Heinrich Böll
Irisches Tagebuch
KiWi, 2008
Was ist drin?
Sehnsucht nach dem Fremden – Irland durch die Augen von Heinrich Böll
- Reiseliteratur
- Moderne
Worum es geht
Schule der Wahrnehmung
Schon mit dem Motto, das Böll seinem Irischen Tagebuch voranstellt – wenn man selber nach Irland fahre und ein anderes Land vorfinde, als in dem Buch beschrieben, habe man keine Ersatzansprüche an den Autor –, macht der Autor sich von den traditionellen Erwartungen an das Format des Reiseberichts los. Wo es also schon 1957 mindestens zweifelhaft gewesen wäre, das Buch als Reiseführer zu gebrauchen, wäre es heute zu diesem Zweck komplett sinnlos: Das Irland des Irischen Tagebuchs gibt es ganz sicher nicht mehr. Was das Werk jedoch auch heute noch lesenswert macht, ist der hochsensible Blick eines begnadeten Stilisten, von dem man die Kunst der Wahrnehmung lernen kann. Das Irland, wie Böll es gesehen hat, ersteht dem Leser ungemein plastisch, schillernd, widersprüchlich vor dem inneren Auge. „Lass dich ein auf das Fremde! Und sieh genau hin!“, ruft Böll ihm zu – auch heute noch – gerade heute – eine wichtige Empfehlung.
Take-aways
- Irisches Tagebuch ist eines der erfolgreichsten Bücher von Heinrich Böll und prägte die Sicht der Deutschen auf Irland.
- Inhalt: Heinrich Böll reist allein und mit Familie durch Irland und beschreibt, was er erlebt: Begegnungen mit trinkfreudigen Hitlerfans, von Wind und Wetter skelettierte, verlassene Dörfer oder eine antiklimaktische Wallfahrt zu den Gräbern von Swift und Yeats.
- Die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion ist durchlässig: Virtuos verschachtelt Böll Reiseerlebnisse mit theoretischen Überlegungen und Erzählungen.
- Dem Buch liegen drei Reisen Bölls nach Irland zwischen 1954 und 1956 zugrunde.
- Die Prosastücke wurden zunächst über mehrere Jahre einzeln in der FAZ veröffentlicht.
- Obwohl das Buch fast ausschließlich von Irland handelt, wurde es oft auch als Kritik an der deutschen Kultur und Mentalität interpretiert.
- Das Buch spiegelt Bölls Bewunderung für die Klassenlosigkeit der irischen Gesellschaft.
- Im Erscheinungsjahr 1957 war Böll bereits ein bekannter, aber auch umstrittener Autor.
- Das Buch wurde nicht gleich zum Best-, dafür aber zum Longseller: Bis 1991 wurde die Taschenbuchausgabe über 1 Million Mal verkauft.
- Zitat: „Es gibt dieses Irland: Wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.“
Zusammenfassung
Überfahrt, Ankunft und Kirchenbesuch
Heinrich Bölls Reise nach Irland beginnt mit der nächtlichen Überfahrt von Liverpool nach Dublin. Schon die Atmosphäre auf dem Dampfer kündigt Irland an: der Geruch von Torf, die kehlige Klangfarbe des Keltischen, die ärmliche Kleidung vieler Passagiere. Armut und Reichtum scheinen im gesellschaftlichen Bewusstsein der Iren keine bedeutende Rolle zu spielen. Bedeutend scheint den Iren vor allem zu sein, den knappen Weltrekord im Teetrinken gegen die Engländer zu halten – entsprechend lang ist die Schlange vor dem Schalter, wo der Tee ausgeschenkt wird. Während Böll dort ansteht, erinnert er sich an weitere Weltrekorde der Iren: die meisten Weihungen neuer Priester, die meisten Kinobesuche, die wenigsten Selbstmörder. Er fragt sich, ob die ersten drei Rekorde wohl ursächlich für den Letzteren sind.
