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Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

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Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Deutscher Klassiker Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Herders Mammutwerk erklärt, was unterschiedliche Kulturen verbindet, trennt und auszeichnet.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Aufklärung

Worum es geht

Eine moderne Kulturphilosophie

Johann Gottfried Herder war ein Querdenker, ein unangepasster Polemiker, der regelmäßig aneckte und nicht davor zurückschreckte, auch Lehrer und Freunde wie Kant und Goethe zu kritisieren. Das macht ihn schwer zu verorten: Er ist gleichzeitig Aufklärer und einer ihrer schärfsten Kritiker, glaubt an Gott wie an die Naturwissenschaften, ist Wortführer des Sturm und Drang wie später der Weimarer Klassik. Während der Arbeit an seinem Hauptwerk, den umfassenden Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, schrieb er in einem Brief, er wolle damit „dem Jahrhundert in seinen eigen Tönen ein ander Lied“ vorsingen. Und tatsächlich bricht dieses Werk mit zahlreichen philosophischen und kulturellen Konventionen. In einer beeindruckenden Zusammenschau zahlloser historischer, ethnografischer, anatomischer und religionswissenschaftlicher Quellen zeichnet Herder nicht nur eine Geschichte der Welt und der menschlichen Kulturen nach, er begründet auch eine kulturelle Subjektphilosophie, kritisiert Rassismus und Eurozentrismus und hält ein enthusiastisches Plädoyer für die allen Kulturen und historischen Epochen innewohnende Humanität und Vernunft. Ein Grundlagenwerk der modernen Kulturwissenschaft, das seiner Zeit in vielen Belangen voraus war und noch heute zu inspirieren vermag.

Take-aways

  • Die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit sind Herders Hauptwerk und ein Klassiker der Kulturwissenschaft.
  • Inhalt: Die Evolution der Erde als Planet und der geologischen, vegetativen und animalischen Umwelt haben die Rahmenbedingungen geschaffen, in denen der Mensch entstehen konnte. Seine vielfältige und stets auf Humanität ausgerichtete Entwicklung nachzuverfolgen, ist Aufgabe der Geschichtsphilosophie.
  • Das Werk entstand zwischen 1782 und 1788, im engen Austausch mit Goethe.
  • Es ist Herders Versuch, das gesamte Wissen seiner Zeit in einer philosophischen und historischen Anthropologie zu vereinen.
  • Die Ideen widersprachen in vielen Aspekten den dominierenden Auffassungen seiner Zeit, was Herder etwa die heftige Kritik Immanuel Kants einhandelte.
  • Herder war ein bedeutender Vertreter des Sturm und Drang, der Aufklärung und der Weimarer Klassik.
  • Herder steht zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung: Während er sich einerseits klar für Naturwissenschaft und Rationalismus ausspricht, hält er zugleich die Religion für den Höhepunkt der kulturellen Vernunft und der Humanität.
  • Herders Sprache ist reich an Metaphern und Allegorien, stark der Lyrik und Poesie verpflichtet und teilweise schwärmerisch. 
  • Das Werk blieb unvollendet; ein geplanter fünfter Teil kam nie zustande.
  • Zitat: „Was ist das Hauptgesetz, das wir bei allen großen Erscheinungen der Geschichte bemerkten? Mich dünkt dieses: daß allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann, teils nach Lage und Bedürfnis des Orts, teils nach Umständen und Gelegenheiten der Zeit, teils nach dem angebornen oder sich erzeugenden Charakter der Völker.“

