlicher Anachronismus – ähnlich wie die Schwärmerei für das einfache Leben in der Natur, das zu jener Zeit im literarischen Genre der Pastorale gefeiert wurde. Es brachte die aristokratische Sehnsucht nach einem unbekümmerten Schäferleben, nach freier Liebe jenseits aller höfischen Zwänge zum Ausdruck – und wurde schon von Zeitgenossen als bloße Maskerade verspottet.

Todesfurcht und religiöses Empfinden

Mehr als in jeder anderen Zeit beherrschte die Menschen im 15. Jahrhundert der Gedanke an den Tod. In der bildenden Kunst, in Skulpturen und Grabmälern mit ihren realistischen Darstellungen von verwesenden Leichen wird das Grausen vor dem Sterben offensichtlich. „Memento mori“ – denke an den Tod, denn alle irdische Schönheit ist eitel und vergänglich – so lautete die mahnende Botschaft.

„Der leidenschaftliche und gewalttätige Geist, hart und zugleich tränenreich, ständig schwankend zwischen schwarzer Verzweiflung über die Welt und Schwelgen in bunter Schönheit, konnte nicht ohne die strengsten Lebensformen existieren.“ (S. 64)

Der spätmittelalterliche Alltag war von Religion durchdrungen. Die tiefe Frömmigkeit gründete auf dem Glauben an das Magische und Bildhafte. Was die Leute auf Bildern sahen, glaubten sie eins zu eins. Schon vor der Reformation wurde die ungezügelte Vermehrung von Heiligen und Wundern, Reliquien und Sakramenten von der Kirche selbst als Aberglaube kritisiert. In ihrem täglichen Leben gingen die Menschen so vertraulich mit sakralen Dingen um, dass man von einer Vermischung der religiösen und weltlichen Sphäre sprechen muss, die heute geradezu heidnisch anmutet. So konnte man z. B. bei einer Verlosung in Bergen-op-Zoom im Jahr 1518 neben „köstlichen Preisen“ auch Ablässe gewinnen. Bei aller Profanität wurde das Volk auch immer wieder von Schüben heftiger religiöser Erregung ergriffen. Das christliche Empfinden jener Zeit bewegte sich im Spannungsfeld zwischen alltäglicher, nüchterner Ehrfurchtslosigkeit und inbrünstiger Leidenschaft, ja Ekstase.

Symbolismus und Formalismus

Das mittelalterliche Denken verlief nach anschaulichen, bildhaften und stark symbolischen Prinzipien. Der Symbolismus, der aufgrund irgendeiner Ähnlichkeit einen Zusammenhang zwischen zwei Dingen herstellt, verlieh allem Irdischen eine höhere Bedeutung. Jedes Ding und jeder Begriff, jeder Stand und Beruf verwies über sich hinaus auf eine göttliche Ordnung. So standen beispielsweise die zwölf Monate für die Apostel und die vier Jahreszeiten für die Evangelisten, den sieben Haupttugenden entsprachen die sieben Bitten des Vaterunsers etc. Am Ende des Mittelalters uferte der Symbolismus aus und verkam zu rein mechanischer Rechnerei und einem überladenen System formaler Vorstellungen.

„Aber die Geschichte der Kultur hat es ebenso viel mit den Träumen von Schönheit und dem Wahn eines edlen Lebens zu tun wie mit den Bevölkerungszahlen und Steuern.“ (S. 128)