„Es gibt dieses Irland: Wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.“ (S. 9)
Am Morgen geht es vom Schiff in den Zug, der nach wenigen Minuten den Bahnhof in Dublin erreicht. Dort angekommen bemerkt Böll eine junge Frau, die ihm aus dem Fenster eines schwarzen Hauses zulächelt. Er lächelt zurück. So freundlich diese erste Begrüßung ausfällt, die Iren glänzen in den Morgenstunden vor allem durch Einsilbigkeit. Viele Fragen hat Böll bei seiner Ankunft: zur Architektur, zu Denkmälern, zur ganzen Stadt. „Sorry“ ist vorläufig jedoch die einzige Antwort, die er auf seine Fragen erhält. Doch schon am Nachmittag hat Böll Land und Leute so ins Herz geschlossen, dass er sie gegen einen anderen deutschen Reisenden und dessen Kritik leidenschaftlich verteidigt.
„Ich hatte in Latein eine Zwei und Kevins Sarg wurde ins Grab gesenkt.“ (S. 30)
In der St. Patrick’s Cathedral besucht Böll das Grab von Jonathan Swift. Die Schönheit und Sauberkeit der Kathedrale beeindrucken ihn, doch das Elend in der Gegend von St. Patrick’s ist seit Swifts Zeiten kaum weniger geworden. Einem Bettler ohne Arme, den er vor der Kathedrale trifft, steckt Böll etwas Geld in die Tasche und eine angezündete Zigarette in den Mund. In einer anderen Kirche findet er auf den Bänken kleine Emailletafeln, die zum Gebet für Verstorbene auffordern. Eine Tafel erinnert an einen Jungen, der 13-jährig starb und im selben Jahr wie Böll geboren wurde. Sie ruft bei diesem Erinnerungen an seine eigene Jugend wach. Als er später durch die Straßen spaziert, begleitet ihn der Junge in seiner Fantasie. Er trinkt darum schließlich zwei Whiskey: einen für sich selbst – einen im Namen von Kevin Cassidy.
Zugfahrt und Wanderung
Die Hilfsbereitschaft der irischen Eisenbahngesellschaft erfährt Böll am eigenen Leib, als er per Zug und mit Familie an die Westküste reisen will: Weil zwischen der Ankunft mit dem Schiff und der Abfahrt des Zuges keine Zeit zum Geldwechseln und Ticketkaufen bleibt, hat Böll sich schon fast damit abgefunden, den Zug fahren zu lassen und eine teure Hotelübernachtung zu bezahlen. Doch der Bahnhofsvorsteher gewährt ihm und seiner Familie Kredit: Ohne Fahrkarten darf Böll mit Familie den Zug besteigen. Die Fahrt geht vorbei an kleinen Bahnhofsstationen, wo Jungen mit Bauchläden stehen, die Pfefferminz und Batman-Comics verkaufen. Die „Anzahl der auf Kredit beförderten Personen“ wird von Station zu Station einmal quer durchs Land telegrafiert. Mayo, ganz im Nordwesten Irlands, ist das Ziel. Warum aber die Iren, wenn nur der Name „Mayo“ fällt, sofort „God help us!“ hinzufügen – das bleibt ein Geheimnis.
„So gelangten wir auf dieser merkwürdigen Insel in den Genuss dieser einzigen Art eines Kredits, den wir noch nie bekommen und zu bekommen versucht hatten: den Kredit einer Eisenbahngesellschaft.“ (S. 33)
Bei einer Wanderung entdecken die Reisenden ein verlassenes Dorf. In seiner Kahlheit und aus einiger Entfernung gesehen, wirkt es wie das Skelett eines „leicht humpelnden Wesens“. Gemalt müsste es für abstrakte Kunst gehalten werden. Anders als in den zerbombten Städten Europas ist in diesem Dorf keine Einwirkung von Gewalt zu sehen: Der Zahn der Zeit hat dieses Gerippe freigelegt. Wann das Dorf verlassen wurde und warum, weiß auch die alte Nachbarin der Bölls nicht. 1880 war sie ein junges Mädchen, und schon damals war es verlassen.
