Joseph Conrad
Herz der Finsternis
dtv, 2005
Was ist drin?
Joseph Conrads faszinierender Roman zeigt: Der Schrecken der Welt – das ist der Kolonialismus.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Eine Reise in die schwärzesten Abgründe des Menschen
Mit angehaltenem Atem folgt der Leser dem eher knappen Bericht des Erzählers Marlow, der in dichter Prosa seine Fahrt auf dem Kongo ins Herz Afrikas und ins Herz der Finsternis schildert. Denn es ist auch eine Reise an die finstersten Orte der menschlichen Seele. Marlow übernimmt das Kommando auf dem schäbigen Flussdampfer einer belgischen Handelsgesellschaft in der Spätzeit des europäischen Kolonialismus. In Afrika angekommen, vernimmt er Gerüchte über einen Mr. Kurtz, der angeblich Hunderte Meilen stromaufwärts lebt und herrscht. Kurtz ist der erfolgreichste Handelsagent der Gesellschaft. Er liefert unvorstellbare Mengen an Elfenbein und scheint eine charismatische Persönlichkeit zu sein. Trotz aller Widrigkeiten treibt es Marlow den Fluss hinauf, um diesen Mann kennen zu lernen. Was er dabei erlebt, wird er sein Leben lang nicht vergessen ... So konkret die Bilder sind, die Conrad von der Wildnis und von der grausamen Kolonialherrschaft zeichnet, so wenig kommt es ihm auf erzählerischen Realismus an. Aus der Konfrontation des weißen Mannes mit der als grauenvoll geschilderten „Urwelt“ formt er ein schwarzes Spiegelbild menschlichen Daseins und eine der düstersten Schilderungen des europäischen Kolonialismus in der Literatur.
Take-aways
- Herz der Finsternis ist einer der ersten modernen Romane des 20. Jahrhunderts. Er führt in die tiefste Schwärze Afrikas – und der menschlichen Seele.
- Im Wesentlichen besteht der Roman aus dem Bericht des Kapitäns Marlow über eine Dampfschifffahrt den Kongo aufwärts.
- Zu jener Zeit steht das Kongo-Gebiet unter belgischer Kolonialherrschaft, die das Land systematisch und mit brutalen Methoden ausplündert.
- Die Reise führt tief in das Innere Afrikas, wo ein Handelsagent namens Kurtz ein regelrechtes Terrorregime als Grundlage für seine künftige Karriere aufgebaut hat.
- Nach allem, was er über den legendären Kurtz gehört hat, sieht Marlow der Begegnung gespannt und skeptisch zugleich entgegen.
- Die Reise ist von Beginn an ein Albtraum, weil angesichts der extremen Hitze und ineffizienter Arbeitsweisen in diesem Land nichts wirklich funktioniert.
- Nicht nur ist Marlows Schiff versunken und muss mühevoll repariert werden, auch die Menschen verändern sich zu ihrem Nachteil.
- Der todkranke Kurtz erfüllt die schlimmsten Befürchtungen davon, wozu Menschen unter extremen Bedingungen fähig sind.
- Seine sprachlichen Höhepunkte erreicht das Buch in der Schilderung der Fahrt durch den Urwald, der als Spiegelbild menschlicher Ängste erscheint.
- Herz der Finsternis kann als profunde Kritik am europäischen Kolonialismus verstanden werden.
- Das Buch wurde von Francis Ford Coppola unter dem Titel Apocalypse Now verfilmt, wobei der Regisseur die Handlung nach Kambodscha verlegte.
