Joseph Roth
Hiob
Kröner, 2018
Was ist drin?
Hiobsbotschaften in literarischer Vollendung.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Wunder gibt es, aber Gott lässt sich ganz schön bitten
Mit märchentypischer Einleitung beginnt die Geschichte von Mendel Singer, der in einem Schtetl an der russisch-polnischen Grenze sein bescheidenes, vollkommen ambitionsloses Leben lebt. Bis Mendel aber zufrieden ausruhen darf, macht er ganz schön was mit. Mit seinem behinderten Sohn Menuchim wäre er eigentlich schon genug geschlagen. Doch Gott schickt weiterhin einen Schicksalsschlag nach dem anderen. Auch in Amerika, dem neuen gelobten Land, ist Mendel vor Hiobsbotschaften nicht sicher. Joseph Roth erzählt die Geschichte dieses modernen Hiob in einer mächtigen, archaisch wirkenden Sprache, biblisch und zugleich klangvoll lyrisch. Der virtuose Erzähler Roth braucht nicht viele Worte für ein ganzes Leben: Die Story des geplagten, aus seinem Schtetl verpflanzten Mendel, der in Kaftan und Husarenstiefeln durch die Lower East Side von New York schlappt, ist kompakt erzählt und entfaltet eine große Sogwirkung. Wissend, dass Roth hier eigenes Leid verarbeitet, gönnt man ihm und seinem Mendel das unglaubwürdig übertriebene Happy End von ganzem Herzen: Der Krüppel Menuchim ist ein wunderschöner Mann und begnadeter Musiker geworden, charismatisch und weise wie der Messias selbst. Wunder gibt es doch, zumindest im Roman.
Take-aways
- Mit Hiob gelang Joseph Roth 1930 der Durchbruch als Schriftsteller.
- Inhalt: Der gottesfürchtige Jude Mendel Singer lebt in einem russischen Schtetl. Sein Sohn Menuchim kommt behindert zur Welt, was die Frage nach Sünde, Schuld und der Strafe Gottes aufwirft. Als die Familie in die USA emigriert, lassen sie Menuchim zurück. Schicksalsschläge lassen Mendel an Gott verzweifeln. Am Ende gibt es doch noch ein Wunder: Menuchim ist geheilt, erfolgreicher Musiker, charismatisch und schön wie der Messias selbst.
- Der Roman ist eine moderne Nacherzählung der biblischen Geschichte von Hiob.
- Der galizische Jude Joseph Roth setzte dem Schtetl ein literarisches Denkmal – kurz bevor diese jüdische Kultur im Holocaust vernichtet wurde.
- Anfang des 20. Jahrhunderts emigrierten viele osteuropäische Juden. Migration, Heimat und Identität waren für den Korrespondenten Roth wichtige Themen.
- Roth verarbeitete im Roman eigenes Leid angesichts der schweren psychischen Erkrankung seiner Frau.
- Auch deshalb verfiel Roth immer mehr dem Alkohol und starb 1939 mit nur 44 Jahren.
- Heinrich Böll nannte Hiob eines der schönsten Bücher der Zwischenkriegszeit, Marlene Dietrich bezeichnete es als ihr Lieblingsbuch.
- Das Buch hatte großen Erfolg beim Publikum, wurde aber aus jüdischen Kreisen als wenig authentisch kritisiert.