Begegnungen am Abend
Wenn Böll abends mit den Iren in einer Kneipe sitzt, wird er oft auf Hitler angesprochen. In Irland kennen viele die Ausmaße der Verbrechen nicht, die dieser begangen hat. Viele hegen sogar Sympathie für ihn. Darum hat Böll es sich zur Aufgabe gemacht, seine Trinkkumpanen, wenn sich eine Gelegenheit bietet, gründlich über Hitler aufzuklären. „Den Zahn ziehen“ nennt er diese Aufklärung, denn sie ist zwar schmerzhaft, aber notwendig. Mit der Zeit wird er dabei immer geschickter und die Operation glückt ihm meist.
„Alles, was nicht Stein war, weggefressen von Wind, Sonne, Regen und Zeit, schön ausgebreitet am düsteren Hang wie zur Anatomiestunde das Skelett eines Dorfes (…)“ (S. 43)
Die Stadt Limerick ist bekannt als Namensgeberin für einen kurzen, heiteren Gedichttyp. Fröhlich hat sich Böll darum auch die Stadt vorgestellt. Auf der Autofahrt nach Limerick begegnen ihm auch tatsächlich heitere Szenen: Kinder etwa, die am Wegesrand barfuß und glücklich durch den Regen wandern. Doch die Fröhlichkeit in Limerick endet spätestens am Abend, als Böll beobachtet, wie eine Chipsverkäuferin einem Jungen auf offener Straße mit Schlägen droht. Nach ihrer Auffassung hat der sich nämlich zu reichlich am Essig bedient. Der Junge ist krank, man hört es am Pfeifen aus seiner Brust. Ein vorbeikommender Mann, völlig verwahrlost, rettet den Jungen, indem er den Essig mit 10 Schilling bezahlt. Torkelnd geht er weiter, erschrocken rennt der Junge weg, schreiend und weinend kehrt die Wirtin in ihr Lokal zurück.
„Sag mal (…) Hitler – war – glaube ich – kein so schlechter Mann, nur ging er – so glaube ich – ein wenig zu weit.“ (ein Ire zu Böll, S. 49)
„Als Gott die Zeit machte, hat er genug davon gemacht“, heißt ein Sprichwort der Iren. Es drückt eine Gelassenheit aus, die man im alltäglichen Verhalten der Iren wahrnimmt. Im Saal des Kinos etwa, das Böll eines Abends besucht, ärgert sich niemand über den verspäteten Filmbeginn: Über die Reihen hinweg werden Witze erzählt, Frauen schminken sich, jemand singt. Bemerkenswert ist auch, dass die Kinobesucher eine vollkommen klassenlose Gesellschaft bilden, denn von Torfstechern über Pfarrer bis zu vornehmen Damen sind hier alle vertreten. Spät in der Nacht sitzen die Iren dann zu Hause ums Kaminfeuer und erzählen den Daheimgebliebenen die Handlung des Films nach – Zeit hat man ja genug.
„(…) die Straßen von Limerick waren dunkel und leer: Weiß waren nur die Milchflaschen vor den Türen, zu weiß fast, und die Möwen, die das Grau des Himmels zersplitterten (…)“ (S. 56)
Wenn es abends in Irland so heftig regnet und stürmt, dass man das Haus nicht verlassen kann, sollte man gewisse Vorkehrungen getroffen haben: Kerzen, Whiskey, Spielkarten und Tabak helfen zum Beispiel sehr. Spät an so einem regnerischem Abend bekommen Böll und seine Familie unerwarteten Besuch: Dermot, ein Schreiber aus Dublin, hat ihr Haus irrtümlich für sein Hotel gehalten. Er bleibt und erweist sich in dieser langen Nacht als guter Kartenspieler, Geschichtenerzähler und Whiskeytrinker. Dass er in deutscher Kriegsgefangenschaft war, bekennt er erst am Morgen. Er berichtet der Familie, wie er nach der Evakuierung eines KZs Zigeunerkinder begraben musste. Böll hofft, dass seine Kinder diesen Bericht niemals vergessen. Als es hell wird, enden Sturm und Regen.