Zusammenfassung
An Bord einer Jacht auf der Themse
Auf einer gediegenen Hochseejacht, die bei London ruhig auf der Themse vor Anker liegt, sitzen im Sonnenuntergang fünf Männer beisammen, die alle irgendwie mit Seefahrt zu tun haben. Einer von ihnen ist Charlie Marlow, der etwas abseits von den anderen sitzt. Während man beim Anblick des friedlichen Hafens über die seefahrerische Vergangenheit Englands sinniert, macht Marlow plötzlich eine Bemerkung: „Auch das war einmal einer der finstersten Orte der Erde.“ Marlow führt seine Vorstellung davon aus, wie die Römer einst in die Wildnis, die jetzt London ist, kamen, wie sie diese Kolonie eroberten und sie anschließend mit roher Gewalt ausquetschten. In der Gesellschaft weiß man zwar, dass Marlow zum Fabulieren neigt, gleichwohl gelten seine Erzählungen als bedeutender als das gemeine Seemannsgarn; und so lauschen alle gebannt, als er den Höhepunkt seiner Reiseerlebnisse schildert. Denn Marlow ist ein Reisender, der Erfahrungen sucht, anders als der gewöhnliche Seemann, der im Grunde ein Stubenhocker ist und im Schutz seines Schiffes auf dem immergleichen Meer herumfährt, gleichgültig gegen die fremden Küsten, die er erreicht.
Mr. Marlow sucht ein Kommando
Schon als Kind hat sich Marlow fasziniert in Landkarten vertieft. Damals gab es noch weiße Flecken, die die Fantasie besonders reizten. Ein gewisser Entdeckerdrang hat ihn zu seinem Beruf geführt. Nach mehreren Jahren als Schiffsführer in Fernost sucht er einige Zeit in London vergebens ein neues Kommando. Er weiß, dass aus den weißen Flecken Afrikas inzwischen Orte der Finsternis geworden sind, aber dennoch zieht es ihn dorthin. Durch die Vermittlung einer Tante erhält er eine Stelle auf einem Dampfboot, das den Kongo, den schlangengleichen Fluss in die Tiefen des afrikanischen Kontinents, hinauffährt. Das Boot gehört einer belgischen Handelsgesellschaft. Marlow fährt nach Brüssel, um sich vorzustellen.
Vorstellungsgespräch in Brüssel
Die Handelsgesellschaft ist die bedeutendste des Landes. Der vorherige Kapitän des Dampfschiffs, ein als besonnen bekannter Däne namens Fresleven, wurde von Eingeborenen erschlagen. Dies geschah in einem Moment, als der Däne die Nerven verloren und wegen eines Missverständnisses um zwei schwarze Hühner einen Stammeshäuptling verprügelt hatte.
„Die Küste vor mir war fast gestaltlos, als befände sie sich noch im Werden, ein Anblick von eintöniger Grimmigkeit.“ (S. 21)
Im Vorzimmer des repräsentativen Gebäudes in Brüssel sitzen zwei Frauen, die eifrig schwarze Wolle stricken und Marlow mit wissendem Blick mustern. Marlow wird später noch oft an diese beiden zurückdenken, die das „Tor zur Finsternis“ zu bewachen scheinen. Der Direktor begnügt sich mit einem Händedruck. Dann folgt eine oberflächliche ärztliche Untersuchung. Der Arzt macht sich daran, Marlows Schädel zu vermessen, und bemerkt, er fände es interessant, bei den Tropenfahrern „die geistigen Veränderungen des Individuums an Ort und Stelle zu verfolgen“. Anlässlich eines Abschiedsbesuchs bei seiner Tante registriert Marlow, dass Frauen wie sie keinerlei Begriff von den Geschäften und der Profitorientierung der Handelsfirma haben. Sie glaubt allen Ernstes, die Europäer hätten in Afrika eine zivilisatorische Mission.
Die afrikanische Küste
Marlow fährt auf einem französischen Dampfer nach Afrika. Das Schiff transportiert vorwiegend Soldaten, Zollbeamte und Postsendungen, die an verschiedenen Stationen ausgeladen werden. Die Küste erscheint verlockend und abweisend zugleich. Nach 30 Tagen auf See geht es auf einem kleinen Dampfer flussaufwärts weiter zur ersten Station der Handelsgesellschaft, einem trostlosen Ort, wo die Schwarzen beim Bau einer Eisenbahnlinie schuften und wo unbrauchbares Metall und Maschinen wahllos herumliegen und vor sich hin rosten. Im Schatten einiger Bäume sieht Marlow ein paar Schwarze, die die Strapazen nicht mehr ertragen und sich zum Sterben zurückgezogen haben.
