Peter Handke
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms
Suhrkamp, 2016
Was ist drin?
Das Zerbrechen aller Weltbilder – der junge Peter Handke stellt sein ästhetisches Programm vor.
- Essay
- Gegenwartsliteratur
Worum es geht
Die Suche nach dem Sinn der dichterischen Existenz
Peter Handke hat in seinem literarischen Schaffen viele Wandlungen vollzogen: von den frühen sprachkritischen Stücken über biografische Erzählungen bis zur Mystik des Spätwerks. Dass diese Wandlungen keine Brüche bedeuten, sondern der Sehnsucht entspringen, die Welt immer neu zu entdecken, davon legt der Essayband Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms ein frühes Zeugnis ab. So polemisch es darin mitunter zugeht – besonders wenn Handkes Lieblingsfeinde Brecht und Sartre ins Spiel kommen –, zeigt sich immer wieder, dass Handke die Auseinandersetzung nicht um ihrer selbst willen sucht, sondern mit dem Ziel, die eigene Position zu hinterfragen. Ganz ohne Eitelkeiten geht das Ganze dann zwar auch nicht zu, aber das wäre bei einem jungen Autor, der einen so kometenhaften Aufstieg wie Handke hinter sich hatte und gleichzeitig so heftige Kritik auf sich zog, auch eher überraschend. In seinem Texten – das beweist der Band eindrücklich – spiegelt sich Handkes Suche nach dem Sinn der dichterischen Existenz und der Literatur überhaupt.
Take-aways
- Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms ist ein Essayband von Peter Handke.
- Inhalt: Die Literatur ist ein Mittel der Aufklärung – lesend lernt man etwas über sich selbst und über die Welt. Literatur kann uns verändern, indem sie uns immer wieder neue Denk-, Fühl- und Existenzmöglichkeiten zeigt. So bewahrt sie uns vor der Erstarrung in Ideologien und geschlossenen Weltbildern. Literatur kann nicht engagiert sein, weil es ihr Wesen ist, Eindeutigkeiten aufzulösen. Sie ist, auch wo sie sich realistisch nennt, eigentlich romantisch.
- Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms umfasst 26 Essays, die Handke zwischen 1965 und 1971 geschrieben hat.
- Den Texten liegt laut Handke kein einheitliches Weltbild zugrunde.
- Mit der Metapher des Elfenbeinturms wollte sich Handke wohl auch von den herrschenden literarischen und politischen Strömungen der 1960er-Jahre abgrenzen.
- Insbesondere setzt sich Handke in Gegensatz zur „engagierten Kunst“ etwa eines Brecht oder eines Sartre.
- Mit seinen Essays unternimmt Handke auch eine Kritik der Kulturkritik in ihrer damaligen Ausprägung.
- In Handkes Frühwerk ist die Sprache selbst das zentrale Thema.
- Dennoch wollte Handke nicht als Formalist oder Ästhetizist eingeordnet werden.
- „Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder.“
Zusammenfassung
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms
Für Peter Handke ist die Literatur ein Mittel der Klärung – seiner selbst und der Welt. Durch die Beschäftigung mit Literatur als junger Mensch ist Handke zu einem neuen Bewusstsein seiner selbst gekommen, denn sie hat ihm gezeigt, dass er mit mit seinem Denken nicht allein ist, sondern dass er es mit anderen teilt. Die Literatur hat Handke mehr geprägt und verändert, als seine Erzieher es je vermochten.
„Literatur ist für mich lange Zeit das Mittel gewesen, über mich selber, wenn nicht klar, so doch klarer zu werden.“ (S. 19)
Literatur kann uns verändern, indem sie uns immer wieder neue Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Existierens vorführt. So bewahrt sie uns davor, in Ideologien und geschlossenen Weltbildern zu erstarren. Damit die Literatur diesen Anspruch erfüllen kann, muss sie immer wieder neue Wege finden, die Wirklichkeit darzustellen. Denn jede einmal gefundene Darstellungsmethode wird in den Händen ihrer Nachahmer sogleich zur Manier.
„Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder.“ (S. 20)
Der heute verbreitete Realismus ist zu einer solchen Manier verkommen. Er wird gar nicht mehr als Methode wahrgenommen und reflektiert, sondern als natürlich empfunden – als wäre er nicht, wie andere Methoden auch, irgendwann einmal künstlich erdacht worden. Der Realismus verlangt heute vom Autor, er solle die gesellschaftliche und politische Dimension der Wirklichkeit zeigen und „die Dinge beim Namen nennen“ – als konstituiere eine Aufzählung von Fakten bereits die Wirklichkeit eines literarischen Werks. Auch misst der Realismus der sorgfältigen Beschreibung subjektiver Erfahrungen, obwohl diese doch auch ein Teil der Wirklichkeit sind, wenig Wert zu. Folglich ist die Wirklichkeit, die der Realismus zum Vorschein bringt, eine sehr vereinfachte, schablonenhafte Wirklichkeit.
„Weithin wird missachtet, dass eine einmal gefundene Methode, Wirklichkeit zu zeigen, buchstäblich ‚mit der Zeit‘ ihre Wirkung verliert.“ (S. 20)
Handke hat kein Interesse, eine möglichst allgemeine Wirklichkeit zu zeigen. Er möchte seine eigene Wirklichkeit darstellen. Dafür braucht er auch keine Fiktion und keine Geschichte – das Erfinden von Geschichten scheint ihm willkürlich, privat. Geschichten sind auch nicht nötig, um von Erfahrungen zu berichten. Indem Sätze in den Dienst einer Geschichte gestellt werden, wird unnötig von ihnen selbst abgelenkt.
„Jede Geschichte lenkt mich von meiner wirklichen Geschichte ab (…), sie macht mich weltvergessen.“ (S. 23)
Handke will nach neuen Methoden der Weltdarstellung suchen. Wenn er darum als „Formalist“ und „Bewohner des Elfenbeinturms“ bezeichnet wird, ist ihm das recht. Denn er weiß, dass auch seine neuen Methoden bald als Realismus gelten werden – sobald sie nämlich scheinbar „natürlich“ geworden sind.
Alle Literatur ist romantisch
Bei einer Tagung hat der Schriftsteller Peter Weiss eine Rede gehalten. Darin hat er berichtet, wie er sich des Leidens in der Welt bewusst und dadurch zu einem „engagierten“ Schriftsteller geworden sei. Zu fragen wäre, was ein engagierter Schriftsteller und eine engagierte Literatur sein sollen.
Wer sich engagiert, hat ein normatives Weltbild: So wie die Welt ist, soll sie nicht sein. Das Ziel des Engagierten ist die Welt in die Richtung seines Wunschweltbildes zu bewegen – und um das zu erreichen, handelt er. Sein Engagement hat also einen eindeutigen Zweck. Der Kunst sind aber Zwecke fremd, sie zielt nur auf die Form und schafft Eindeutigkeiten ab. So muss sich das Engagement, wenn es in die Kunst einfließt, notwendigerweise verändern: Wenn der Schriftsteller sein Engagement in Literatur überführt, verliert das Engagement zwangsläufig an Ernst, Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit. Je hartnäckiger der Schriftsteller an der Form seines Werks festhält, umso mehr lenkt er damit von seiner Botschaft ab. Benutzt er beispielsweise eine Figur, die seine Botschaft ausdrücken soll, so verliert sie bereits an Eindeutigkeit. Eine Figur ist erfunden, sie steht im Zusammenhang mit einer Handlung und anderen Figuren – all das schafft Mehrdeutigkeiten, wo das Engagement Eindeutigkeit verlangt.
„Das Weltbild dessen, der sich engagiert, ist ein utopisches, es ist das Bild von einer künftigen Welt.“ (S. 38)
Der Engagierte will handeln, die Sprache ist dabei Mittel zum Zweck. In der Literatur hingegen wird die Sprache zur Form und damit unbrauchbar für den Engagierten. Eine Parole, die in einem literarischen Text verarbeitet wird, ist keine Parole mehr. Von engagierter Literatur zu sprechen, ist also widersinnig. Literatur ist nie engagiert, solange sie Form ist. Literatur ist, indem sie die Wörter für die Wirklichkeit unbrauchbar macht, unrealistisch – auch da, wo sie sich realistisch nennt. Die Literatur ist, solange sie Form ist, romantisch.