Zusammenfassung

Vorrede über Geschichtsphilosophie

Die Philosophie von der Geschichte des Menschen ist noch sehr jung. Eine ihrer größten Schwächen ist, dass sie nach wie vor nicht geklärt hat, was Kultur bedeutet. Wer hat Kultur? Ganze Völker und Epochen oder nur einzelne Menschen? Und befördert die Kultur die menschliche Glückseligkeit? Es gilt zu erforschen, welche allgemeinen, über-historischen Erkenntnisse man bezüglich der Kultur der Menschheit gewinnen kann. Denn dass es solche allgemeinen Erkenntnisse geben muss, legt das Werk Gottes von selbst nahe: Wenn der gütige Schöpfer die gesamte Natur so zweckreich, schön und sinnvoll eingerichtet hat, dann wohl auch das Schicksal der Menschen. Deshalb muss auch die Geschichte der Menschheit einer Wissenschaft zugänglich sein. Wir müssen sie nur im Buch der Schöpfung lesen lernen und dürfen nicht in wilde Spekulation abgleiten. Das vorliegende Werk beansprucht keineswegs, der Weisheit letzter und unfehlbarer Schluss zu sein. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Geschichte der Menschheit derzeit noch gar nicht vollständig geschrieben werden kann.

Teil 1: Die Erde und ihre Bewohner

Unsere Erde ist Teil des gesamten, durch kosmische Kräfte gleichmäßig organisierten Weltalls. Wir können sie nur im Zusammenhang mit den ewigen Gesetzen dieser kosmischen Ordnung verstehen und müssen einsehen, dass das Schicksal der Menschen durch diese Kräfte bestimmt wird. Leider wissen wir sowohl über den Anfang der Erde, der wohl in gigantischen Umwälzungen der Elemente liegt, ebenso wenig wie über das Leben auf anderen Planeten. Sowohl die Mittelposition der Erde im Sonnensystem als auch ihre Kugelgestalt und Atmosphäre dürften die Entstehung des Lebens maßgeblich beeinflusst haben. Stufe für Stufe hat sich das Leben auf der Erde höher entwickelt, von Gesteinen und Kristallen ausgehend, eine Reihe von pflanzlichen und tierischen Entwicklungsstadien hindurch, bis zum Menschen, der zweifellos auch eine Mittelposition unter allen Geschöpfen einnimmt, vereinigt er doch alle Eigenschaften und Elemente des restlichen Naturreichs in sich. Gleichzeitig hat er Eigenschaften ausgebildet, die ihn deutlich von der Tierwelt abheben: Er besitzt Sprache, Religion und Recht, aber auch eine Bereitschaft zur gewalttätigen Grausamkeit gegen seinesgleichen, die den Tieren abgeht.

„Was ist Glückseligkeit der Menschen? (…) Wiefern findet sie, bei der großen Verschiedenheit aller Erdwesen und am meisten der Menschen, allenthalben statt, unter jeder Verfassung, in jedem Klima, bei allen Revolutionen der Umstände, Lebensalter und Zeiten?“

Der entscheidende Unterschied zwischen dem Menschen und den Tieren, selbst dem ihm so nahen Affen, liegt im aufrechten Gang des Menschen, der ihm allein eigen ist und der physiologisch den einzigartigen Bau des menschlichen Hirns ermöglicht hat. Durch den aufrechten Gang wurde das Auge zum dominierenden Sinn und die Hand wurde zum Werkzeuggebrauch befreit. Nur so konnte sich die Sprache entwickeln, und erst als der Mensch sie hatte, konnte er beginnen, Vernunft und Kultur auszubilden. Der Mensch ist also ein „Kunstgeschöpf“, das sich durch technische Hilfsmittel und Werkzeuge, sprachliche Vorstellungen und Idealbilder selbst eine Gestalt gibt. Die edelste uns bekannte Gestalt nennen wir „Humanität“. Sie besteht aus dem Selbsterhaltungstrieb, der den Menschen zur Verteidigung und zum Frieden, nicht zum Angriff und zum Krieg bestimmt, ferner aus dem Geschlechts- und Gesellschaftstrieb, der ihn zum geselligen und liebevollen Leben bewegt, sowie aus dem Teilnahme- und Gerechtigkeitstrieb, der dem Menschen Mitleid und Recht gibt und die Freundschaft zwischen Individuen wie Völkern fördert. In der Religion, in der in Gott begründeten Hoffnung auf die Vervollkommnung unserer Gesundheit, Kultur, Schönheit und Wahrheit, findet die Humanität schließlich ihren höchsten Ausdruck.

„Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf; denn durch ihn, die erste und schwerste Kunst, die ein Mensch lernet, wird er eingeweihet, alle zu lernen und gleichsam eine lebendige Kunst zu werden.“

Die wunderbare Ordnung der Natur kann nicht zufällig entstanden sein, sondern muss das Resultat einer der Materie innewohnenden, uns aber weitgehend noch unbekannten Kraft sein. Diese allem Lebendigen eigene Kraft wirkt in den Organen und verursacht den beständigen Fortschritt der Naturgeschichte, wodurch alles Niedere in höheren Stufen aufgeht und kein Element jemals stirbt, da die Kraft über den Tod der Körperhülle hinaus weiterwirkt. Deshalb müssen wir auch den Menschen, der sein eigenes Ziel, die Humanität, nie vollkommen zu realisieren vermag, als Übergang und Zwischenstation auf dem Weg zu noch vollkommeneren und uns völlig unbekannten Geschöpfen denken.

Teil 2: Über Einheit und Vielfalt der Menschheit

Wer die Geschichte der Menschheit schreiben will, muss die Verschiedenheit der Erscheinungen des Menschen im Verlauf der Weltgeschichte und in den unterschiedlichen Weltgegenden erforschen. Viel zu lange beruhte unser Wissen über fremde Kulturen auf fiktionalen Darstellungen und mythischen Vorstellungen. Obwohl die wissenschaftliche Gesamtschau der menschlichen Vielfalt noch in den Kinderschuhen steckt, lassen sich doch bereits einige allgemeine philosophische Konsequenzen ziehen.

„Dieser Humanität nachzuforschen ist die echte menschliche Philosophie, die jener Weise vom Himmel rief und die sich im Umgange wie in der Politik, in Wissenschaften wie in allen Künsten offenbaret.“

Wie keine zwei Blätter völlig identisch sind, so unterscheiden sich auch Individuen und Kulturen voneinander. Der Mensch besitzt keine unabhängige und unabänderliche Substanz, sondern verändert sich im Lauf seines Lebens. Das Gleiche gilt von den Völkern dieser Erde: Sie verwandeln sich im Lauf der Geschichte, vermischen sich und entwickeln sich je nach den Bedingungen und Veränderungen ihrer geologischen, klimatischen, vegetativen und tierischen Umwelt. Daher sollte man von Völkern oder Nationen und nicht von Rassen sprechen, denn es gibt nur eine einzige Gattung des Menschen und diese entwickelt sich in unterschiedlichen Formen, die ihren spezifischen Umweltbedingungen am besten entsprechen. Es ist falsch, eine allgemeine Stufenabfolge der Kulturentwicklung anzunehmen oder bestimmte Kulturen als Ideal über andere zu stellen. Der Ausdruck „Glückseligkeit“ bedeutet, dass die Seligkeit des Menschen vom Glück, also von den Umständen, unter denen er lebt, abhängt. Daher soll man Menschen nicht aus ihrer Heimat entwurzeln oder ihnen fremde Vorstellungen von Glückseligkeit aufzwingen.

„Unsinnig-stolz wäre die Anmaßung, daß die Bewohner aller Weltteile Europäer sein müßten, um glücklich zu leben; denn wären wir selbst, was wir sind, außer Europa worden? Der nun uns hieher setzte, setzte jene dorthin und gab ihnen dasselbe Recht zum Genuß des irdischen Lebens.“