Auch im alltäglichen Denken der Menschen hatte alles seinen festen Platz in einer geheiligten Ordnung. Stets wurde nach der „Lehre“, der sittlichen Bedeutung gefragt, die sich hinter einem Ereignis verbarg. Die Neigung, aus allem eine Moral zu ziehen, äußert sich etwa im Sprichwort, das im spätmittelalterlichen Denken eine lebendige Funktion erfüllte. Zu jeder Frage – sei es der Sittlichkeit, des Rechts oder der Etikette – gab es eine ideale Lösung. Sobald die ewige Wahrheit, die in einem einzelnen Fall zutage trat, erkannt war, wurden daraus formale Regeln abgeleitet und Exempel statuiert. Ob im Krieg oder in der Kampfkunst, bei der Jagd oder in der Liebe, die als ein schönes Gesellschaftsspiel mit stilvollen Regeln erschien – stets herrschte diese formalistische Denkweise vor. Das weit verbreitete Bedürfnis nach Vereinfachung und Verallgemeinerung führte jedoch oft zu groben Fehlurteilen. Oberflächlichkeit, Leichtgläubigkeit und ein Mangel an kritischem Urteilsvermögen waren charakteristisch für die Menschen des Spätmittelalters. Nicht umsonst blühten im 15. Jahrhundert Zauberwahn und Hexenverfolgung auf.

Kunst und Leben

Spätere Historiker zeichneten ein düsteres Bild des ausgehenden Mittelalters; es dominierten Grausamkeit, Leidenschaft und Habgier. Im Gegensatz zu diesen Schilderungen strahlen die Bilder aus jener Zeit tiefen Frieden und Heiterkeit aus. Nun kann die bildende Kunst dem heutigen Betrachter niemals in dem Maße Schmerz und Leid einer Epoche vermitteln, wie es die Belletristik und die Chroniken tun. Denn die Aufgabe der bildenden Kunst war es, das Leben in all seinen Formen – der Religion, des Rittertums, der höfischen Minne – mit Schönheit zu schmücken. Im Unterschied zum modernen Kunstbegriff, der sich in der Renaissance durchgesetzt hat, existierte Kunst damals nicht um ihrer selbst willen, sondern sie hatte immer eine praktische Funktion. So diente etwa ein Altarbild der Belebung der Frömmigkeit oder dem Gedenken an den frommen Stifter. Ein kunstvoll gestaltetes Grabmal sollte den Verstorbenen möglichst realistisch darstellen und damit die Ergriffenheit der Trauernden steigern.

Ornamentale Pracht und Lust am Detail

Die Grenze zwischen Kunst und Kunsthandwerk war im Mittelalter fließend. Um den alltäglichen Bedrückungen, dem Krieg und der Pest, dem Hunger und dem Teufel zu entkommen, bedurfte es prachtvoller Kunstwerke, in denen die Schönheit des Lebens gefeiert wurde. Bizarr überladene Teppiche und reich verzierte Kleider, prunkvolle Feste und Grabmäler zeugen von einem allgemeinen Bedürfnis nach Schmuck und Ornament. Selbst in der realistischen flämischen Malerei, in der sich nach verbreiteter Auffassung bereits die Renaissance ankündigt, ist der Geist des Spätmittelalters noch lebendig: in der Lust am ausschmückenden Detail, an der bunten Form, die den Inhalt zu überwuchern droht. Die Menschen des Spätmittelalters setzten Schönheit mit Vollkommenheit gleich. Wie in der Malerei strebte man auch in der Musik die treffende Nachahmung natürlicher Vorbilder an, etwa Jagdszenen oder Vogelgezwitscher. Allgemein herrschte eine naive Bewunderung für Glanz und Farbenpracht, eine theoretische Analyse der Schönheit blieb aus.

„Überall lugt die Lüge aus den Löchern des ritterlichen Staatskleides hervor.“ (S. 142)

Das spätmittelalterliche Denken war stark visuell geprägt. In der Kunst zeigte sich die Neigung, alles äußerlich Sichtbare unmittelbar wiederzugeben. Während uns die unbegrenzte Lust am Detail in den Gemälden des 15. Jahrhunderts heute begeistert, wirken die endlosen Aneinanderreihungen in der Dichtung ermüdend. Gerade in der Nachahmung der Natur erscheint die Malerei jener Zeit der Literatur an Ausdrucksmitteln deutlich überlegen. Eines allerdings hatte die Literatur der bildenden Kunst voraus: die Fähigkeit zur Komik und zum Spott.