Straßentheater und Theatertheater
Brecht zeigt in seinen Werken die gesellschaftliche Realität in all ihrer Widersprüchlichkeit. Seine Botschaft: Der Zustand der Welt ist kein natürlicher, sondern ein künstlich hergestellter. Ihm kann widersprochen und er kann auch verändert werden.
Brecht hat jene Widersprüchlichkeit in Theaterstücke verwandelt. Einen Lösungsvorschlag liefert er dabei stets mit – und zwar den Marxismus. Übersehen hat er dabei, dass seine Lösungsvorschläge auf der Bühne an Ernsthaftigkeit verlieren. Im Bedeutungsraum der Bühne werden sie zum Spiel, zur Form – und damit unwirksam. Zudem hat die Gesellschaft das Theater heute als Ort des Widerspruchs akzeptiert. Seine Veränderungsmacht ist geschwunden. Die Nachfolger Brechts sind darum auch nicht in den Theatern zu finden.
„Das engagierte Theater findet heute nicht in Theaterräumen statt (…), sondern zum Beispiel in Hörsälen, wenn einem Professor das Mikrofon weggenommen wird (…)“ (S. 53–54)
Brechts legitime Nachfolger sind – ob sie es wissen oder nicht – die Mitglieder der Berliner Kommune um ihren Helden Fritz Teufel. Das Theater, das sie veranstalten, ist unmittelbar wirksam. Mit ihren theatralen Aktionen machen sie die falsche Idylle, den Terror der Wirklichkeit, unmittelbar anschaulich. Um gesellschaftliche Zustände zu ändern, stehen heute so das Straßentheater, das Hörsaaltheater, das Kaufsaaltheater usw. bereit. Das Theatertheater der Bühnen eignet sich hierfür nicht mehr.
Das Wunder des Zeichentrickfilms
Man kann zwei Arten Wunder unterscheiden: solche, die nur wie Wunder aussehen, und eigentliche Wunder. Erstere widersprechen nicht den Naturgesetzen, sondern beschreiben eher ein äußerst glückliches, da höchst unwahrscheinliches Ereignis.
„Die Helden der Zeichentrickfilme werden deformiert, wie das sonst nur im Traum möglich ist.“ (S. 133)
Die Wunder des Zeichentrickfilms gehören zur zweiten Kategorie, den eigentlichen Wundern. Seine Helden, meistens Tiere mit menschlichen Eigenschaften, vollbringen nicht nur Wunder, sie selbst sind gezeichnete Wunder. Das häufigste Thema der Zeichentrickfilme ist die Verfolgungsjagd. Es geht dabei zwar immer um Leben und Tod, doch es kommt nie jemand um. Stürzt der Held etwa aus furchtbarer Höhe zur Erde hinunter, so braucht er nur in letzter Sekunde seine Füße in richtiger Position gegen die Fallrichtung zu stellen, um so bremsend den tödlichen Aufprall abzuwenden. Der Held kann aber auch deformiert werden, ohne dass er davon Schaden nimmt. Wird er etwa von seinem Gegner mit Wucht geschleudert, kann es vorkommen, dass der Held sich in einer Dachrinne wiederfindet, deren Form er angenommen hat. Metaphern verwandeln sich im Zeichentrickfilm zu Bildern und Vorgängen: so zum Beispiel, wenn einem, der sich sehr fürchtet, die Haare zu Berge stehen, oder auch, wenn der Held nach einem Aufprall Sterne vor den Augen hat. So dient auch die Sprache dem Zeichentrickfilm als Quelle von Wundern.
Die Dressur der Objekte
Der Zirkus ist in unserer Gesellschaft kein Mittel zur Unterhaltung mehr, er gehört der Vergangenheit an. Das hat verschiedene Gründe. Im Gegensatz zum Theaterbesuch wird der Zirkusbesuch gesellschaftlich als nutzlos betrachtet, denn im Zirkus werden keine geistigen Inhalte vermittelt. Vorgänge, die im Zirkus stattfinden, bedeuten nichts anderes als sich selbst. Die Dressurakte und Vorführungen der Zirkusartisten bleiben darum auch von veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen unberührt. Der spanische Nationalzirkus etwa hat nichts Faschistoides an sich. Da der Zirkus keine Bedeutungen hat, entwickelt er sich auch nicht weiter.