- Zitat: „Er selbst, Mendel Singer, wird nach späten Jahren in den guten Tod eingehen, umringt von vielen Enkeln und ,satt am Lebenʻ, wie es im ,Hiobʻ geschrieben stand.“
Zusammenfassung
Ein gewöhnlicher frommer Jude und sein kranker Sohn
An der russisch-polnischen Grenze, in einem Schtetl namens Zuchnow, lebt Mendel Singer in ärmlichen Verhältnissen. Er ist ein durchschnittlicher, aber überzeugter Talmud-Lehrer. Das Leben ist ihm eine Plage. Mit seiner Frau Deborah hat er drei Kinder: die Söhne Jonas und Schemarjah und die Tochter Mirjam. Man lebt und schläft, unterrichtet und arbeitet in einem einzigen Raum, dessen Bodendielen Deborah so rigoros scheuert, dass sie sonnengleich leuchten. Den Sabbat begeht man in melancholischer Festtagsstimmung. Deborah bringt ein viertes Kind zur Welt: Menuchim. Das Baby liegt statt in einer Wiege in einem geflochtenen Korb, der von der Decke hängt, von Mendel ab und an geschaukelt, um das Kind zu beruhigen. Hilft das nichts, beginnt Deborah, ihn an ihren gewaltigen Brüsten zu säugen. Menuchim lässt sich auch nach einem Jahr nicht abstillen. Generell scheint mit ihm etwas nicht zu stimmen: ein schwerer Kopf auf einem dünnen Hals, befremdliche Laute und Grimassen, schneller Atem, Zuckungen. Die Prognose eines Arztes lautet: Das wird ein Epileptiker. Als Deborah Menuchim dem Arzt zur Behandlung ins Krankenhaus mitgeben will, hält Mendel sie auf. Das Kind soll die jüdische Gemeinschaft und damit auch Gottes Nähe nicht verlassen. Überhaupt könne es ohne Gottes Willen sowieso nicht geheilt werden. Die Familie betet und fastet, um Menuchims Schicksal ohne Verlust seines Seelenheils abzuwenden.
Die Wahrsagung des Rabbi
Trotz Fasten, Beten und Flehen hören Menuchims Anfälle nicht auf. Angst, Trauer und Frustration breiten sich im Haushalt aus. Deborah vernachlässigt sich, den Haushalt und die anderen Kinder, deren unverwüstliche Gesundheit den kranken Bruder zu verhöhnen scheint. Eines Tages fährt sie mit Menuchim in die Stadt zum Rabbi. Während Mendel keinen Geistlichen braucht, um in Kontakt mit Gott zu stehen, setzt Deborah große Hoffnungen in den Besuch. Viele hilfsbedürftige Menschen warten auf Rat des Weisen. Deborah drängt sich gewaltsam zum Rabbi durch. Menuchim trägt sie dabei, zum Bündel geschnürt an einem Strick um ihren Hals. Sie bietet ihn dem Rabbi dar wie eine Opfergabe. Dieser sagt voraus, dass Menuchim gesund und stark werden wird, mehr noch: ein außergewöhnlicher, einzigartiger Mensch, weise und gütig. Sie müsse viele Jahre Geduld haben, sagt der Rabbi, und solle ihren Sohn nicht verlassen. Zu Hause übergibt Deborah Menuchim der Obhut seiner älteren Geschwister. Sie lassen ihn in der Gosse liegen, Kot und Dreck essen und versuchen eines Tages sogar, ihn in einem Regenfass zu ertränken. Doch Menuchim überlebt den Anschlag, und die Geschwister lassen von ihm ab, als habe Gott sie gemahnt. Menuchim wächst heran zu einem „mächtigen Krüppel“. Als er sein erstes Wort spricht, ist Deborah zu Tränen gerührt: „Mama“. Sie nimmt es als Zeichen, dass Menuchim gesund werden wird. Doch es vergehen zehn Jahre, ohne dass Menuchim ein weiteres Wort sagt.
Zwischen Weltlichkeit und Religion
Deborah altert zusehends und die Lust zwischen ihr und Mendel flaut ab. Mirjam wächst zu einer sinnlichen und zugleich gedankenlosen Frau heran, aus ihrem jungen Gesicht blicken zwei alte Augen. Sie lässt sich mit den Offizieren der örtlichen Garnison ein. Es droht Krieg, und die beiden Brüder sollen eingezogen werden. Dagegen steht allerdings das Gesetz der Juden, nach dem sie sich vor dem Dienst retten müssen. Deborah betet nun nicht mehr um Gesundheit für Menuchim, sondern um Krankheit für ihre beiden anderen Söhne. Ein Sommer bleibt den Brüdern noch, doch im Herbst müssen sie einrücken. Während Schemarjah Kaufmann werden will, möchte Jonas Bauer sein, trinken und Mädchen haben. Mendel ist überzeugt, dass nichts gegen den Willen des Himmels geschieht, wogegen Deborah ihm zankhaft vorwirft, dass er nur die negativen und unnützen Bibelstellen kenne und durch die Dummheit seiner Schüler selbst an Intellekt verliere. Weil Mendel nichts gegen das drohende Schicksal unternimmt, wird Deborah selbst aktiv, um ihre Söhne zu retten. Sie fährt wieder in die Stadt, diesmal nicht zum Rabbi, sondern zu einem weltlichen Helfer namens Kapturak. Sie hat heimlich Geld unter den Bodendielen gehortet, kann sich die Flucht aber nur für einen Sohn leisten.