„Sie starben langsam – das war ganz klar. Dies waren keine Feinde, keine Verbrecher, sie waren nichts Irdisches mehr, nur noch schwarze Schatten der Krankheit und des Hungers, die durcheinander im grünlichen Schatten lagen.“ (S. 28)
Ein makellos gekleideter und parfümierter Prokurist nimmt Marlow in Empfang. Unter diesen Umständen den Schein zu wahren, kommt Marlow geradezu wie Charakterstärke vor. Der Prokurist führt auch penibel die Bücher. Aus seinem Mund vernimmt Marlow zum ersten Mal den Namen Kurtz und eine Anspielung auf dessen besondere Bedeutung. Die Handelsgeschäfte der Gesellschaft bestehen darin, minderwertige oder wertlose Waren ins Innere des Landes zur dortigen Station zu verfrachten und gegen Elfenbein zu tauschen. Und Kurtz ist der mit Abstand größte Elfenbeinlieferant.
„Mir fiel ein, was der alte Arzt gesagt hatte – ‚Für die Wissenschaft wäre es interessant, die geistigen Veränderungen des Individuums an Ort und Stelle zu verfolgen.‘ Ich hatte das Gefühl, wissenschaftlich interessant zu werden.“ (S. 34)
Am nächsten Tag bricht Marlow mit einer Fußkarawane von 60 Trägern zu einem 200 Meilen langen Marsch ins Landesinnere auf. Sein einziger weißer Reisebegleiter ist ein übergewichtiger Mann, der für das Klima und die Lebensumstände völlig ungeeignet ist und sich tragen lässt. Er ist nur hier, „um reich zu werden“. Nach zwei Wochen unter sengender Hitze ist die Zentralstation der Gesellschaft erreicht.
Das Schiff ist gesunken
Kaum angekommen, wird Marlow mitgeteilt, dass sein Schiff zwei Tage zuvor im Fluss leckgeschlagen ist. Ein ungeschickter Steuermann hat an ein paar Steinen den Rumpf aufgeschlitzt. Marlow lässt das Schiff herausziehen und versucht es instand zu setzen. Das dauert drei Monate, weil kein Material nachkommt. Es fehlen vor allem Nieten. Diese gibt es an der Küste zwar haufenweise, aber es gelingt lange Zeit nicht, sie zur Zentralstation zu bringen. Nach Marlows Eindruck verfügt der General Manager der Station kaum über Fähigkeiten, die seine Bezeichnung rechtfertigen. Er vermag lediglich den gewohnten Gang der Dinge aufrechtzuerhalten. Nichts wird verbessert, alles verwahrlost. Die Macht des Mannes beruht lediglich auf seiner unverwüstlichen Gesundheit, was ihn auf seinem Posten unentbehrlich macht, und auf seiner Fähigkeit, seine nichtigen Anordnungen mit Nachdruck vorzubringen. Das Malheur mit dem Schiff erklärt er damit, dass den flussaufwärts gelegenen Stationen habe geholfen werden müssen. Sie seien in Gefahr, denn Mr. Kurtz sei sehr krank.
In der Zentralstation
Während der drei Reparaturmonate lernt Marlow neben unbedeutenden Handelsagenten, den „Pilgern“, die nur herumlungern und auf eine Gelegenheit warten, irgendwie am Elfenbeinhandel beteiligt zu werden, einen jungen Aristokraten kennen. Er soll eigentlich Ziegelsteine herstellen, aber dazu fehlt ein bestimmtes Material. Dieser junge Gentleman vermag die übrigen Pilger durch seine Art auf Distanz zu halten und erweist sich Marlow gegenüber als durchaus anhänglich. Dieser erfährt von ihm mehr über Kurtz.