Einige Irrtümer früherer Philosophen müssen zurückgewiesen werden. Etwa die Meinung, dass der Mensch im Naturzustand einzelgängerisch, feindselig und kriegerisch sei. Das Gegenteil ist der Fall: Der Mensch ist ein friedliches Wesen, das zu liebevollen Beziehungen mit dem anderen Geschlecht und den Mitmenschen strebt. Daher leben alle Menschen aller Völker in Familienverbänden. Dies ist die ursprüngliche und angemessene Gesellschaftsform aller Menschen. Künstliche Regierungen von unüberschaubar großen Staaten dagegen verbiegen die Individualität jedes Einzelnen und machen ihn zum bloßen Rädchen einer gigantischen Maschine. Der Mensch lebt immer schon in Gesellschaft, unter Mitmenschen und in einer bestimmten Tradition, sein Denken und Fühlen entwickelt sich nicht unabhängig davon. Wir alle werden in eine bestehende Tradition hineingeboren und müssen deren Ideale, Meinungen und Werte erst mühsam durch Erziehung erlernen. Doch jede dieser Traditionen stellt eine Ausprägung derselben, allen Menschen gemeinsamen Anlage zu Vernunft, Humanität und Religion dar. Sie müssen daher aus einer gemeinsamen Wurzel entsprungen sein. Dieser Ursprung wird vom Alten Testament ebenso wie von den Erkenntnissen der Naturforschung im höchsten Gebirge Asiens, in den Bergen Indiens angesiedelt.

Teil 3: Die Frühgeschichte der Menschheit

Das alte Asien hat Reiche von größter Ausdehnung und Dauer errichtet, die noch heute fortbestehen: China, Japan, Indien. Seine edlen Völker haben schon früh eine eigene Gelehrtenkultur ausgebildet, um ihre Nation zu erziehen und aufzuklären: die Brahmanen, Mandarine und Lamas. Auch zeichnen sich die Nationen Asiens durch ihre Friedfertigkeit aus: Sie konzentrieren sich auf sich selbst, kümmern sich um das eigene Wohlergehen, anstatt erobernd in die Fremde zu ziehen wie die Europäer. Dennoch muss man an diesen Völkern einen eigenartigen und für Asien typischen Hang zum Despotismus, zu äußerst brutalen und autoritären Regierungsformen feststellen. Offenbar ist diese strenge Herrschaftsform der Natur der asiatischen Völker am angemessensten.

„Der Mensch ist also eine künstliche Maschine, zwar mit genetischer Disposition und einer Fülle von Leben begabt; aber die Maschine spielet sich nicht selbst und auch der fähigste Mensch muß lernen, wie er sie spiele.“

Weiter westlich, zwischen Euphrat und Tigris, finden wir eine Vielzahl von Völkern, die eine starke Durchmischung und sehr viele Konflikte durchlebt haben. Keines dieser großen Reiche existiert mehr. Assyrien, Babylon, Chaldäa, Phönizien und all die anderen Großstaaten sind allesamt zerstört und verschlungen worden. Hier beweist sich eines der Naturgesetze der menschlichen Geschichte, dass es nämlich keine reine Rasse, keinen unvermischten Volksstamm gibt. Die Völker wandern, vermischen und verändern sich. Es muss als Hauptgesetz der Geschichte gelten, dass alle Kulturen entstehen, die entstehen können, in Abhängigkeit von den klimatischen, räumlichen, historischen Gegebenheiten und dem Zusammenwirken mit benachbarten Völkern. Alle menschlichen Einrichtungen sind vergänglich und auch die ältesten Traditionen, die eine Nation durch Erziehung zur Sittlichkeit trotz aller Kriege und Zerstörungen aufrechterhalten können, müssen mit der Zeit gehen oder sind zum Untergang verdammt. Eine der wichtigsten Errungenschaften jenes Kulturkreises ist die gegen den Despotismus gerichtete Regierungsform der Phönizier, die im griechischen Staatenverbund ihren Höhepunkt findet.