Der Klang des Löffels am Teeglas
Auch für Mendel hat Menuchim einen zentralen Stellenwert. Er liebt die Stunden allein mit seinem Sohn und vertieft sich in dessen Antlitz. Wenn er mit dem Löffel gegen das Teeglas schlägt, horcht Menuchim auf und erwacht aus seinem Dämmerzustand. Auf Worte reagiert er nicht, aber immer wieder auf den Klang des Glases. Mendel fragt sich, welche Sünde er begangen hat und wofür Gott ihn so straft. Jonas entschließt sich, doch Soldat zu werden und in den Krieg zu ziehen, so ermöglicht er Schemarjah die Flucht außer Landes. Jonas heuert einstweilen beim Kutscher als Pferdeknecht an, lebt fortan das erträumte Bauernleben und betrinkt sich dermaßen, dass er den eigenen Vater nicht mehr erkennt. Im August holt ein Mittelsmann Schemarjah ab. Er geht ohne Aufhebens, prägt sich die Heimat aber gut ein, bevor er fährt. Es vergehen Jahre, bis Mendel und Deborah Nachricht von ihm erhalten.
„Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude.“ (S. 9)
Eines Tages betritt ein Fremder ihr Haus. Der Amerikaner Mac bringt einen Brief von Schemarjah. Der nennt sich jetzt Sam, hat es glücklich nach Amerika geschafft, macht erfolgreich in Versicherungen – und will seine Eltern zu sich holen. Das stürzt die Singers in ein Dilemma: Was ist mit Menuchim? Muss er zurückbleiben? Was ist mit der Aufforderung des Rabbi, den kranken Sohn nicht allein zu lassen? Deborah schwankt zwischen Verzweiflung und Entrüstung. Mendel stürzt in eine tiefe Krise. Im nächtlichen Wald nach dem Abendgebet fühlt er sich unendlich einsam, unruhig, bedroht. Da entdeckt er Mirjam im Feld mit einem Kosaken – das ist das größtmögliche Unheil. Mendel kehrt zurück ins Bethaus und betet die ganze Nacht. Er kehrt mit einem Entschluss nach Hause zurück: Das eine Unglück sticht das andere aus. Man geht nach Amerika. Menuchim bleibt bei der Familie Billes, die den Singers bekannt ist. Als Gegenleistung dürfen sie im zurückgelassenen Haus der Singers wohnen.
Wunder sind Glückssache
Mirjam freut sich auf den Glanz von Amerika und auf die Freiheit der Liebe, während sie die letzten Stunden mit verschiedenen Kosaken auskostet. Sie will sich vom vorgezeichneten Schicksal lösen und ihr Leben in Freiheit gestalten. Sie schlägt Deborah vor, zu zweit nach Amerika zu gehen und Mendel mit Menuchim zurückzulassen – und spricht Deborah damit aus dem Herzen. Über Umwege kommt Mendel zu Kapturak, der bereits Schemarjahs Flucht organisiert hat und sich des Falles annimmt. Deborah hofft indessen auf ein Wunder in letzter Minute, kommt aber zu der Einsicht, dass es für Wunder auch Glück bedarf. Menuchim ist unruhig, als ahnte er etwas. Obwohl weder Papiere noch Schiffspassagen organisiert sind, löst sich das Leben schon auf und die Schüler bleiben weg. Es bleibt den Singers bereits jetzt nichts anderes übrig, als nach Amerika zu gehen.
„Gesund machen kann ihn kein Doktor, wenn Gott nicht will. Soll er unter russischen Kindern aufwachsen? Kein heiliges Wort hören? Milch und Fleisch essen und Hühner auf Butter gebraten, wie man sie im Spital bekommt? Wir sind arm, aber Menuchims Seele verkauf ich nicht, nur weil seine Heilung umsonst sein kann. Man wird nicht geheilt in fremden Spitälern.“ (Mendel über Menuchim, S. 15)
Kein Wunder geschieht, niemand hilft Menuchim, weder der Rabbi noch die Ahnen noch Gott. Deborah missachtet die Worte des Rabbi und bricht zusammen, als sie Menuchim zurücklässt. Kapturak bringt die Auswanderer zur Grenze, sie reisen quer durch Europa und gehen in Bremen an Bord des Dampfers Neptun, Richtung New York. Neun Familien, zwei Dutzend Menschen wandern mit ihnen aus. Anweisungen erhalten die Anwesenden auf Russisch, Polnisch, Jiddisch und Deutsch. Mendel Singer überwindet seine Angst vor der Überfahrt. Er spricht Segensworte übers Meer, und bei blauem Himmel ertönen die Sirenen zur Abfahrt.