Irische Geschichten
Die junge Frau eines Arztes wartet in einer Septembernacht auf die Wiederkehr ihres Mannes. Denn heute Nacht bekommt Mary McNamara ihr viertes Kind. Mary bewohnt mit ihren Kindern das letzte Haus eines ansonsten verlassenen Dorfs, das eine halbe Autostunde entfernt liegt. Die Arztgattin vergegenwärtigt sich die gefährliche Küstenstrecke, die ihr Mann heute Nacht bewältigen muss. Whiskey, Stricken, Zeitungslektüre – nichts hilft, um der Nervosität Herr zu werden. In ihrem Kopf läuft ein Gebet in Dauerschleife: „Gütiger Jesus, erbarme dich ihrer.“ Endlich, es ist fast halb zwei, sieht sie ein Scheinwerferlicht. Ihr Mann kommt nach Hause. Das dreimalige Hupen bedeutet: Mary McNamara hat einen Jungen geboren.
„Der Kinobesuch ist auf 21 Uhr angesetzt, doch wenn irgendetwas unverbindlich ist, dann diese Uhrzeit.“ (S. 67)
An einer Straße steht ein Polizist, der die Aufgabe hat, die Zulassungspapiere vorbeifahrender Autos zu prüfen. Mit einem der Fahrer, die er zu diesem Zweck anhält, beginnt er zu plaudern. In dieser Plauderei erweist sich die faszinierende Fähigkeit der Iren, in unendlichen Variationen über das Wetter zu sprechen. Bei jedem vergangenen Ereignis, das die beiden in ihrem Gespräch streifen – die Geburt eines Kindes, ein Besuch beim Zahnarzt, ein Mord –, erinnern sie sich an die genauen Wetterumstände. Was hier jeweils wichtiger ist, das Ereignis oder die Wetterlage, ist schwer zu sagen. Dass der Fahrer schließlich keine Zulassungspapiere vorweisen kann, ist für den Polizisten kein großes Problem.
„(…) der Sturm hat viel Atem, der Regen hat viel Wasser, und die Nacht ist lang.“ (S. 75)
Der einzige natürliche Reichtum Irlands sind seine Torfvorkommen. So reich ist das Land daran, dass viele Iren ihre eigene Torfgrube besitzen, die sie an freien Tagen mit dem Spaten in der Hand aufsuchen. Der viele Torf, der in Stapeln manchmal sogar die Häuserdächer überragt, sichert das unentbehrliche Kaminfeuer. Die Zeit vom Nachmittag bis Mitternacht, die man am Feuer verbringt, vergeht schnell. Ein einziges Zündholz reicht, und der Haufen aus altem, getrocknetem Strandgut lodert auf. Die um das Feuer sitzen, sprechen leise. Wer hier schreien würde, würde sich lächerlich machen.
„Seufzend, in der heimlichen Hoffnung, dass eine Stunde vergangen sein möge, blickt die junge Frau auf die Uhr: Aber es ist erst eine halbe Stunde vergangen (…)“ (S. 85)
Die Gesetze, die in Irland den Ausschank von Alkohol regulieren, sind kompliziert. Die Iren können sich ihrem Durst nicht immer hingeben, um 22 Uhr ist werktags Schluss. Dem Einfluss der katholischen Kirche ist es zu verdanken, dass auch sonntags zwischen 14 und 18 Uhr sowie ab 20 Uhr nicht getrunken werden darf. Da es Ausnahmen für Reisende gibt, kann es an einem Sonntagnachmittag gut vorkommen, dass zwei durstige Männer aus benachbarten Dörfern sich auf den Weg in das je andere Dorf machen, um dort ihren Durst zu stillen. Für ein Bier, einen Whiskey lohnt sich der weite Weg aber nicht und so trinken sie noch ein paar mehr. So werden durstige Männer, die es vielleicht gar nicht vorhatten, zu Säufern. Aber das Gesetz ist erfüllt.