„Was ist das Hauptgesetz, das wir bei allen großen Erscheinungen der Geschichte bemerkten? Mich dünkt dieses: daß allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann, teils nach Lage und Bedürfnis des Orts, teils nach Umständen und Gelegenheiten der Zeit, teils nach dem angebornen oder sich erzeugenden Charakter der Völker.“

Überhaupt muss Griechenland als Blüte der Humanität und Kultur gelten. In dem warmen, ausgewogenen Klima des Mittelmeerraums hat die Menschheit den kaum zu unterschätzenden Schritt zur „Mündigkeit“ hin getan, das Königreich in eine Republik verwandelt, auf dass sich die Menschen nun selbst regieren könnten. Nie sonst in der Menschheitsgeschichte konnte sich ein Volk so rein halten und seine Dichtung, Wissenschaft und Kultur so gründlich entwickeln, sodass man in Griechenland fast die Vollkommenheit der Humanität erblicken muss. Doch auch Griechenland entkam nicht der Vergänglichkeit aller menschlichen Werke. Zerstört wurde es durch jenen Unglücksstern, der die gesamte mediterrane Kultur, von Karthago bis Jerusalem, durch seine Tapferkeit, Härte und Arglist niederwarf: Rom. Nie wieder in der Geschichte der Menschen hingen so viele Völker von einer einzigen Stadt ab. Im Imperium Romanum beginnt die eigentliche Kultur Europas.

„Und so war das Zeitalter griechischer Republiken der erste Schritt zur Mündigkeit des menschlichen Geistes in der wichtigen Angelegenheit, wie Menschen von Menschen zu regieren wären.“

Muss man nun die menschliche Geschichte, wie es scheint, als tragische Verkettung von Zerstörung und Niedergang betrachten? Nein, wenn man genauer hinsieht, erkennt man einen beständigen Fortschritt der Humanität, ein graduelles Nachlassen der destruktiven Kräfte und den roten Faden der Vernunft, die Ordnung, Einheit und Frieden unter den Völkern vermehrt.

Teil 4: Die Geschichte Nordeuropas

Die lange Tradition des intensiven Handels in Judäa hat viel für die Vermischung der Völker getan. Hier konnte das Christentum entstehen, der erste allgemeine Volksglaube, der alle unterschiedlichen Stämme zu einem Volk zu vereinen vermochte. Der positive Charakter des Christentums wurde allerdings durch seinen Aufstieg zur Weltmacht zunehmend entstellt und verkehrt. So wurde das Christentum im Lauf der Jahrhunderte und durch die Staatsmacht des Vatikan zu einer Religion, die unmündige Folgsamkeit und blinden Gehorsam predigte und nicht davor zurückschreckte, die heiligen Schriften für Machtinteressen falsch oder missbräuchlich auszulegen. Die Barbarei des römischen Papsttums traf auf die Barbarei der nordischen Stämme, weshalb man nach dem Ende des römischen Reichs eine Verrohung Europas zur Zeit der Völkerwanderung feststellen muss. Diese findet ihren klarsten Ausdruck in der auf Erbfolge basierenden „despotischen Lehnsherrschaft“, die die Mächtigen bevorzugt und die erwerbenden Kräfte des Fleißes und des Erfindungsgeistes, von der jede Nation zehrt, zu Leibeigenen und Sklaven degradiert. Hierdurch wurde der Fortschritt der Humanität in Europa über Jahrhunderte gelähmt. Doch die neue Aufklärung konnte nur aus den Stämmen Europas selbst kommen. Und sie war tatsächlich angelegt in den rohen und einfachen Nationen des unwirtlichen Skandinaviens, die mit der Edda die einzige Geschichtsphilosophie außer der griechischen erfanden und die für Europa maßgebliche Vorstellung vom demokratischen Recht entwickelten.

„Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer europäischen Nationen gemildert und verändert, ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europas schwerlich hätte erweckt werden mögen.“

Das kleine, enge und dicht bevölkerte Europa befördert durch seine vielen Flüsse und Meere den Handel und Austausch zwischen den Nationen. Es hat eine Anlage zum „Nationenverein“ und zur Auflösung einzelner Nationalcharaktere in einem gemischten „Allgemeingeist.“ Durch die Handelsbeziehungen entlang der Ostsee und des Mittelmeers entstanden mit der Hanse, mit Venedig und Genua erste Körperschaften, die sich zum Handel und zur gemeinsamen Sicherheit zusammenschlossen und die, gegen die allgemeine Leibeigenschaft, die Freiheit der Künste und Handwerker förderten. Der französische Rittergeist entwickelte eine volksnahe Form der Dichtung, der Tugend und der höfischen Kultur. Aus den Klöstern gingen Universitäten hervor, die eine Kunst des Debattierens pflegten, die den Krieg in Wortgefechte auflöste und alle weltlichen wie kirchliche Gewalten der Macht des besseren Arguments unterstellte. Europa gründet in der fleißigen Tätigkeit, einem freien Erfindungsgeist und dem gemeinschaftlichen Wettstreit im Handel wie in der Wissenschaft.

Zum Text

Aufbau und Stil

Johann Gottfried Herders Werk Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit besteht aus vier umfangreichen Teilen, die über einen Abstand von sieben Jahren eigenständig publiziert wurden. Jeder dieser vier Teile umfasst fünf Bücher, die wiederum jeweils in vier bis acht Kapitel unterteilt sind. Die vier Teile weisen keine Titel, dafür lateinische Mottos auf, während die Kapitel zumeist ihren Inhalt durch einen thesenhaften Titel anzeigen. Am Ende der meisten Kapitel befindet sich ein kurzes Literaturverzeichnis der von Herder zitierten Quellen. Während der erste Teil Herders umfassende und theologisch ausgerichtete Kosmologie vorstellt, widmet sich der zweite Teil den unterschiedlichen „Naturreichen“ der Erde, dem Gestein, den Pflanzen, Tieren und dem Menschen. Der dritte und vierte Teil umfasst die eigentliche Geschichte der Menschheit, wobei Herders Darstellung nur bis zum Mittelalter reicht. Ein geplanter fünfter Teil, der die Renaissance, Reformation und Herders Gegenwart, die Aufklärung, hätte beschreiben sollen, kam nicht mehr zustande. Herders Sprache trägt eindeutig Züge des Sturm und Drang: reich an Metaphern und Allegorien, stark der Lyrik und Poesie verpflichtet und teilweise schwärmerisch. Die Rationalisten seiner Zeit kritisierten diesen blumigen Stil als unseriös und unphilosophisch, tatsächlich bereitet Herders literarische Sprache aber dem Leser eine viel angenehmere und zugänglichere Leseerfahrung als der spröde und abstrakte Ton eines Kant oder Hegel.

Interpretationsansätze

  • Herder wurde oft als Irrationalist oder Anti-Aufklärer angesehen, doch es ist zutreffender, ihn als Vertreter einer selbstkritischen Aufklärung zu bezeichnen. Er tritt leidenschaftlich für eine wissenschaftlich fundierte Wahrheit ein und will mit reiner Spekulation und mythischem Aberglauben aufräumen.
  • Es ist aber vor allem Herders paradoxes Verhältnis zur Religion, das eine einfache Zuordnung des Autors zur Aufklärung verhindert. Denn während er sich einerseits klar für Naturwissenschaft und Rationalismus ausspricht, bleibt er doch bekennender Gläubiger und hält die Religion für den Höhepunkt der kulturellen Vernunft und Humanität.
  • Im Zentrum des Werks stehen die beiden Hauptgedanken der Organisation und der Humanität: Erstere ist das wesentliche Prinzip des Kosmos wie auch der Stellung des Menschen darin; Letztere ist das ultimative Ziel, das der Mensch zu erreichen strebt.
  • Als Expressivismus hat der Philosoph Isaiah Berlin das entschieden moderne Moment in Herders Denken bezeichnet. Nach Herders Ansicht erschafft sich der Mensch erst in seinen konkreten Handlungen unter spezifischen Umständen, er existiert nicht bereits davor als abstrakte, allgemeine Idee.
  • Herder gilt als Vorläufer eines toleranten Kulturrelativismus. Wiederholt betont er, dass Kulturen in sich selbst verstanden werden müssen und nicht auf einer absoluten Werteskala gegeneinander ausgespielt werden sollen. Insbesondere kritisiert er den Eurozentrismus und den wertenden Rassebegriff.
  • Herder spricht sich gegen die Trennung von Sein und Sollen aus – anders als die philosophischen Hauptvertreter seiner Zeit, Kant oder Hume. Er unterläuft die historisch wirkmächtige Differenzierung zwischen faktischen Tatsachen und moralischen Werten, indem er Letztere aus Ersteren abzuleiten versucht.