„Und dieses eine Wort der Mißgeburt war erhaben wie eine Offenbarung, mächtig wie ein Donner, warm wie die Liebe, gnädig wie der Himmel, weit wie die Erde, fruchtbar wie ein Acker, süß wie eine süße Frucht.“ (S. 28) “
Zwei Wochen später kommt die Freiheitsstatue in Sicht. Die amerikanischen Grenzbeamten sind uniformiert wie Kosaken. Schemarjah hat nicht nur seinen Namen abgelegt: Der Sohn namens Sam ist ein Fremder geworden. Vier Tage müssen die Singers in Quarantäne. Dann nehmen Sam und Mac sie mit auf eine Rundfahrt durch die Stadt der Wolkenkratzer bei einer Gluthitze, die Mendel direkt der Hölle zu entspringen scheint. Ein Teil dieses „wehenden Lärms“ sind Sams Ausführungen, auf die Mendel mit einem freundlichen und zugleich befremdlichen Lächeln reagiert, das er nicht mehr loswird. Unter all diesen neuen Eindrücken verliert er die Besinnung. Danach ist er sich seiner selbst nicht mehr sicher. Er fühlt sich, als hätte er sich selbst in Zuchnow bei Menuchim zurückgelassen, und sein einsames Herz schlägt „wie ein metallener Schlegel gegen kaltes Glas“.
Neue Heimat in New York
Nach einigen Monaten fühlt sich Mendel in New York zu Hause. Amerika ist das Land Gottes, wie einst Palästina, und New York das neue Jerusalem. Mendel kennt zwar die Lunch- und Dinner-Zeiten, hält sich aber weiterhin an die osteuropäischen Rhythmen. Deborah genießt die kulturellen Angebote der Stadt, Mirjam ist in Sams Geschäft als Verkäuferin tätig. Sie verbringt ihre Freizeit mit Mac, der zwar kein Jude, aber immerhin auch kein Kosake ist. Der Haushalt bleibt auch in New York ärmlich. Amerika ist auch keine wirklich neue Welt: Mit den vielen Juden ist die Bowery eigentlich ein größeres Schtetl, zwar mit Kino, aber mit weit weniger Licht und Sonne und ebenso schlechter Ernährung.
„Zum erstenmal galt es, das kranke Kind zu umarmen, und es war Schemarjah, als hätte er nicht einen Bruder zu küssen, sondern ein Symbol, das keine Antwort gibt.“ (S. 54)
Deborah hört im Traum Menuchim rufen, und auch Mendel denkt über einen Besuch bei Menuchim nach. Er wandelt in seinem Kaftan und den hohen Stiefeln im geschäftigen New York herum, verbringt seine Tage mit Zeitunglesen, Schlafen, Musikhören und Beten. Eines Tages hört er auf der Straße ein Wimmern und glaubt, es wäre Menuchim. Zu Hause erzählt ihm Sam von einem geschäftlichen Glücksfall, der die Familie schlagartig reich macht. Bald darauf trifft ein Brief von Familie Billes ein, in dem auch von Menuchim die Rede ist, der zu reden gelernt hat und in Sankt Petersburg zur Behandlung ist. Auf der Rückseite des Briefs schreibt auch Jonas: Es geht ihm gut, das Soldatentum gefällt ihm, wenngleich es auch die Möglichkeit eines plötzlichen Todes im Krieg birgt.