„Sechs Meilen hin, sechs Meilen zurück – zwölf Meilen, mehr als achtzehn Kilometer für ein Glas Bier, und außerdem geht es noch ein Stück bergauf.“ (S. 101)
Die 17-jährige Siobhan ist das älteste Kind von Mrs. D. Sie hat Glück, sie wird das örtliche Postamt übernehmen. Ihre Zukunft scheint damit, soweit man es voraussagen kann, sicher. Anders die Zukunft ihrer acht Geschwister. In dem Ort, wo sie leben, gibt es nicht genug Arbeit. Fünf oder sechs der Geschwister werden auswandern müssen. So gesellen sie sich den 40 000 hinzu, die jedes Jahr das Land verlassen. An irischen Bahnhöfen und Bushaltestellen kann man Zeuge dieser vielen schmerzhaften Abschiede werden. Aber noch ist die Zeit der Abschiede für die Familie D. nicht gekommen und die Gegenwart zählt hier mehr als die Zukunft.
Zwei Ausflüge
Böll begleitet seinen Freund George bei einem Filmdreh auf einer kleinen Insel im Shannon. George will dort eine kurze Szene drehen, die ein paar Tage später im amerikanischen Fernsehen gezeigt werden soll – eine Art filmische Postkarte für ausgewanderte Iren. Der auserwählte Statist ist ein uralter Mann, der Pfeife rauchend vor einer Ruine in der Abendsonne sitzen soll. Im Gespräch mit diesem Greis über den vergangenen Krieg kommt es zu einem Missverständnis, das Böll erst kurz vor der Abreise begreift: Der Greis wird ihn nun irrtümlich für einen Kriegshelden halten. Bölls Versuche, noch vom ablegenden Boot rufend den Irrtum zu korrigieren, scheitern.
„(…) die Gegenwart hat hier mehr Gewicht als die Zukunft; doch dieses Übergewicht (…) wird mit Tränen aufgewogen.“ (S. 112)
An einem besonders regnerischen Tag fährt Böll mit dem Zug nach Sligo. Im Abteil belauscht Böll das Gespräch zwischen einem jungen Priester und einer jungen Frau. Die Frau ist nach Kalifornien ausgewandert und nur zu Besuch in Irland. Sie drückt die Entfremdung von ihrer Heimat aus: Der viele Regen mache ihr Angst, Irland komme ihr traurig vor. Auf die Beruhigungsversuche des Priesters geht sie nicht ein. In Sligo angekommen, sucht Böll sich ein Taxi und lässt sich zum Grab von Yeats kutschieren. Frierend steht er einen Moment davor, lässt sich dann gleich zum Bahnhof zurückfahren. Das berühmte Schlachtfeld des Ortes will er nicht sehen.
Redensarten
Wenn in Deutschland jemandem ein Unglück zustößt, ob klein oder groß, heißt es: „Schlimmer hätte es nicht kommen können.“ Die Iren sehen es genau andersherum, sie sagen in solchen Fällen: „It could be worse“ – und bezeugen damit ihre Fantasie: Denn es hätte ja tatsächlich immer schlimmer kommen können, statt des Beins hätte man sich auch den Hals brechen können. Diese Redensart ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie hart dieses Volk vom Schicksal gebeutelt wurde. Doch wo Humor und Fantasie bei den Deutschen im Unglück schnell versagen, werden sie bei den Iren gerade dann geweckt.