„Schätze aus den Eingeweiden des Landes zu reißen war ihr Wunsch, ohne einen anderen moralischen Anspruch als den eines Einbrechers, der einen Tresor knackt.“ (S. 50)
In der Behausung des jungen aristokratischen Ziegelmachers – er verfügt immerhin über eine Kerze, die in einer Champagnerflasche steckt – entdeckt Marlow ein kleines Frauenbildnis in Öl. Es stammt von Kurtz’ Hand, und der junge Mann beginnt, von Kurtz zu schwärmen. Dieser sei eine Art Heilsbringer, ein Mann mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, dem eine große Karriere bevorstehe. Marlow gewinnt den Eindruck, Kurtz sei ein künstlerisch begabter und auch sehr eloquenter Mann, jedenfalls ein Mensch mit moralischen Vorstellungen.
„Den Fluss hinaufzufahren war, als reiste man zurück zu den frühesten Anfängen der Welt, in eine Zeit, da die Pflanzen die Erde überwucherten und die großen Bäume Könige waren.“ (S. 57)
Mit jeder wöchentlichen Karawane erscheinen weitere Gruppen weißer kolonialer Freibeuter. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt verschwinden sie im Landesinnern. An Deck seines inzwischen gehobenen Dampfers liegend, belauscht Marlow unabsichtlich ein Gespräch zwischen dem General Manager und dessen Onkel, der der Anführer der Freibeuter ist. Daraus wird klar, dass sich die beiden von Kurtz bedroht fühlen. Sie vermuten, Kurtz verfüge über exzellente Verbindungen ins Heimatland, auch sprechen sie von einer zivilisatorischen Vision, die Kurtz habe. Allerdings halten die beiden das für albern und dem Gang ihrer Geschäfte abträglich. An Kurtz’ angebliche Krankheit knüpfen sie die Hoffnung, das Problem möge sich auf natürliche Weise erledigen.
Flussaufwärts
Nachdem Marlow das Schaufelraddampfboot wieder flottgemacht hat, beginnt der letzte Abschnitt der Reise zu Kurtz’ Station. Der General Manager und einige Pilger fahren mit. Das Navigieren auf dem trägen Strom ist gefährlich, die Technik des Schiffs sehr störanfällig. Die zum Heizen des Dampfkessels eingesetzten Eingeborenen werkeln am äußersten Rande der Zuverlässigkeit. Der Urwald an den Flussufern ist stumm und bedrohlich, nichts regt sich. Nachts erklingen Trommelgeräusche. Eines Tages entdeckt Marlow am Ufer eine verlassene Binsenhütte. Davor liegt ein Stapel Feuerholz für das Schiff und eine Nachricht mit der Bitte, sich zu beeilen und sich vorsichtig zu nähern. In der Hütte findet Marlow ein Fachbuch über Seefahrt, das völlig zerlesen und über und über mit anscheinend chiffrierten Anmerkungen versehen ist. Er steckt es ein. Kurz vor der inneren Station gerät das Schiff in einen engen Kanal. Der General Manager besteht darauf, in der Flussmitte zu ankern. Es wird Nacht. Am nächsten Morgen herrscht undurchdringlicher Dunst über dem Fluss. Nach langen Momenten der Anspannung prasselt plötzlich ein Pfeilhagel auf das Schiffsdeck. Die Weißen an Bord schießen blindlings ins Dickicht. Der schwarze Steuermann wird tödlich getroffen. Marlow wirft die Leiche kurzerhand über Bord und bringt das Schiff in Gang und auf Kurs, trotz der extrem gefährlichen Strecke. Wegen des Dunstes sind Untiefen nur schwer zu erkennen, Treibgut wie Baumstämme oder Felsen unter der Wasseroberfläche könnten den Schiffsrumpf leckschlagen. Der Pfeilhagel dauert immer noch an; erst als Marlow die Schiffspfeife gellen lässt, endet der Überfall abrupt.