Historischer Hintergrund

Die umkämpfte Aufklärung

Im siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763), der auch als erster Weltkrieg der Geschichte bezeichnet wird, standen sich alle Hauptmächte Europas gegenüber. Die Kriegsschauplätze umfassten neben Europa noch die Kolonialreiche Nordamerika, Indien und die Karibik. Als 1763 Frieden geschlossen wurde, hatte sich Preußen unter Friedrich dem Großen als eine der dominierenden Mächte in Europa durchgesetzt und Großbritannien hatte in den Kolonien Frankreich als Weltmacht abgelöst.

Im Geistesleben Europas herrschte die Aufklärung, die Aberglauben und Irrationalismus durch Vernunft und Naturwissenschaft bekämpfte. Dagegen stellte in Deutschland ab den späten 1760er-Jahren der Sturm und Drang einen ersten Einspruch dar. Das Jugendwerk bedeutender deutscher Literaten und Denker wie Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Johann Gottfried Herder sowie die philosophischen Werke Johann Georg Hamanns und Friedrich Nicolais brachten einen jugendlich-umwälzenden Gestus zum Ausdruck, der gefühlsstark und schwärmerisch den Konflikt suchte, aber – so die Kritik der Zeitgenossen – kaum durchdachte Argumente oder klar formulierte Alternativen vorweisen konnte. Dass ab etwa 1785 Goethe, Schiller und Herder, zusammen mit Christoph Martin Wieland, die Hauptvertreter der Weimarer Klassik wurden, zeigt, wie eng in dieser turbulenten Epoche scheinbare Gegensätze wie Aufklärung, Revolution und Klassizismus verwoben waren.

Entstehung

Wie Herder in der Vorrede der Ideen schrieb, hatte er seit seiner Jugend begeistert alle Bücher zur Kulturgeschichte des Menschen verschlungen und sich stets gefragt, wieso es noch keine philosophische Wissenschaft der Geschichte vom Menschen gäbe. Einen ersten Versuch in diese Richtung hatte er 1774 mit Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit vorgelegt. Zu Beginn der 1780er-Jahre war diese Schrift vergriffen, weshalb Herders Verleger Johann Friedrich Hartknoch, ein Bekannter aus der gemeinsamen Königsberger Studienzeit und der Verleger Immanuel Kants und Hamanns, um eine Neuauflage bat. In der Zwischenzeit hatte Herder die aktuellsten deutsch-, englisch- und französischsprachigen Ergebnisse der Geschichts- und Naturwissenschaft, der Biologie und der Anatomie studiert. Im Herbst 1782 begann er, diese immense Quellensammlung zu einer Universalgeschichte des Menschen zu bündeln.

Der Weg bis zur Vollendung dieses umfassenden Projekts, von dem Herder selbst annahm, dass es sein Hauptwerk werden sollte, war lang und steinig. Immer wieder unterbrachen Reisen, Krankheiten und vor allem die zahlreichen beruflichen Verpflichtungen in Weimar die Arbeit an den Ideen. Motiviert zur Weiterarbeit wurde er vor allem von seiner Frau Maria Caroline Herder und von Goethe, der die Bedeutung der Ideen früh erkannte.