Abschied
In der Nacht vor der Abreise aus Irland kehren die jüngsten Erlebnisse mit Macht in den Träumen des Ehepaares Böll zurück: Das riesige Inventar des Nationalmuseums schwimmt als Treibgut im Fluss Liffey umher und eine rauschende Fahrt führt sie noch einmal durch die Landschaften des Westens. Die Wirtin, die sie dann am Morgen weckt, bietet ihnen noch ihr Haus zum Verkauf, doch sie lehnen ab. Der letzte Tag in Dublin ist schön, der Abschied fällt schwer. Während Böll den Taxifahrer bezahlt, der die Familie schließlich zum Bahnhof kutschiert, bemerkt er eine junge Frau, die ihm aus dem Fenster eines schwarzen Hauses zulächelt. Er lächelt zurück.
Zum Text
Aufbau und Stil
Bölls Irisches Tagebuch besteht aus 18 Prosaminiaturen, die sich stilistisch auf vielfältige Weise voneinander unterscheiden. Gerahmt sind sie von den zwei ersten Kapiteln, die Bölls Ankunft in Irland, sowie vom letzten Kapitel, das das Ende des Aufenthalts beschreibt. Ein chronologischer Zusammenhang des Ganzen lässt sich zwar nicht erkennen, trotzdem wird die Zusammengehörigkeit aller Teile durch das wiederholte Auftauchen einzelner bildhafter Motive in den verschiedenen Kapiteln spürbar. Während in der ersten Hälfte des Buches Reisebeschreibungen und -erlebnisse Bölls dominieren, finden sich in der zweiten Hälfte einige Kapitel, in denen Böll als erlebende Figur gar nicht mehr oder nur ganz am Rande auftaucht. Die Grenzen zwischen dokumentarischem Material und Fiktion werden dadurch unscharf. Für das gesamte Buch ist die hohe Bedeutung, die Böll den sinnlichen Wahrnehmungen beimisst, kennzeichnend. Schon der Anfangssatz verdeutlicht diesen Anspruch: „Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, dass ich eine Grenze überschritten hatte (...)“. In vielen der Miniaturen verschachtelt Böll virtuos Reiseerlebnisse mit theoretischen Überlegungen. So vermeidet er den Eindruck, es ginge ihm nur um eine faktische Wiedergabe von Realität. Vielmehr lässt er den Leser an den Prozessen eines Bewusstseins teilhaben, das Realität mit dichterischen Mitteln zu durchdringen und zu begreifen versucht.
Interpretationsansätze
- Heinrich Bölls Irisches Tagebuch ist ein heimliches Buch über Deutschland. Die gelebte Humanität, der Böll im irischen Alltag begegnet, betrachtet er immer auch im Spiegel seiner Erfahrungen aus der Zeit des Faschismus. Wie die irische Mentalität sich von der deutschen unterscheidet, ist angesichts von Wiederaufbau und -bewaffnung Deutschlands für den Antimilitaristen Böll eine drängende Frage.
- Eine Auseinandersetzung mit dem Katholizismus durchzieht das Irische Tagebuch. Bölls Sympathie für die zutiefst religiösen Iren steht dabei in Spannung zu seiner kritischen Haltung gegenüber kirchlicher Macht. Der Autor behandelt das Thema jedoch vor allem indirekt und bildhaft – etwa wo er beschreibt, wie leer und düster eine Stadt wirkt, deren Einwohnerschaft sich gerade en bloc in der Morgenmesse befindet.
- Die Industrialisierung war damals in Irland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern viel weniger fortgeschritten. Die Reise nach Irland bedeutete für Böll darum auch die Reise in eine andere Zeit. Die technische und wirtschaftliche Rückständigkeit geht mit einem anderen Zeiterleben einher, das Böll nicht nur in vielen Variationen beschreibt, sondern das sich auch in dem meditativen Charakter der Miniaturen selbst ausdrückt.
- Böll bewunderte die Klassenlosigkeit der irischen Gesellschaft, die mit der Rückständigkeit einherging. Seine Bewunderung ist auch als Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber der Konsumgesellschaft zu verstehen, wie sie derweil in Deutschland entstand.