Die innere Station
Am Ziel wird die Reisegesellschaft von einem jungen Mann in einem mit Flicken besäten Anzug überschwänglich empfangen. Er ist ein Russe mit nautischen Kenntnissen, den es in diese Wildnis verschlagen hat. Marlow gibt ihm sein Buch mit den – wie sich nun herausstellt – Anmerkungen in kyrillischer Schrift. Der arglose Abenteurer ist voller Hingabe gegenüber Kurtz, aber das Verhältnis der beiden ist ambivalent. Kurtz hat ihn weggejagt, aber der Russe kam zurück und pflegte ihn während seiner Krankheit. Dabei muss Kurtz lange Monologe gehalten haben, die den jungen Russen sehr beeindruckten. Marlow mutmaßt, dass Kurtz einen Eingeborenenstamm dazu gebracht hat, ihm zu folgen. Das Erste, was Marlow durchs Fernglas vor Kurtz’ Behausung sieht, sind auf Pfählen aufgespießte Menschenköpfe. Mit seiner Erscheinung – Kurtz erweist sich später als Zwei-Meter-Mann –, mit rohester Gewalt und blankem Terror hat er es offenbar fertiggebracht, dass die Eingeborenen ihn wie einen Gott verehren. Wenig später wird der kranke Mann auf Marlows Schiff gebracht. Er ist ein Schatten seiner selbst, verfügt aber immer noch über eine Ehrfurcht gebietende, sonore Stimme.
Das Grauen
Zwischen Marlow und Kurtz entsteht schnell stillschweigendes Einvernehmen. Kurtz vertraut ihm seine Papiere an, die Marlow später nicht herausgibt, auch nicht an den General Manager, der ihn deswegen heftig bedrängt. Der Russe ahnt, was bevorsteht und verabschiedet sich mit der Warnung, Kurtz habe den Angriff auf das Schiff befohlen. In der Nacht dröhnen die Trommeln, und Lichter glimmen in der Schwärze des Urwalds. Marlow ist auf das Äußerste gefasst: ein Massaker. Da ist Kurtz plötzlich verschwunden. Marlow sucht ihn und entdeckt ihn an Land, nicht weit von den Feuern der Wilden entfernt. Es wird klar, dass die Schwarzen Kurtz nicht mehr gehorchen. Marlow schafft den todkranken Mann zurück aufs Schiff. Als dieses am nächsten Tag ablegt, strömen die Schwarzen wieder ans Ufer. Unter ihnen ist eine mit Schmuck und Talismanen aufgeputzte, stolze schwarze Frau, eine Majestät. Beschwörend streckt sie die Hände zum Himmel. Wieder lässt Marlow die Schiffspfeife gellen, die Eingeborenen stieben auseinander. Nur die Frau bleibt unerschütterlich und aufrecht am Flussufer stehen. Was den Schwarzen wie ein fauchender Dämon mit platschendem Schwanz erscheinen muss, verschwindet flussabwärts.