Gott straft Mendel mit mannigfachem Unglück
Mit fast 60 Jahren ist Mendel zum ersten Mal glücklich und sorgenfrei. Er singt und jubelt innerlich. Trotz Sams Reichtum wohnt Mendel weiterhin in der armen East Side und bleibt ein gottesfürchtiger alltäglicher Jude. Er findet seine Nische im American Way of Life und träumt davon, Menuchim zu sich zu holen. Bevor Mac helfen kann, diesen Plan umzusetzen, bricht Krieg aus. Das heißt, dass Jonas in den Krieg zieht und Menuchim in Russland bleibt. Mendels Traum zerplatzt, er fällt in tiefe Ängste. Damit nicht genug: Sam geht freiwillig zur amerikanischen Armee. Bald gilt Jonas als verschollen, und Mac kehrt mit Sams Uhr und letzten Grüßen zurück. Deborah kippt bei dieser Nachricht tot vom Stuhl. Mendel sitzt sieben Tage in Trauer und beneidet Deborah, dass sie tot ist, während er weiterleben muss. Kurz darauf wird Mirjam in die Psychiatrie eingewiesen, sie hat kaum Aussicht auf Heilung.
„Es war, als (…) wäre Amerika über sie gekommen, über sie hergefallen, mit Schemarjah, Mac und Kapturak. Nun, da sie es bemerkten, war es zu spät. Sie konnten sich nicht mehr vor Amerika retten.“ (S. 102)
Dieser letzte Schicksalsschlag scheint Mendel verwandelt zu haben, er strahlt Größe und einen kalten Glanz aus. Mendel legt Sams Witwe Vega nahe, sie solle Mac heiraten und mit ihrem Kind nicht allein bleiben. Während Mendel diese Beziehung einfädelt, löst er zugleich alle anderen – gerade auch die zu Gott. Sein Geduldsfaden angesichts der Prüfungen und Strafen, die Gott ihm auferlegt, ist gerissen. Er tobt, er vernichtet seine rituellen Gegenstände, sogar Gott selbst will er verbrennen. Seine jüdischen Freunde bekommen es bei so viel Blasphemie mit der Angst zu tun und erinnern Mendel an die Geschichte von Hiob. Anhand biblischer Beispiele versuchen sie, ihn wieder auf den rechten Pfad zu lenken. Doch es ist zwecklos: Mendel schwört Gott ab und hat auch keine Angst vor der Hölle, denn so grausam wie Gott könne nicht einmal der Teufel sein, meint er.
Menuchims Lied
Mendel beginnt ein neues Leben mit neuen Routinen und verdingt sich nunmehr als Laufjunge und Babysitter. Er betet nicht mehr und muss niemandem mehr gefallen. Eines Tages endet der Krieg. Mit den zurückkehrenden Soldaten kommt neue Musik aus Europa. Ein Lied aus dem Osten rührt Mendel zu Tränen. In der Melodie scheint die ganze Welt zu schwingen. Es heißt: Menuchims Lied. Im folgenden Frühling gastiert ein europäisches Orchester in New York. Über ein paar Ecken erfährt Mendel, dass der Kapellmeister, ein Komponist namens Alexej Kossak, mit ihm Kontakt aufnehmen möchte. „Kossak“ ist Deborahs Geburtsname und Mendel nimmt an, dass es sich um einen entfernten Verwandten handelt. Im Konzertprogramm ist ein gut aussehender junger Mann abgebildet. Seine Augen scheinen die eines Propheten zu sein.
Das Wunder geschieht doch noch
Am Osterabend isst Mendel wie üblich an diesem Tag bei den Nachbarn. Gerade wird die Einladung an den Propheten Elias gesungen, da klopft es an der Tür. Draußen steht Kossak, er bekommt einen Platz am Tisch. Etwas Magisches verbindet ihn mit Mendel. Als das Ritual zum Osterabend beendet ist, bringt Kossak Kunde von daheim: Jonas lebt, Zuchnow ist nun polnisch. Kossak hat Mendels Haus gekauft und zahlt ihm den Kaufpreis aus. Als Kind sei er lange krank gewesen, von einem Arzt aufgenommen und kuriert worden, zufällig sei er zur Musik gekommen, seiner Naturbegabung. Menuchims Lied ist seine Komposition. Mendel wagt nicht zu fragen und so tut es einer der Freunde: Was ist mit Menuchim? Kossak zögert und sagt dann, Menuchim lebe und sei gesund. Schließlich lüftet er das Geheimnis: Er selbst ist Menuchim.
