Friedrich Nietzsche
Jenseits von Gut und Böse
Insel Verlag, 1984
Was ist drin?
Freie Menschen geben sich ihre Regeln selbst: das berühmte Plädoyer für ein Denken jenseits der traditionellen Kategorien.
- Philosophie
- Moderne
Worum es geht
Herrenmoral und Sklavenmoral
Jenseits von Gut und Böse – diese Wendung klingt für uns automatisch unmoralisch. Muss man nicht das Gute wollen und das Böse verabscheuen? Nietzsche sieht das ein wenig anders. Für ihn sind solche moralischen Gegensätze Erfindungen der Schwachen, um sich gegen die Willkür der Starken zu schützen. In seinem berühmten Werk analysiert er den Unterschied zwischen der Moral der Sklaven (Menschen, die in irgendeiner Weise von anderen abhängig sind und sich durch eine allgemein verbindliche Moral zu schützen suchen) und der Moral der Herren (Menschen, die sich ihre Wertmaßstäbe selbst setzen). Nietzsche propagiert den „Willen zur Macht“ des vornehmen, aristokratischen Menschen, der sein eigenes Potenzial optimal entfalten will. Ein Freibrief für völlig prinzipienloses Handeln ist das freilich nicht: Wer gemäß einer höheren Moral handeln will, so Nietzsche, muss vor allem sich selbst im Griff haben. Nur so kann er tun, was den Menschen weiterbringt. Jenseits von Gut und Böse ist brillant geschrieben und eines der wichtigsten, manche meinen auch: der gefährlichsten Werke Nietzsches.
Take-aways
- Jenseits von Gut und Böse ist eines der einflussreichsten Werke Friedrich Nietzsches.
- Inhalt: Die traditionelle „Sklavenmoral“ in Europa, die hauptsächlich auf platonisch-christliche Einflüsse zurückzuführen ist, steht im Widerspruch zu der von aristokratischer Gesinnung geprägten „Herrenmoral“, nach der der vornehme Mensch zum Gesetzgeber seiner selbst wird und unabhängig nach seinen eigenen Wert- und Pflichtvorstellungen lebt und urteilt. Es gibt keine Wahrheit an sich; wahr ist, was dem Leben dient.
- Das Buch ist eine lose Verknüpfung von Mini-Essays und Aphorismen.
- Nietzsches betont elitäre Philosophie ist ein Angriff auf das Christentum ebenso wie auf demokratische und sozialistische Bestrebungen.
- Die antichristliche Haltung und die elitäre Einstellung haben ihre Wurzeln in Nietzsches Kindheit und Schulzeit.
- Das vorwiegend kritisierende Jenseits von Gut und Böse ist ein Gegenstück zur positiven Lehre in Also sprach Zarathustra.
- Nietzsches egoistische Moral lässt sich auch als grundsätzlich amoralisch kritisieren.
- Eine Mitschuld an den Verbrechen der Nazis kann man Nietzsche nicht geben. Er wandte sich selbst dezidiert gegen dumpfen Patriotismus und warnte vor Populisten.
- Jenseits von Gut und Böse wurde zu Nietzsches Lebzeiten kaum beachtet, beeinflusste aber später viele Schriftsteller, Künstler und Denker. Der Titel wurde sprichwörtlich.
- Zitat: „Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“
Zusammenfassung
Wahr ist, was das Leben fördert
Die Zeit der philosophischen Dogmatiker, die glauben, ein in sich zusammenhängendes und wahres Gedankengebäude entworfen zu haben, geht zu Ende. Es gibt keine absolute Wahrheit, auch wenn der Platonismus, der in dieser Hinsicht das Christentum stark beeinflusste, davon ausgeht. Statt beantworten zu wollen, was Wahrheit ist, müssen wir uns die Frage stellen: Wozu streben wir überhaupt irgendeine Wahrheit an? Letztendlich geht es ja nur darum, das zu wissen und zu glauben, was unser Leben weiterbringt. Manchmal lebt es sich besser mit Illusionen.
„Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? Ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden?“ (S. 9)
Die Wahrheitssucher lieben Gegensätze. Sie stellen angebliche Wahrheiten Irrtümern entgegen und konstruieren gegensätzliche Wertepaare. Lebensfördernd sind aber oft gerade diejenigen Werte, die von ihnen als negativ eingestuft werden. Im Grunde gibt es nur moralische Interpretationen und keine so genannten Wahrheiten.
Wahrheiten sind Vorurteile
Philosophen halten ihre Methode in der Regel für objektiv und logisch. Sie gehen von bestimmten Werten und Wahrheiten aus und errichten darauf komplexe Gedankengebäude. Tatsächlich beruhen ihre Urteile aber nur auf eigenen Instinkten und auf Vorurteilen. Je nachdem, welchem ihrer menschlichen Triebe sie bei sich selbst die Vorherrschaft einräumen, entwickeln sie dann die Philosophie, die der Tendenz dieses Triebs entspricht. Sie verwandeln also ihre persönliche, von ihren Vorlieben geprägte Weltsicht in angeblich absolute Wahrheiten. Bei näherer Überprüfung erweisen sich diese Konstrukte als weitgehend subjektiv.
„Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“ (S. 15)
Zudem werden unsere philosophischen Begriffe mehr von der Struktur unserer Grammatik geprägt als von der Realität. So kommt es, dass die verschiedenen indogermanischen Sprachen zu ähnlichen philosophischen Systemen geführt haben, während Kulturen mit ganz anderen Sprachstrukturen auch zu ganz anderen Schlüssen gelangt sind. Den Wissenschaftlern ergeht es nicht besser. Selbst die Physiker lesen meist nur ihre eigenen Sichtweisen in die Welt hinein.