„Der prähistorische Mensch verfluchte uns, betete uns an, hieß uns willkommen – wer wusste das schon?“ (S. 60)
Auf der Rückfahrt faselt Kurtz in seiner Agonie von seinen Plänen, von Reichtum und Ruhm. Er wollte offenbar etwas vollbringen, irgendetwas, was ihn seiner Verlobten aus der belgischen Oberschicht ebenbürtig machen würde. Wenig später stirbt er. Marlow besucht die Dame etwa ein Jahr nach seiner Rückkehr nach Europa, um ihr die privaten Papiere von Kurtz zu übergeben. Sie trägt immer noch Trauer, und sie hat dieselbe illusionäre Sicht auf die Zustände in Afrika wie Marlows Tante. Sie betont die moralische Größe ihres Verlobten und bedauert zutiefst, in seiner Todesstunde nicht bei ihm gewesen zu sein. Marlow bestärkt sie in dem romantischen Bild, das sie von ihrem Verlobten und seinem Tod hat, indem er erklärt, Kurtz sei mit ihrem Namen auf den Lippen gestorben. Er bringt es nicht übers Herz, Kurtz’ letzte Worte auf dem Schiff wiederzugeben. Sie lauteten: „Das Grauen! Das Grauen!“
Zum Text
Aufbau und Stil
In den einleitenden Passagen von Herz der Finsternis beschreibt ein anonymer Erzähler eine gesellige kleine Runde an Bord einer Hochseejacht, die auf der Themse ankert. Eine klassische Rahmenhandlung. Eine dieser Personen ist Charlie Marlow, der eigentliche Erzähler des Romans. Aus einem Gespräch zwischen den an Bord Anwesenden entwickelt sich Marlows Bericht von seinen Erlebnissen in Afrika, die den bei Weitem größten Teil des Buches ausmachen. Nur hin und wieder wendet sich Marlow mit einigen Wendungen („wie ihr wisst“) direkt an seine Zuhörer und erinnert damit den Leser an das Berichthafte der atmosphärisch äußerst dichten Erzählung. Joseph Conrad verzichtet bewusst weitgehend auf romanübliche Passagen, die den Gang einer Handlung nachvollziehbar machen würden, z. B. Angaben zu Ort und Zeit. Worauf es ihm ankommt, sind geradezu fühlbare Bilder der Zustände und Stimmungen an den Orten, die Marlow in Afrika berührt. Diese werden in poetischer Verdichtung heraufbeschworen und als Orte des Schreckens vor Augen geführt. Im Prinzip folgt Conrad dem uralten mythischen Erzähltypus der Abenteuerreise, bei der ein Held in unbekannte Gegenden aufbricht und angesichts der dort lauernden lebensbedrohlichen Gefahren eine innere Wandlung erfährt.
Interpretationsansätze
- Herz der Finsternis kann und soll als Kolonialismuskritik verstanden werden: Die Zustände im durch die Kolonialherren ausgebeuteten Afrika sind so grauenvoll und hoffnungslos, dass sie die Vorstellung einer realen Hölle hervorrufen.
- Auf einer tieferen Ebene kann der Roman aber auch als eine Reflexion über den menschlichen Existenzkampf angesehen werden. Er zeigt, wie sich der Mensch und die Menschlichkeit in extremen Situationen bewähren – oder eben nicht.
- Der skeptische und dem Humanitären verpflichtete Marlow trifft auf seiner Reise im Grunde nur zwei Arten von Europäern: brutale Habgierige (die Angehörigen der Handelsgesellschaft) oder Verrückte (der junge Aristokrat und der Russe). Seine Erwartung, mit Kurtz jemandem zu begegnen, der sich trotz der Umstände positiv behaupten kann, wird enttäuscht: Kurtz erscheint im Gegenteil als Inkarnation des Bösen.
- Der undurchdringliche, bedrohliche Urwald und die unmenschliche Hitze werden zum Inbegriff urweltlicher, feindseliger afrikanischer Natur. Die afrikanischen Menschen werden als Teil davon wahrgenommen. Deswegen wurde der Roman als rassistisch kritisiert, obwohl er den Rassismus der kolonialen Ausbeuter deutlich anprangert.
- Vieles im Roman ist diffus und ambivalent. So bleibt z. B. offen, ob die weißen Menschen ihre Schlechtigkeit schon mitgebracht haben oder ob sie erst durch die afrikanische Finsternis pervertiert werden. Der Arzt, der Marlow untersucht, spricht von „geistigen Veränderungen an Ort und Stelle“.