„Die Zeit des Zirkus ist vorbei, weil er sich keine gesellschaftliche Bedeutung zu schaffen gewusst hat.“ (S. 141)
Der Zirkus gehört der Vergangenheit an, weil seine Kunststücke dem Zuschauer so bekannt geworden sind, dass dieser nichts weiter erwartet, als dass die Kunststücke gelingen. Gelingen sie nicht oder kommt es zu Verzögerungen, erhöht das nicht die Spannung beim Zuschauen, sondern wird nur als peinlich empfunden. Wenn ein Artist in Gefahr ist, in die Tiefe zu fallen, empfindet der Zuschauer diese Spannung als unangenehm. Sein Beifall nach gelungenem Kunststück ist kein Zeichen der Begeisterung, sondern der Erleichterung.
„Die Zeit des Zirkus ist nicht ganz vorbei, denn es gibt die Spaßmacher noch.“ (S. 145)
Solange es Clowns gibt, gehört der Zirkus vielleicht noch nicht ganz der Vergangenheit an. Indem die Clowns das Missgeschick in ihre Kunststücke aufnehmen, ironisieren sie die Versuche der anderen Artisten, Missgeschicke zu vermeiden. Das steht im Gegensatz zur sonstigen ernsthaften „Dressur der Objekte“ im Zirkus. Auch die Clowns versuchen – wie die Artisten –, Gegenstände zu beherrschen, nur gelingt es ihnen nicht. Doch ihr Scheitern ist anmutig und ihre Missgeschicke sind zum Lachen.
Die Tautologien der Justiz
Anderthalb Jahre ist es her, seit die letzten großen, landesweiten Proteste und Ausschreitungen stattgefunden haben, die sich gegen die Staatsform und das ökonomische System der Bundesrepublik Deutschland richteten. Was seither in den Strafprozessen gegen die damals verhafteten Demonstranten geschah und weiter vor sich geht, darüber weiß die Öffentlichkeit so gut wie nichts. Weitgehend unbemerkt folgt eine Verhandlung auf die nächste, weitgehend unbemerkt wird ein Urteil nach dem anderen gefällt. Wie wird dabei vorgegangen?
Die Vorgänge auf den Demonstrationen werden von den Gerichten ausschließlich als eine Reihe von Straftatbeständen aufgefasst. Der jeweilige Tathergang wird so beschrieben, dass er das Urteil bereits enthält. Ein Zusammenstoß von Polizei und Demonstranten kann beispielsweise nur für Polizisten schmerzhaft sein: Mit den Demonstranten „befasst“ man sich, sie „liegen plötzlich auf dem Boden“ oder „werden am Oberarm genommen“, während Polizisten „schmerzhaft hinfallen“ und „schmerzhaft gegen das Schienbein getreten werden“.
„Auch die eigentlichen Tathergänge werden in den Urteilsbegründungen nach dem Prinzip beschrieben: ‚Es ist so, weil ich es sage.‘“ (S. 179)
Um Tatsachen festzustellen, benutzen die Justizbeamten Begriffe, die neutral wirken sollen, in Wirklichkeit aber normativ sind. Wenn Demonstranten sich vor die Marschformation einer Parade setzen, dann ist es den Soldaten unmöglich, auszuweichen, weil das bei einer Parade für die Marschierenden unzulässig ist. Die Demonstranten wollten auf der Zuhörertribüne nicht zuhören, sondern eine Diskussion anzetteln, was die Einhaltung der Tagesordnung unmöglich machen würde. Führen die Demonstranten nun schuldmindernde Gründe für ihr Verhalten an wie das Recht auf Notwehr, antwortet die Justiz in den immer gleichen Tautologien: Eine Parade ist eine Parade und die Tagesordnung ist die Tagesordnung. Politische Aktivisten, die die Unterdrückungsmechanismen staatlicher Tautologien kritisieren, erhalten als Antwort der Staatsgewalt eben jene Tautologien entgegengehalten: Recht bleibt Recht!