Von der alten in eine neue Zeit

Die Renaissance überwand das Schwülstige, Übertriebene, Schnörkelhafte, das den Geist des späten Mittelalters kennzeichnete. Mittelalter und Renaissance waren indes nicht so eindeutig voneinander geschieden, wie es uns heute erscheinen mag. Auch im italienischen Quattrocento, das gemeinhin als Zeitalter des aufblühenden Humanismus, der Heiterkeit und geistigen Freiheit gilt, bestanden mittelalterliche Züge fort. Umgekehrt herrschten im Frankreich des 15. Jahrhunderts nicht nur jene düstere Grundstimmung und bizarre, überladene Pracht vor, wie sie für das ausgehende Mittelalter typisch waren – inmitten alter Auffassungen und Lebensverhältnisse erwachte hier allmählich ein neuer Geist, der im frühen französischen Humanismus zum Ausdruck kam.

„Keine Zeit hat mit solcher Eindringlichkeit jedermann fort und fort den Todesgedanken eingeprägt wie das fünfzehnte Jahrhundert.“ (S. 194)

Für eine wirkliche Erneuerung reichte das allerdings nicht. Die wenigen französischen Humanisten bedienten sich zwar klassizistischer Formen, doch in Stimmung und Haltung waren sie noch ganz mittelalterlich. Die Renaissance beinhaltete gleichwohl einen neuen Geist, ein neues Lebensgefühl. Statt des düsteren Pessimismus herrschte die Zuversicht, dass es gelingen werde, die Antike wiederzubeleben. Insbesondere in Italien, dessen Gedanken und Sprache sich vom Altertum noch nicht so weit entfernt hatten, konnte sich der moderne Mensch entfalten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Huizingas Herbst des Mittelalters ist in 22 Kapitel gegliedert, die sich mosaikartig zu einem großen Epochengemälde zusammenfügen. Die einzelnen Kapitel stellen jeweils einen Aspekt des spätmittelalterlichen Lebens in den Vordergrund: Rittertum, Liebe, Religion, Tod, Kunst etc. Durch die vielen Bildquellen und literarischen Zitate, mit denen Huizinga seine Argumente und Gedanken belegt, wirkt seine Darstellung des 14. und 15. Jahrhunderts sehr anschaulich und lebendig. Die langen, zumeist französischen Zitate werden in Klammern noch einmal übersetzt wiedergegeben – eine nicht unbedingt übliche Dienstleistung des Autors. Von den zahlreichen spätmittelalterlichen Bildern und Skulpturen, auf die Huizinga sich bezieht, sind die 15 wichtigsten im Buch abgedruckt. Die Sprache des Autors ist reich an Metaphern und rhetorischen Figuren, was seiner Darstellung etwas Poetisches, Suggestives verleiht. Das Buch ist so, trotz hoher Gelehrsamkeit, alles andere als eine trockene, akademische Angelegenheit.

Interpretationsansätze

  • Huizingas Herbst des Mittelalters wird häufig in einem Atemzug mit Jacob Burckhardts Werk Die Kultur der Renaissance (1860) genannt. Der Niederländer bezieht sich selbst ausdrücklich auf den Basler Historiker, den er sehr bewunderte. Während Huizinga allerdings den fließenden Übergang vom Mittelalter zur Renaissance betont, zieht Burckhardt eine klare Trennungslinie zwischen den beiden Epochen.
  • Das Grundmotiv von Huizingas Buch ist die Sehnsucht nach einem schöneren Leben. Die adligen und stadtbürgerlichen Eliten Burgunds und Nordfrankreichs kompensierten die düstere Lebenswirklichkeit durch oberflächliche, längst inhaltsleer gewordene höfische und religiöse Rituale.
  • Das 15. Jahrhundert im nördlichen Europa erscheint in Huizingas Darstellung, anders als bei älteren Historikern, als Zeitalter des Verfalls und der geistigen Erstarrung – daher der metaphorische Titel des Werks.
  • Auch methodisch beschreitet Huizinga neue Wege. Er lässt die Sphäre der staatlichen und internationalen Politik, der Institutionen und der Wirtschaft außen vor. Statt historischer Ereignisse beschreibt er die Kultur- und Denkformen des Spätmittelalters. Als Quellen zieht er weder zeitgenössische Chroniken noch Werke der politischen Ideengeschichte, sondern vorwiegend Literatur und Kunstwerke, Gebrauchsgegenstände und Rituale heran.
  • Besonderes Interesse zeigt der Autor für anthropologische Konstanten wie Liebe und Tod, Glaube und Angst. Mit ethnologischem Blick sucht Huizinga, der sich während seines Studiums intensiv mit der altindischen Literatur- und Kulturgeschichte auseinandergesetzt hat, das Fremde und so genannte Primitive in der eigenen, der europäischen Kultur.
  • Das Buch vereint verschiedene wissenschaftliche Disziplinen: Zeit- und Kunstgeschichte, Anthropologie, Ethnologie, Literatur-, Sprach- und Musikwissenschaft.