Historischer Hintergrund
Der europäische Kolonialismus
Das Innere Afrikas wurde von den Europäern in der Epoche des Kolonialismus erst relativ spät erforscht. Die riesenhafte Größe des Kontinents, seine Unwegsamkeit, vor allem in den Tropen, und das mörderische Klima standen dem lange entgegen. Nur die arktischen Gebiete waren noch lebensfeindlicher; ihre kurzfristige Erkundung in spektakulären Einzelaktionen erfolgte noch später. Eine herausragende Rolle in Afrika und vor allem im Kongo spielte der Journalist und Afrikaforscher Henry M. Stanley. Er erkundete das rohstoffreiche Kongobecken und bot es zunächst den Engländern, dann den Belgiern an. So trat Belgien relativ spät (ab ca. 1880) in den Kreis der europäischen Kolonialmächte. Dem belgischen König Leopold II. gelang es, diesen afrikanischen Besitz (der über 75-mal größer war als Belgien) unter seine direkte Kontrolle zu bringen, allein zu dem Zweck, sich persönlich zu bereichern. Der Kongo wurde fortan von den Belgiern mit härtesten Sklavenhaltermethoden brutal ausgepresst. Gleichzeitig bediente man sich im Heimatland einer heuchlerischen Zivilisations- und Missionspropaganda. Sie wird in Conrads Roman in den Äußerungen von Marlows Tante und Kurtz’ Verlobter reflektiert. Als Nachrichten von den Gräueltaten im Kongo Europa erreichten, begann die Stimmung dort umzuschlagen. Edmund Dene Morel trug erheblich zu dieser Aufklärung bei, indem er eine der ersten Menschenrechtskampagnen der Geschichte startete. Joseph Conrad stand mit ihm in Briefkontakt.
Entstehung
Wie so manches Werk der Weltliteratur ist auch dieses direkt mit persönlichen Erlebnissen des Autors verknüpft. Trotzdem wirkt es eher impressionistisch und (alb-)traumhaft als wie die realistische Wiedergabe eines tatsächlichen Geschehens. Der weltliterarische Rang Joseph Conrads und vor allem dieses kleinen Meisterwerks beruht nicht zuletzt darauf, dass er seine persönlichen Eindrücke im Kongo im höchsten Maße sublimiert und in eine literarische Form gegossen hat. Conrad war eigentlich ein langsam arbeitender, sorgfältig formulierender Schriftsteller. Dieses Werk entstand jedoch in einer Art Schaffensrausch innerhalb von acht bis zehn Wochen im Dezember und Januar 1898/99. Der aus Polen stammende Conrad war als junger Mann fast 20 Jahre lang zur See gefahren, zuletzt als Kapitän in Diensten Englands. Erst danach wurde er Schriftsteller. 1890/91 unternahm er im Auftrag einer belgischen Firma eine Fahrt in den Kongo, die im äußeren Ablauf der Reise Marlows ähnelt. Sie wurde für Conrad zu einem traumatischen Erlebnis. Eine schwere Malaria- und Ruhrinfektion brachte ihn an den Rand des Todes und ruinierte seine Gesundheit bis ans Ende seines Lebens. Zudem wurde er Opfer von Intrigen, die seine berufliche Qualifikation infrage stellten. Schließlich entdeckte er die wahre Natur des europäischen Kolonialismus und ein Afrika jenseits aller romantischen Klischees. Seine Kolonialismuskritik floss bereits in frühere Werke ein, verdichtet sich aber in Herz der Finsternis zu einer Apokalypse menschlicher Existenz.