„Auch werden die einzelnen Tatsachen von vorneherein so beschrieben, dass die dabei gebrauchten Begriffe die späteren Urteile gleichsam vorwegnehmen.“ (S. 181)
Was könnte in dieser Situation unternommen werden? Es wäre vergeblich, die Justizbeamten zur Reflexion ihrer Verfahrensweisen aufzufordern. Sie würden, wie es ihnen entspricht, darauf nur antworten: „Es ist so, weil es so ist“. Es müsste versucht werden, die Gesetzgeber aufmerksam zu machen auf das, was in den Gerichtssälen unbemerkt vor sich geht. Es ist zu hoffen, dass bald das Demonstrationsrecht reformiert und ein Amnestiegesetz erlassen wird – bevor noch mehr Demonstranten zu Haftstrafen verurteilt werden.
Zum Text
Aufbau und Stil
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms besteht aus 26 Essays, Kritiken, Reden und Aufsätzen sowie einer Vorbemerkung, in der Handke die Entstehungsgeschichte der Texte erläutert. Unter anderem schreibt er hier, die Essayform sei ihm eigentlich immer fremd gewesen und er betätige sich darin nur, um Geld zu verdienen. Trotzdem erscheinen die Texte keineswegs als Routinearbeiten eines Feuilletonisten: Handke sucht selbst als Kulturkritiker jedes Mal aufs Neue nach einer eigenständigen, literarischen Form. Zwar scheut er sich nicht, theoretisch sehr anspruchsvoll zu argumentieren, es fällt aber auf, dass seine Texte meistens von persönlichen, sehr konkreten Beobachtungen und Empfindungen ausgehen. So etwa, wenn er im titelgebenden Essay Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms seine Erziehung durch die Literatur und seine Sehnsucht nach ihrer bewusstseinsverändernden Kraft beschreibt. Da er sich selbst immer persönlich ins Verhältnis zu seinen Themen stellt, wirken die Texte auch nie wirklich trocken. Handke begreift sich außerdem – das zeigt der Band deutlich – in erster Linie als Verfechter sprachlicher Genauigkeit. Selbst wenn er politische Vorgänge kritisiert, wie in dem Essay Die Tautologien der Justiz, argumentiert er im Wesentlichen sprachkritisch, indem er den unterdrückenden Charakter juristischer Sprache aufzeigt.
Interpretationsansätze
- Die Texte des Bandes können als Kritik der Kulturkritik gelesen werden. Die herkömmlichen Formen der Kulturkritik befindet Handke für einseitig affirmativ oder ablehnend. Auch analysiert er die Voraussetzungen der Kritik selbst – etwa, wenn er in einem der Essays der Frage nachgeht, welcher Erkenntnisgewinn aus Vergleichen gezogen werden kann.
- Wie Handke in der Vorbemerkung schreibt, entspringt aus dem Band in Gänze „kein referierbares Weltbild“. Man darf annehmen, dass Handke das nicht als Mangel versteht, sondern als Bedingung seines Schriftstellerseins. Denn er erwartet – wie er an anderer Stelle des Bands schreibt – von der Literatur ein „Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder“.
- Dass Handke sich als einen „Bewohner des Elfenbeinturms“ bezeichnet, kann als Abgrenzung zu den dominanten literarischen und politischen Strömungen der 1960er gelesen werden. Der „Elfenbeinturm“ steht hierbei metaphorisch als Gegensatz zur sogenannten engagierten Kunst, als deren Vertreter Handke insbesondere Bertolt Brecht und Jean-Paul Sartre ausmachte.
- Handkes Verteidigung formaler und verfremdender Methoden in der Literatur verbindet ihn mit den ästhetischen Positionen Theodor W. Adornos, denn er wendet sich gegen die Vorstellung einer vermeintlich natürlichen Sprache und einer realistischen Weltdarstellung. Ähnlich wie Handke wandte sich auch Adorno in seiner Ästhetischen Theorie gegen eine Politisierung von Ästhetik.