Herder schrieb stets erst, nachdem er bei Spaziergängen ein klares Konzept entwickelt und danach das passende wissenschaftliche Quellenmaterial zusammengesammelt hatte. Diesen ersten Entwurf legte er dann einem Freund zur Diskussion vor, worauf er letzte Änderungen vornahm und das Manuskript abschloss.

Im Frühjahr 1784 erschien der erste Teil der Ideen bei Hartknoch. Im Frühjahr 1785 folgte der zweite und zwei Jahre darauf der dritte Teil. Noch im Winter 1787 machte Herder sich an den vierten Teil, der bereits nach wenigen Monaten so gut wie fertig vorlag, dessen Publikation aber durch Herders Italienreise bis 1791 verschoben wurde.

Wirkungsgeschichte

Bei Herders Königsberger Lehrern, Kant und Hamann, stießen die Ideen ihres ehemaligen Vorzugsschülers auf Ablehnung. Kant würdigte in seinen Rezensionen der ersten beiden Teile 1784 und 1785 zwar die geniehafte Eigenständigkeit des Herderʼschen Zugangs, lehnte dessen „Eigenwilligkeit“ letztlich jedoch ab: Für den rationalen Aufklärer Kant gab es in Herders Ideen zu viel dichterische Sprache und Spekulation und zu wenig rationale Argumentation und System. Für Herder war dieser heftige öffentliche Angriff seines ehemaligen Lehrers überraschend und umso verletzender, als die Ideen zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht fertig ausgearbeitet waren.

Lob erfuhr er dafür von Wieland und Goethe, der die Ideen in seinen Gesprächen mit Johann Peter Eckermann als das beste von Herders Werken bezeichnete. Außerdem erlebte Herder noch die Veröffentlichung einer englischen Übersetzung 1800, auf die 1828 eine französische Fassung folgte, wodurch Herders Hauptwerk schon früh in die internationale Debatte eintrat. Der kanadische Philosoph Charles Taylor würdigte Herder als entscheidenden Wegbereiter des deutschen Idealismus und als Vertreter eines pluralistischen Kultur- und modernen Subjektverständnisses. Herder gilt heute als maßgeblicher Vorläufer der modernen Kulturwissenschaft sowie der Anthropologie und Ethnologie.

Über den Autor

Johann Gottfried Herder wird am 25. August 1744 in Mohrungen geboren. Im Alter von 18 Jahren geht er nach Königsberg, wo er Theologie studiert und in Immanuel Kant und Johann Georg Hamann sehr einflussreiche Lehrer findet. 1764 wird er an die Domschule von Riga berufen, wo er zwei Jahre später einer Freimaurerloge beitritt. Er verfasst zahlreiche Rezensionen, macht sich als Übersetzer einen Namen und beginnt, am intellektuellen Diskurs seiner Zeit teilzunehmen. Außerdem reist Herder viel: Er besucht die französischen Enzyklopädisten in Paris, Klopstock in Hamburg und unternimmt 1788/89 eine ausgedehnte Italienreise. 1773 heiratet er Caroline Flachsland, mit der er sieben Kinder haben wird. Im selben Jahr lernt er Johann Wolfgang von Goethe kennen, auf den er einen starken Einfluss ausübt. Während seiner Anstellung als Hofprediger in Bückeburg von 1771 bis 1776 nimmt Herder aktiv am deutschen Sturm und Drang teil: Er arbeitet mit Goethe zusammen und verfasst die Schriften Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) sowie Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). Durch Vermittlung Goethes wird er 1776 nach Weimar gerufen, wo er in den Dienst des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar tritt und bis an sein Lebensende wohnt. Im engen Kontakt mit Goethe, Schiller und Wieland wird Herder einer der führenden Vertreter der Weimarer Klassik. Von 1784 bis 1791 veröffentlicht er sein Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Zunehmend wird er von Krankheiten geplagt, die Freundschaft mit Goethe zerbricht und seine zeitlebens prekäre Finanzlage befördert einen im Spätwerk zunehmenden Pessimismus. Herder stirbt am 18. Dezember 1803 in Weimar.

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