Wirkungsgeschichte
Herz der Finsternis zählt heute gemeinsam mit Lord Jim zu den bekanntesten Texten von Joseph Conrad. Die Romane gelten als Meisterwerke der englischen Literatur, und dies obwohl Conrad erst als Erwachsener Englisch lernte. Beim Publikum konnte er zunächst nicht den gewünschten Erfolg erzielen; das gelang ihm erst mit seinen zwischen 1913 und 1917 erschienenen Spätwerken Spiel des Schicksals, Sieg und Die Schattenlinie, die ihm neben dem Ruhm ein ausreichendes Auskommen sicherten, auch wenn sie heute als weniger bedeutend gelten. Viele Schriftstellerkollegen schätzten ihn sehr, auch in der nachfolgenden Generation. Zu ihnen zählen Virginia Woolf, T. S. Eliot, George Orwell, in Frankreich André Gide, Paul Valéry, Albert Camus und in Deutschland Thomas Mann. Conrad inspirierte diese Autoren zum einen, weil er konventionelle Erzählformen überwand und sich rigoros auf die Schilderung von Bewusstseinszuständen konzentrierte, eine sehr moderne Erzählweise. Zum anderen, weil es in Conrads Meisterwerken um Grundfragen der menschlichen Existenz geht: wie sich Menschen in Grenzsituationen verhalten, wie sie sich schuldig machen oder moralisch bewähren. Wesentliche Werke der anspruchsvollen Literatur vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften an dieses Vorbild an. Ähnlich illusionslose Schilderungen Afrikas (allerdings aus der postkolonialen Zeit) finden sich etwa auch in Werken des englischsprachigen Nobelpreisträgers V. S. Naipaul (An der Biegung des großen Flusses).
Eine starke Aktualisierung und besondere Wirkung in einem anderen Medium erzielte Herz der Finsternis durch den Film Apocalypse Now (1979) von Francis Ford Coppola. Der Film, dem das Buch als Vorlage diente, spielt im vom Vietnamkrieg zerrütteten Kambodscha, wo ein abtrünniger amerikanischer Elitesoldat namens Kurtz (gespielt von Marlon Brando) mitten im Dschungel eine Schreckensherrschaft errichtet hat.
Über den Autor
Joseph Conrad wird als Józef Teodor Konrad Korzeniowski am 3. Dezember 1857 im polnischen Berdyczew geboren. Zu dieser Zeit ist Polen kein eigenständiger Staat, sondern aufgeteilt unter Russland, Österreich und Preußen. Josephs Vater, der dem Adel angehört, engagiert sich im Kampf gegen die russische Herrschaft; deshalb wird die Familie nach Russland verbannt. Die Mutter stirbt an den gesundheitlichen Folgen der Verbannung. Als auch der Vater 1869 stirbt, kommt Joseph in die Obhut seines Onkels. Dieser ist entsetzt, als der Junge den Wunsch äußert, zur See fahren zu wollen. Er unternimmt alles, um ihn davon abzubringen, muss aber schließlich doch nachgeben. 1874 beginnt Joseph seinen Dienst in der französischen Handelsmarine. Bald lässt er sich in Schmuggelgeschäfte verwickeln und verliert so sein ganzes Geld. Hoch verschuldet unternimmt er einen Selbstmordversuch. Danach entschließt er sich, in die englische Handelsmarine einzutreten und die Offizierslaufbahn einzuschlagen. 1886 erhält er sein Kapitänspatent und die britische Staatsbürgerschaft. 1889 beginnt er seinen ersten Roman, Almayer´s Folly (Almayers Wahn) – bemerkenswerterweise in Englisch, seiner dritten Sprache. Eine Fahrt in den Kongo 1890 wird zu einem traumatischen Erlebnis: Der grausame Umgang der Weißen mit den Einheimischen schockiert Conrad. Außerdem wird seine Gesundheit so schwer angegriffen, dass er vorzeitig nach England zurückkehren muss. Als er, auch wegen anhaltender gesundheitlicher und psychischer Probleme, keine Arbeit mehr findet, beendet er 1894 seinen ersten Roman und veröffentlicht ihn unter dem Namen Joseph Conrad, den er von da an beibehält. Das Werk wird von der Kritik positiv aufgenommen, und Conrad beschließt, sich in Kent niederzulassen und als Schriftsteller zu leben. Viele seiner Texte greifen seine Erlebnisse als Seemann auf. Ein wichtiges Werk ist die Erzählung Heart of Darkness (Herz der Finsternis, 1899), in der er seine Erlebnisse im Kongo verarbeitet. Conrad stirbt am 3. August 1924 an Herzversagen.
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