Historischer Hintergrund
Aufstieg und Ende der Gruppe 47
Als der Publizist Hans Werner Richter 1947 einige befreundete Autoren und Journalisten zu einem Treffen am Bannwaldsee bei Füssen einlud, war seine Absicht wohl nicht, die einflussreichste Institution der deutschen Nachkriegsliteratur zu schaffen. Richter hatte gerade seine Tätigkeit als Herausgeber für die Zeitschrift Der Ruf – unabhängige Blätter der jungen Generation aufgeben müssen, weil er darin Kritik an der amerikanischen Besatzungsmacht geübt hatte und die Zeitschrift daraufhin verboten worden war. Sein Plan war, eine neue Zeitschrift zu gründen. Zu diesem Zweck – als eine Art Redaktionssitzung und zum gegenseitigen Besprechen eigener Manuskripte – sollte das Treffen am Bannwaldsee stattfinden. Die geplante Zeitschrift kam jedoch nie heraus. Stattdessen ging aus der Sitzung die „Gruppe 47“ hervor, deren Tagungen die deutsche Literatur für die nächsten 20 Jahre maßgeblich bestimmen sollten.
In ihrer Anfangszeit verstand sich die Gruppe 47 unter der Federführung Richters vor allem als Plattform für junge Schriftsteller und als Bewegung zur Erneuerung der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Zahlreiche Autoren und Kritiker, die die literarische Szene Deutschlands noch Jahrzehnte prägen sollten, traten auf den Tagungen der Gruppe 47 das erste Mal öffentlichkeitswirksam in Erscheinung – etwa Günter Grass, der auf der Tagung 1958 aus dem ersten Kapitel seines noch unveröffentlichten Romans Die Blechtrommel vortrug und dadurch schlagartig berühmt wurde. Auch für Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann bildeten die Tagungen den Eintritt ins öffentliche Bewusstsein und damit die Initialzündung ihrer literarischen Karrieren. Marcel Reich-Ranicki erwarb sich auf den Tagungen den Ruf eines scharfen und gnadenlosen Kritikers.
Die gesellschaftliche Politisierung in den 1960ern wirkte sich auch auf die Gruppe 47 aus. Vor allem, da ihr kultureller Einfluss zunehmend öffentlich debattiert und sie über die Landesgrenzen hinaus als Repräsentant der deutschen Literatur angesehen wurde. Diesen Anspruch untermauerte sie, indem sie ihre Tagungen ab 1964 auch im Ausland veranstaltete.
Kamen Angriffe auf die Gruppe 47 in der Anfangszeit vor allem aus konservativer Richtung, so waren die Kritiken ab Mitte der 1960er größtenteils linkspolitisch. Sogar die letzte offizielle Tagung 1967 wurde von den Protesten sozialistischer Studenten gestört, die der Gruppe eine zu unpolitische Haltung vorwarfen. Zu einer Auflösungstagung 1968 in Prag, die Richter geplant hatte, kam es nicht mehr: Die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings durch die einmarschierenden Truppen des Warschauer Paktes setzte Richters Vorhaben jäh ein Ende.
Entstehung
Peter Handkes Durchbruch als Schriftsteller begann im Frühjahr 1966 mit einem Eklat. Handke, gerade 23 Jahre alt, war auf die Tagung der Gruppe 47 in Princeton eingeladen worden. Sein erster Roman Die Hornissen stand kurz vor der Veröffentlichung, Handke war also noch ein weitgehend unbekannter Autor. Statt sich aber in Ehrfurcht vor den etablierteren Schriftstellerkollegen zu üben, ging Handke zum Angriff über. In einer heftigen Schmährede polemisierte er gegen eine „Beschreibungsimpotenz“ gegenwärtiger deutscher Literatur, die er für rundum „läppisch“ hielt. Handkes Rede löste eine erregte Debatte in der Literaturszene und den Feuilletons aus. Im Sommer desselben Jahres wurde Handkes erstes Theaterstück Publikumsbeschimpfung durch den Regisseur Claus Peymann uraufgeführt. Das Stück wurde von der Kritik weitgehend begeistert aufgenommen. Damit war Handke innerhalb weniger Monate zum Star der deutschen Literaturszene avanciert.