„Und während es um seine Lippen lächelte und während er seinen Kopf schüttelte, begann sein Herz langsam zu vereisen, es pochte wie ein metallener Schlegel gegen kaltes Glas. Schon war er einsam, Mendel Singer: schon war er in Amerika …“ (S. 115)
Diese Nachricht kommt auf die Ostergesellschaft herab wie ein Wunder. Die Weissagung des Rabbi ist eingetreten: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.“ Mendel steht mit seinen abgetragenen Kleidern im allgemeinen Tumult wie ein „verkleideter König“. Draußen wartet ein Wagen und fährt die beiden ins Astor Hotel am Broadway. Menuchim erzählt Mendel seine Kindheitserinnerung, wie der Vater mit dem Löffel an einen Glas klingelt und ihm vorsingt. Er zieht dem Vater die Stiefel aus und bettet ihn. Am nächsten Morgen nimmt er ihn mit in eine Welt mit weißen Häusern, gelbem Sand und blauem Meer. Hier kann Mendel wieder daran glauben, dass alles gut wird. Er nimmt seine Kappe ab, lässt den Frühlingswind an sein Haupt und grüßt die Welt. Wieder zurück im Hotel betrachtet er ein Bild, das Menuchims Frau und Kinder zeigt. Dann ruht er aus.
Zum Text
Aufbau und Stil
Hiob zeigt schon im Untertitel „Roman eines einfachen Mannes“ das Genre an. Der erste Teil des Werks spielt im Schtetl im fiktiven Zuchnow, der zweite Teil in New York. Roth erzählt in auktorialer Perspektive in einer gehobenen, aber einfachen Sprache, oft mit biblischen Anklängen. Dieser Eindruck entsteht nicht nur inhaltlich, sondern rührt auch von zahlreichen Satzreihungen her. Auch Adjektive am Satzanfang bzw. die Auflösung der klassischen Ordnung Subjekt-Prädikat-Objekt tragen dazu bei. Gelegentlich kommentiert oder bewertet die Erzählstimme Personen und Umstände. Die Perspektive ist so flexibel, dass sie auch das Innenleben der Figuren im inneren Monolog oder in Rückblenden darstellt – und bei Letzteren interessanterweise aus der erzählenden Vergangenheitsform ins Präsens wechselt. Dialoge sind selten und stets in den Erzählfluss eingebettet. Die Sprache ist reich an Bildern und Farben und stark rhythmisch geprägt. Über Landschaftsdarstellungen bietet Roth Einblick in das Welt- und Himmelsverhältnis seiner Figuren.
Interpretationsansätze
- Hiob ist, wie der Titel nahelegt, eine moderne Nacherzählung der biblischen Hiobsgeschichte. Gott prüft Hiob durch harte Schicksalsschläge (daher die „Hiobsbotschaft“). Leid stellt die Frage nach Schuld und Sünde, bleibt ein ungelöstes Rätsel und ist eine Prüfung des Glaubens.
- Es gibt weitere zahlreiche Bezüge zur Bibel. Alle Figuren tragen biblische Namen mit symbolischer Aufladung (zum Beispiel Menuchim = Tröster). Das Baby liegt in einem Weidenkorb, wie auch Moses, als er im Schilf ausgesetzt wurde. Die Geschichte von Joseph ist präsent, ebenso die Opferung Isaaks durch Abraham.
- Hiob ist eine Hommage an das orthodoxe Ostjudentum, das Ende der 1920er-Jahre schon von Emigration und Auflösung betroffen war und im Holocaust ausgelöscht wurde. Roth war selbst jüdischer Herkunft aus Galizien. Er schildert das ärmliche Leben im Schtetl als eine archaische Welt, geprägt von einer Modernitätsverweigerung, die Mendel sogar in New York wiederfindet. Jedes der sechs Familienmitglieder ließe sich grob einer jüdischen Strömung zuordnen: orthodox, chassidisch, liberal assimiliert, freidenkend, agnostisch und modern.
- Heimatlosigkeit und Identitätsverlust waren Themen, die Roth umtrieben und die er in mehreren Werken behandelte. Im ersten Teil von Hiob geht es um die Aufrechterhaltung jüdisch-orthodoxen Lebens in einer als feindlich erlebten kirchlich-antisemitischen Umgebung, im zweiten Teil ums Heimischwerden und Heimischsein in einer neuen Welt. Damit verewigt Hiob literarisch außerdem ein sozialgeschichtlich bedeutendes Ereignis, die massive Immigration osteuropäischer Juden in die USA.