- Der Besuch der Gräber von Jonathan Swift und William Butler Yeats, jener berühmten irischen Dichter, ist eine literarische Standortbestimmung Bölls. Beiden Autoren fühlte er sich, trotz ihrer Gegensätzlichkeit, nahe. An Swift schätzte er den scharfsinnigen, aufklärerischen Blick, an Yeats die mystische Kraft der Sprache. Ihre Einflüsse auf Böll sind im Irischen Tagebuch spürbar.
Historischer Hintergrund
Euphorie und Skepsis – die BRD der 1950er-Jahre
Als im August 1955 der millionste VW Käfer verkauft war, hatte Wirtschaftsminister Ludwig Erhard Grund zur Freude: Sein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, die soziale Marktwirtschaft, hatte offenbar Früchte getragen. Das Wort „Wirtschaftswunder“ hörte Erhard nicht gern: Was durch harte Arbeit, Entbehrungen und geschickte Planung erreicht worden sei, könne man kaum als Wunder bezeichnen. Wobei die gut 5 Milliarden Mark Anschubfinanzierung durch den amerikanischen Marshallplan sicher auch keine unwesentliche Rolle gespielt haben dürften. Bundeskanzler Konrad Adenauer zeigte sich erkenntlich und betrieb die Integration der BRD in das westliche Bündnis mit aller Kraft.
Die Euphorie im Gefolge des wirtschaftlichen Aufschwungs und der neuen Konsummöglichkeiten teilten nicht alle Deutschen. Intellektuelle und ehemals Verfolgte wie Ilse Aichinger oder Paul Celan legten den Finger in die Wunde und prangerten ideologische und personelle Kontinuitäten in Politik und Kultur an. Verschärft wurde diese Spaltung zwischen kritischer Intelligenz und der breiten Bevölkerung noch durch die Wiederbewaffnung 1955 und das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands ein Jahr später. Die Skepsis gegenüber der geschichtsvergessenen Eintracht drückt sich in vielen Kunstwerken der Zeit aus.
Entstehung
Nach dem Krieg hatte sich Heinrich Böll beharrlich und allen finanziellen Widrigkeiten zum Trotz eine Existenz als Schriftsteller aufgebaut. Als er 1953 den Deutschen Kritikerpreis für seinen zweiten Roman Und sagte kein einziges Wort erhielt, folgte damit endlich auch der erste große Erfolg. Seine neu gewonnene Bekanntheit nutzte Böll, um sich mit kritischen Einwänden und Schriften in das politische Geschehen einzumischen. Als er im Oktober 1954 das erste Mal nach Irland reiste, um in Ruhe an der Erzählung Das Brot der frühen Jahre zu arbeiten, war Böll schon eine umstrittene öffentliche Figur.
Einen Monat lang hielt er sich in Dublin und dessen näherer Umgebung auf. Wie sehr er dem Land vom ersten Moment an verfallen war, bezeugt der erste Brief, den er von dort aus an seine Frau Annemarie Böll schrieb: „Mein liebes Herz, es ist so schön hier, dass ich sehr traurig bin, Euch nicht hier zu haben: Seen, Berge, Wolken und jene unbeschreiblichen, stets wechselnden Lichter, die ich noch nie gesehen habe.“ Die nächste Reise, gleich im folgenden Jahr, führte ihn dann gemeinsam mit seiner Familie nach Achill Island. Die Erkundung dieser Insel prägte das Bild, das Böll von Irland hatte, – und damit auch die Entstehung des Irischen Tagebuchs – entscheidend.
Von seinem ersten Aufenthalt an verfasste Böll Reisebeschreibungen, die ab Ende 1954 regelmäßig in der FAZ erschienen. Daraus ein Buch zu machen, hatte Böll ursprünglich nicht geplant. Karl Korn, Mitgründer der Zeitung und ein Freund Bölls, regte ihn zu dieser Idee an. Im Sommer 1956, bei seinem dritten Aufenthalt in Irland, verwirklichte Böll sie.