In Handkes Frühwerk ist die Sprache selbst zentrales Thema. Das handelte ihm immer wieder den Vorwurf ein, ein Formalist und Ästhet zu sein, der an der Darstellung der „gesellschaftlichen Wirklichkeit“ kein Interesse hätte. Mit diesem Vorwurf setzt sich Handke in dem titelgebenden Essay des Bandes Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms auseinander. Die in diesem Band versammelten Aufsätze, Essays und Reden sind zwischen 1965 und 1971 entstanden. Die Idee, Handkes Aufsätze in einem Band zusammenzubringen, stammte von seinem damaligen Lektor Thomas Beckermann. Die ersten Überlegungen dazu wurden im Juni 1971 angestellt, bis zur Veröffentlichung dauerte es bis Juli 1972. Während dieser Zeit schrieb Handke die Erzählungen Der kurze Brief zum langen Abschied und Wunschloses Unglück, ein halb biografisches Werk, in dem Handke das Leben seiner Mutter beschreibt, die sich kurz zuvor umgebracht hatte.
Wirkungsgeschichte
Handkes dichterisches Schaffen stand immer wieder im Zentrum heftiger, ideologischer Debatten. Sein ästhetisches Programm stand in direktem Gegensatz zu dem, was in Hörsälen und auf den Straßen von Künstlern und Literaten gefordert wurde. Allein dadurch wurde er zu einem permanenten Ärgernis linker Literaturkritiker. Durch seine literaturtheoretischen Essays verhärtete er die Fronten noch zusätzlich. Dennoch zeigt sich, dass Handke wesentliche Standpunkte, die er in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms einnimmt, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon wieder verlassen hatte. In seinen im selben Jahr erschienenen Erzählungen Der kurze Brief zum langen Abschied und Wunschloses Unglück erzählt Handke nicht mehr in erster Linie von der Sprache, sondern von sich.
Über den Autor
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Seine Mutter stammt aus einer slowenisch-kärntnerischen Familie, sein Vater ist ein im Zweiten Weltkrieg in Österreich stationierter deutscher Soldat. Nach dem Abitur beginnt Handke ein Jurastudium in Graz. Aufgrund des Erfolgs seiner ersten literarischen Werke gibt er das Studium auf und arbeitet fortan als freier Schriftsteller. Nach zahlreichen Stationen in Paris, Österreich und Deutschland lebt er seit 1991 in Chaville bei Paris. Seine ersten Werke zeigen ihn als Vertreter einer sprachkritischen Literatur. Im Lauf der Zeit wendet er sich mehr dem traditionellen Erzählen zu. Im Zentrum seines Schaffens steht die Bemühung, subjektive Erfahrungen mitteilbar zu machen. Handke schreibt Essays, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke (z. B. Publikumsbeschimpfung, 1966) und zahlreiche Prosatexte: Sein erster ist der Roman Die Hornissen (1966). Daneben übersetzt er Werke von Shakespeare, Julien Green u. a. Gemeinsam mit Wim Wenders realisiert er mehrere Filme: 1971 entsteht Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, 1987 schreiben die beiden zusammen das Drehbuch für Der Himmel über Berlin. Handke wird mit etlichen bedeutenden Preisen für deutschsprachige Literatur ausgezeichnet, darunter 1973 mit dem Georg-Büchner-Preis. Seit den 90er-Jahren erregt Handke weniger mit seinen literarischen Texten Aufsehen als mit seinem Engagement für Serbien, das in einem Besuch beim ehemaligen Präsidenten Slobodan Miloševic während dessen Haft in Den Haag und in einer Rede auf dessen Beerdigung im März 2006 gipfelt. Ein Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit ist Handke mit jeder Äußerung sicher. Im Frühjahr 2006 wird eine geplante Aufführung eines Handke-Stücks an der Pariser Comédie-Française wegen Handkes proserbischer Position abgesetzt. Der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf wird ihm im Mai 2006 zunächst von der Jury zuerkannt, vom Stadtparlament aber verweigert, woraufhin Handke seinerseits auf den Preis verzichtet.
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