Historischer Hintergrund

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen

Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren in Europa durch die Rivalität und den Rüstungswettlauf der großen Mächte Deutschland, England und Frankreich gekennzeichnet. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand löste im Juli 1914 den Ersten Weltkrieg aus. Schon im folgenden Monat marschierten unter Missachtung der belgischen Neutralitätserklärung deutsche Truppen in Belgien ein, was in den benachbarten Niederlanden zu Panik und Masseneinkäufen führte. Beim so genannten Kartoffelaufruhr 1917 plünderten Zivilisten in Amsterdam sogar Lebensmittellieferungen für Soldaten. Zwar gelang es der niederländischen Regierung trotz des Drucks der Engländer und der Deutschen, die eigene Neutralität im Krieg zu wahren. Dennoch gingen dessen Folgen, etwa die massenhafte Flucht von Belgiern über die Grenzen und die weltweite wirtschaftliche Krise, nicht spurlos an dem kleinen Königreich vorbei.

Mit über zehn Millionen Todesopfern und weiteren Millionen von Verwundeten erreichte der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des Jahrhunderts“ (so der Historiker George F. Kennan), eine neue historische Dimension. Besonders in Nordfrankreich und Belgien hinterließen die schweren Kämpfe eine Spur der Verwüstung. Der allgemeine Fortschrittsglaube und Optimismus wich einer düsteren, von Zukunftsangst geprägten Haltung. Auch Johan Huizinga, der bis dahin ein eher optimistisches, harmonisches Geschichtsbild vertreten hatte, sah sich durch den Krieg und dessen Folgen in seiner Rolle als Historiker verunsichert.

Entstehung

Schon früh in seiner wissenschaftlichen Laufbahn setzte sich Johan Huizinga mit dem Thema der „nördlichen Renaissance“ auseinander. Einen Anstoß zur Beschäftigung mit der Kultur des Spätmittelalters gab ihm eine Ausstellung niederländischer Malerei in Brügge 1902. Als Professor in Groningen bot er 1909/10 Lehrveranstaltungen zur Geschichte Burgunds an. In seiner Leidener Antrittsvorlesung von 1915 thematisierte er die Lebensideale der Elite im niederländisch-burgundischen Raum. 1916 widmete Huizinga einen längeren Aufsatz der Malerei der Brüder Jan und Hubert van Eyck, deren idyllisch-optimistische Gemälde er in scharfem Kontrast zu der zeitgenössischen düsteren Literatur sah. In Herbst des Mittelalters, das 1919 erstmals erschien und das der Autor bis 1941 weiter ergänzte, fügten sich diese verschiedenen wissenschaftlichen Vorarbeiten zu einem großen Epochenbild zusammen. Neben der Arbeit an seinem Hauptwerk verfasste Huizinga in dieser Zeit auch ein Buch über die Geschichte der Vereinigten Staaten, das 1918 veröffentlicht wurde. So unterschiedlich diese beiden Werke sind, verbindet sie doch eines: der Blick auf das Fremde, auf Sitten und Gebräuche einer anderen Kultur. Huizinga knüpfte hierbei an eine im frühen 20. Jahrhundert lebendige ethnologische Tradition in der Kunst und Wissenschaft an, die den Dialog mit fremden Kulturen suchte.