Wirkungsgeschichte
Als das Irische Tagebuch 1957 erschien, waren die Kritiker fast durchgehend begeistert. Allerdings musste Böll feststellen, dass so mancher seine Intentionen gründlich missverstanden hatte. „Es riecht nicht mehr nach Waschküche und billigem Tabak“, schrieb einer, was im Klartext hieß, dass ihm Bölls bisherige Texte zu politisch waren – und er wiederum den politischen Gehalt des Irischen Tagebuchs nicht begriff. Doch es gab auch andere Stimmen, Alfred Andersch zum Beispiel, der schrieb: „Dieses kleine Meisterwerk einer durch und durch humanen Schreibweise versetzt seine Leser in ein Land der Armut, der Anarchie, des Katholizismus und des Humors, mit anderen Worten in eine Böll’sche Utopie.“
Das Irische Tagebuch wurde zwar nicht direkt zum Best-, dafür aber zum Longseller. Es war der erste Titel des 1960 gegründeten Deutschen Taschenbuchverlages, trägt seitdem die Ziffer „1“ im Gesamtkatalog des Verlags und ist seit 1960 ununterbrochen lieferbar. Bis 1991 wurden 1 Million Exemplare verkauft. Wie kein anderes Buch hat Bölls Miniaturenzyklus die Vorstellung der Deutschen von der irischen Mentalität und der landschaftlichen Schönheit des Landes geprägt.
Das Haus auf Achill Island, in dem Böll das Irische Tagebuch großteils schrieb und das er Ende der 1950er-Jahre auch erwarb, wurde in den 90er-Jahren zu einer Künstlerresidenz umfunktioniert. In Masterson’s Bar am Strand von Dugort, einem kleinen Ort auf Achill Island, hängt seit 1985 – in Plastik geschweißt – ein Nachruf auf Heinrich Böll von einer lokalen Zeitung. Der Titel des Nachrufs: „The loyal German anarchist“.
Über den Autor
Heinrich Böll wird am 21. Dezember 1917 in Köln geboren, wo er erst die katholische Volksschule und anschließend das staatliche Gymnasium besucht. Er beginnt eine Ausbildung zum Buchhändler, wird dann jedoch für ein Jahr zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Kurz nach Aufnahme eines Studiums der Germanistik und der klassischen Philologie wird er 1939 in die Wehrmacht einberufen. Im Krieg wird er mehrfach verwundet. Ab 1944 manipuliert Böll seine Krankheits- und Urlaubsscheine, um nicht mehr an die Front zu müssen. 1945 gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung nimmt er die literarische Arbeit wieder auf und kann 1947 eine erste Erzählung im Rheinischen Merkur veröffentlichen. Buchpublikationen und Rundfunksendungen folgen. In vielen Texten setzt sich Böll mit der NS-Vergangenheit und den gesellschaftlichen Verhältnissen im Deutschland der Nachkriegszeit auseinander. 1951 erhält er den Literaturpreis der Gruppe 47. Bölls kritische Haltung gegenüber der katholischen Kirche in Deutschland schlägt sich in seinem Roman Ansichten eines Clowns nieder, der 1963 erscheint. Ab 1964 hält Böll Vorlesungen an der Goethe-Universität Frankfurt, 1971 wird er zum Vorsitzenden des P.E.N.-Clubs, der internationalen Schriftstellervereinigung, gewählt. 1972, nachdem im Spiegel sein Artikel Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? publiziert wurde, in dem er sich für einen fairen Prozess für Ulrike Meinhof einsetzte, wird Böll als RAF-freundlicher „Ziehvater des Terrorismus“ öffentlich verunglimpft. Im selben Jahr erhält er den Literaturnobelpreis. 1974 erscheint sein Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum, eines seiner bekanntesten Werke. 1976 tritt er aus der katholischen Kirche aus. In den folgenden Jahren engagiert er sich in der Friedensbewegung. Heinrich Böll stirbt am 16. Juli 1985 in seinem Haus in Langenbroich. An seiner Beerdigung nehmen viele Prominente teil, unter anderem der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
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