- Roth thematisiert den Mythos Amerika. Deborah, Sam und Mirjam assimilieren sich bereitwillig, was ihnen aber schlecht bekommt. Mendel versteht Amerika nicht und verweigert sich ihm. Roth schildert Amerika als schnelllebig und hyperkapitalistisch. Er war nie selbst in den USA, insofern ist schwer zu beurteilen, ob die Fehler oder Ungenauigkeiten in Mendels Wissen über Sprache und Kultur schriftstellerisch bewusst gesetzt sind.
- Musik ist ein zentrales Motiv: Mendel heißt nicht von ungefähr Singer, immer wieder flüchtet er in Gebet und Gesang, und Menuchims Lied bringt das langersehnte Wunder.
Historischer Hintergrund
Die verlorene Welt des jüdischen Schtetls
Österreich-Ungarn reichte bis zu seinem Zerfall nach dem Ersten Weltkrieg bis an die russische Grenze, wo aschkenasische Juden in großer Zahl lebten. Galizien mit der Stadt Lemberg und die Bukowina waren die östlichsten Regionen des Vielvölkerstaates. Die Unterscheidung zwischen „Ostjuden“ („Polacken“) und „Westjuden“ („Jeckes“) entstand um 1900 herum, wobei insbesondere die Begriffskombination von Osten und Juden unter den Nazis zu einer antisemitisch-rassistischen Vernichtungskategorie wurde. Bis zum Holocaust bildeten die osteuropäischen Juden die größte Bevölkerungsgruppe der Juden mit Siedlungsgebieten vorwiegend in Polen, Litauen, entlang der Moldau und in der Bukowina mit urbanen Zentren in Krakau, Lemberg, Lublin und Vilnius. Bis zum deutschen Überfall 1939 lebten in Polen – im 16. Jahrhundert das Zentrum der rabbinischen Gelehrsamkeit – rund 3,4 Millionen Juden, 4 Millionen lebten in der Sowjetunion, insbesondere in Galizien (heutige Ukraine). In Städten lag ihr Bevölkerungsanteil oft bei 30 Prozent.
Die soziokulturellen Merkmale der osteuropäischen Juden waren vor allem Pflege und Erhalt des Jiddischen und das ärmliche Leben im Schtetl, isoliert von der christlichen und weltlichen Gesellschaft um sie herum. Sie befolgten die Halacha, die jüdischen Rechtsvorschriften, im Alltagsleben über die religiöse Praxis hinaus. Nach Pogromen (in Russland zum Beispiel in den Jahren 1881 und 1905) emigrierten viele osteuropäische Juden nach Westeuropa und in die USA – für Osteuropa ein bedeutender Kulturverlust, der mit dem Holocaust seine tragische Zuspitzung erfuhr. Nach Amerika wanderten von 1880 bis zur Verschärfung der Immigrationsgesetzgebung im Jahr 1924 rund 2 Millionen Juden aus. Ankunftshafen war in der Regel New York, die Neuankömmlinge siedelten sich unter anderem in Manhattans Lower East Side an. Heute setzt sich die jüdische Bevölkerung der USA zu 90 Prozent aus aschkenasischen Juden zusammen. New York City ist die Stadt mit der höchsten Anzahl Juden weltweit, mehr als Jerusalem überhaupt Einwohner hat.
Entstehung
Als mit dem Ende des Ersten Weltkriegs der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn unterging, lebte der Erfolgsjournalist Joseph Roth in Wien. Ab 1920 arbeitete er in Berlin für verschiedene Zeitungen und ahnte bald die politische Entwicklung in Deutschland voraus. Für die Frankfurter Zeitung reiste er unter anderem 1926 in die Sowjetunion. Seine Beobachtungen publizierte er als Reise in Rußland; auch der Roman Hiob dürfte davon profitiert haben. Roth kannte die Welt des östlichen Judentums darüber hinaus aus seiner Kindheit in Brody, nahe Lemberg in der heutigen Ukraine. Zunehmend kulturpessimistisch, arbeitete er ab 1928 intensiv, bis zu zwölf Stunden am Tag, an Hiob.