Wirkungsgeschichte

In den Niederlanden wurde Herbst des Mittelalters vor allem seitens der etablierten Mediävistik (Mittelalterforschung) kritisiert. Man warf Huizinga eine subjektive Betrachtungsweise und nostalgische Verklärung der Vergangenheit vor. Der Autor wurde als weltfremder Gelehrter belächelt, sein Werk als künstlerisch-literarische, nicht aber als seriöse historische Forschung betrachtet. Dennoch erhielt Huizinga für sein Buch 1920 den renommierten D. A.-Thieme-Preis.

Auch in Deutschland reagierten die zeitgenössischen Mittelalterforscher auf Herbst des Mittelalters eher zurückhaltend. Während das Werk in kunst- und kulturwissenschaftlichen Zeitschriften überwiegend positiv aufgenommen wurde, hatte es auf die Geschichtsschreibung seiner Zeit nur geringen Einfluss. Die Betonung historischer Kontinuität wie auch der kultur- und geistesgeschichtliche Ansatz lassen zwar gewisse Parallelen zu den späteren mentalitätsgeschichtlichen Studien eines Marc Bloch oder Lucien Febvre erkennen. Huizinga selbst hielt jedoch stets eine gewisse Distanz zu der französischen Annales-Schule, die von Bloch und Febvre gegründet worden war und ihr Augenmerk auf langfristige wirtschaftliche und soziale Veränderungen richtete.

Als sich die Geschichtswissenschaften in den späten 70er Jahren der Anthropologie, Psychologie und Linguistik zuwandten, wurde Huizingas Hauptwerk weltweit neue Aufmerksamkeit zuteil. Auch wenn einzelne Thesen inzwischen überholt sein mögen, birgt sein interdisziplinärer Forschungsansatz auch für die moderne Geschichtsforschung weiterhin einiges Potenzial. Heute gilt Herbst des Mittelalters, das in zahlreiche Sprachen – u. a. auch ins Russische und Japanische – übersetzt wurde, als Klassiker der Kulturgeschichte.

Über den Autor

Johan Huizinga wird am 7. Dezember 1872 in Groningen als Sohn eines Professors für Physiologie geboren. Von 1891 bis 1895 studiert er in seiner Heimatstadt Niederländische Philologie, was Geografie, Geschichte und das altindische Sanskrit einschließt. Nach seiner Promotion 1897, für die er einige Monate in Leipzig verbringt, arbeitet er als Geschichtslehrer an einer Haarlemer Schule und lehrt Indologie an der Amsterdamer Universität. 1905 wird er als Professor für Allgemeine und Niederländische Geschichte nach Groningen berufen. Nach dem frühen Tod seiner Frau wechselt er 1915 an die Universität Leiden, wo er den renommierten Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte und Historische Geografie innehat. Mit Herbst des Mittelalters gelingt ihm 1919 ein Klassiker der europäischen Geschichtsschreibung. Nebenbei arbeitet Huizinga als Redakteur bei De Gids, der führenden liberalen Kulturzeitschrift der Niederlande. Nachdem er in seiner Funktion als Rektor 1933 einen deutschen Kongressteilnehmer wegen antisemitischer Äußerungen der Universität verweist, werden seine Vorträge und Schriften, darunter die Biografie Erasmus von Rotterdam (1924), in Deutschland verboten. In seinem Buch Im Schatten von morgen (1935) beklagt er Traditionsmangel und den allgemeinen Niedergang der Urteilskraft. 1937 heiratet der fünffache Vater zum zweiten Mal. Inmitten der politischen Wirren verfasst er Homo ludens (1939), ein Buch über den Spieltrieb des Menschen. Nach Protesten gegen die deutschen Besatzer wird er 1942 inhaftiert, bald darauf jedoch wieder freigelassen. Zusammen mit seiner Frau und der jüngsten Tochter lebt er verbannt in einem Landhaus bei Arnheim, das ihm zugewiesen worden ist. Am 1. Februar 1945, wenige Tage vor der Befreiung der Niederlande von den Nationalsozialisten, stirbt Huizinga.

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