Seine Frau Friederike Roth erkrankte zu dieser Zeit an Schizophrenie, was Roth in große Schuldgefühle stürzte. Nur Gott könne helfen, schrieb er ihrer Mutter und stellte den Text im März 1929 unter schwierigen Umständen fertig. Zeitgleich mit dem Vorabdruck im Herbst 1930 in der Frankfurter Zeitung kam Friederike in die Psychiatrie. Die Parallelen zwischen Leben und Werk sind augenfällig. Roth selbst wies in einem Brief auf das eigene Leid hin, das er literarisch verarbeitete: „Es ist richtig, daß man seine Schmerzen nicht teilen kann, man verdoppelt sie nur. Aber es liegt ein unermeßlicher Trost in dieser Verdoppelung eben. Mein Leid geht aus dem Privaten ins Öffentliche und ist also leichter erträglich.“
Wirkungsgeschichte
Nach mehreren erfolglosen Romanprojekten in den 1920er-Jahren markierte Hiob im Werk von Roth eine Wende: weg von zeitgenössischen sozialkritischen Themen und hin zur jüdischen Tradition um die Jahrhundertwende. Stilistisch ist der Roman in seiner geschlossenen Form und traditionellen Erzählweise eine Abkehr vom modernen Erzählen. In Buchform erschien Hiob im Oktober 1930 im Berliner Kiepenheuer Verlag, unmittelbar darauf folgten englische Übersetzungen in New York und London. Jüdische Kritiker bemängelten, dass es dem Buch an Authentizität fehle, schon allein deshalb, weil die jiddische Sprache nicht vorkomme. Es war dennoch das bis dahin erfolgreichste Buch von Roth und sein Durchbruch als Literat: Rasch verkauften sich in Deutschland 20 000 Stück, in den USA war es Book of the Month. Marlene Dietrich nannte es 1936 ihr Lieblingsbuch und tat damit das Ihre zum Erfolg.
Auch nach 1945, als Roth in der jungen BRD wiederentdeckt wurde, bekam das Werk positive Rezensionen und eine zusätzliche Bedeutung als Zeugnis einer untergegangenen Kultur nach der Vernichtung der Juden im Holocaust. Heinrich Böll nannte es „eines der schönsten Bücher, das zwischen den beiden Kriegen erschienen ist“. 1978 machte eine dreiteilige deutsche Fernsehfassung das Buch wieder populär. In jüngerer Zeit bekam Hiob als Inszenierung an den Münchner Kammerspielen wieder eine Bühne.
Über den Autor
Joseph Roth wird am 2. September 1894 im galizischen Brody bei Lemberg geboren und ist jüdischer Abstammung. Nach dem Studium der Philosophie und Germanistik nimmt er ab 1916 am Ersten Weltkrieg teil, als Feldjäger und Mitarbeiter des Pressedienstes. Ein Jahr zuvor veröffentlicht Roth seine erste Novelle mit dem Titel Der Vorzugsschüler. Während des Krieges schreibt er fürs Feuilleton und verfasst Gedichte. Nach Kriegsende kehrt er nach Wien zurück, aber schon 1920 zieht es ihn nach Deutschland. In Berlin heiratet er Friederike Reichler. Ab 1923 abermals in Wien, veröffentlicht Roth die Romane Das Spinnennetz (1923), Hotel Savoy (1924) und Die Rebellion (1924) in verschiedenen linksgerichteten Zeitungen. 1925 reist er als Korrespondent der Frankfurter Zeitung nach Paris, ein Jahr später geht es in die Sowjetunion, wonach Roth sich vom Sozialismus abwendet. In den folgenden Jahren beschäftigt sich sein schriftstellerisches Werk unter anderem mit dem Judentum im Osten (Flucht ohne Ende, Juden auf Wanderschaft, beide 1927, und Hiob, 1930) und dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Dies wird vor allem in Radetzkymarsch (1932) – oft als Roths Hauptwerk bezeichnet – deutlich: Darin begleitet er drei Generationen einer Familie und erzählt parallel dazu den Untergang des Kaiserreichs. Ab 1928 korrespondiert Roth mit Stefan Zweig, woraus sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. 1930 wird seine Frau in eine Nervenheilanstalt eingeliefert; zwölf Jahre später wird sie im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten ermordet. 1933 flieht Roth vor den Nazis nach Paris. Seine Arbeit bei diversen Exilzeitschriften wird von seiner zunehmenden Alkoholsucht überschattet: Private Probleme und der Kummer über die politische Entwicklung lassen ihn immer öfter zur Flasche greifen; eine Krankheit, die ihn schließlich auch das Leben kostet. Bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in einem Pariser Armenhospital erscheint unter anderem der Roman Die Kapuzinergruft (1938), postum erscheinen die Werke Die Legende vom heiligen Trinker (1939) und Leviathan (1940).
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