Die freien Geister
Das Leben ist kompliziert, seine tief greifende Erforschung stellt den Denker vor große Herausforderungen und setzt ihn intellektuellen Gefahren aus. Die Menschheit hat es sich bisher aber leicht gemacht. Alles Philosophieren blieb oberflächlich, denn man wollte nicht wirklich die Wahrheit wissen, sondern nur eine vereinfachte Weltsicht erlangen, die ein unkompliziertes, bequemes Leben ermöglichte. Von einer solchen Basis aus agieren auch die heutigen angeblichen Freidenker mit ihren „modernen Ideen“. Alle Schuld an den Zuständen der Gegenwart schieben sie der Vergangenheit zu und propagieren ein allgemeines Glück für die menschliche Schafherde. Sie verkünden die Gleichheit der Rechte für alle und das Mitgefühl mit allem Leidenden. Gleichzeitig erliegen sie leicht Lockmitteln wie Ämtern, Ehren oder finanziellen Vorteilen.
„Unsere höchsten Einsichten müssen – und sollen! – wie Torheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubterweise denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind.“ (S. 41)
Die wahren freien Geister sind anders. Sie machen sich von den oberflächlichen Verharmlosungen der menschlichen Existenz frei. Ihnen ist bewusst, dass gerade das Erleben von Leiden und Druck, von Härte, Gewalt und Gefahren den Menschen zu seiner größten Stärke aufblühen lässt. Ihr Denken ist jenseits von Gut und Böse – solche naiven Gegensätze lehnen sie ab. Stattdessen haben sie den Mut, sich völlig von den üblichen Vereinfachungen und Vorurteilen zu befreien und sich in ihrer Suche dorthin treiben zu lassen, wo immer die für sie relevante Wahrheit liegen mag.
Die Bedeutung der Religion
Die wichtigste Aufgabe der Erkenntnissuche ist das Ausloten der menschlichen Seele und ihrer Grenzen. Die herkömmliche Psychologie ist dieser Aufgabe nicht gewachsen, weil sie sich in den Dienst der Moral gestellt hat und so z. B. das Wesen der „religiösen Neurose“ nicht erfassen kann. Die echte Wahrheitssuche muss jenseits von Gut und Böse, jenseits von Begriffen wie „Gott“ oder „Sünde“ erfolgen.
„Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, dass Wahrheit mehr wert ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt gibt.“ (S. 46)
Die Religion kann für drei unterschiedliche Menschengruppen positive Effekte haben: für die Starken, die sie als Herrschaftsinstrument einsetzen (in milderer Form die Herrschaft über Jünger oder Ordensbrüder); für diejenigen unter den Beherrschten, die das Potenzial haben, selbst einmal Herrschende zu werden, indem sie ihnen Regeln und die Selbstdisziplin vermittelt, die sie für ihren Aufstieg brauchen; und für die Schwachen und Unterdrückten, denen sie ihre Lage erträglicher macht und ihnen Würde verleiht. Gefährlich ist Religion dann, wenn sie zum Selbstzweck wird. Gerade das Christentum – aber auch der Buddhismus – hat die Schwachen gestärkt und die Starken geschwächt. Das hat dazu geführt, dass der moderne Europäer meist nur ein mittelmäßiges Herdentier ist.
Die Geschichte der Moral
Alle Moralphilosophen waren bisher in dem von ihren eigenen Umständen geprägten Denken gefangen. Ihre Umgebung, ihr gesellschaftlicher Stand oder der allgemeine Zeitgeist bestimmten von vornherein ihren Wertekatalog. So nahmen sie eine bestimmte Moral als gegeben hin und all ihre Argumente zielten nur darauf ab, diese zu beweisen. Oft hatten sie nicht einmal das geschichtliche oder kulturelle Wissen, um zu erkennen, dass viele verschiedene moralische Prinzipien möglich, denkbar und sogar erstrebenswert sind. Eine solche Einschränkung der Perspektive ist aber nicht unbedingt falsch. Es scheint ein Naturprinzip zu sein, dass der Mensch, ob im Leben oder in der Kunst, bestimmte Regeln braucht, um seine Stärken entfalten zu können. Was diese Regeln konkret sind, ist weniger wichtig, als dass sie über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg eingehalten werden.
„Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes, zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung.“ (S. 57)
In der europäischen Geschichte lässt sich eine problematische Entwicklung der Moralvorstellungen nachweisen. Vor der modernen Zeit, als es noch darum ging, dass sich Stämme, Völker, Staaten und Kirchen in Europa gegen äußere Feinde schützen mussten, waren Eigenschaften wie Führungsstärke geschätzt. Der Schutz des Gemeinwohls galt als höchste moralische Anforderung, und Machtausübung zu diesem Zweck wurde nicht als unmoralisch verurteilt. Trotzdem wurden die Führenden bald den Herdeninstinkten der Mehrheit ausgesetzt und bekamen selbst ein schlechtes Gewissen, wenn sie gegen die Moral der Herde verstießen.
„Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen ...“ (S. 78)
Nachdem nun nach außen hin weitgehend Sicherheit eingetreten ist, erhebt die Herdenmoral nur noch einen Anspruch: Es sollen Zustände herrschen, unter denen man den Nächsten nicht mehr fürchten muss. Das geht so weit, dass man selbst die Bestrafung von Verbrechern ungern sieht – es würde ja genügen, diese Menschen einfach nur ungefährlich zu machen. Gleichzeitig wird die Herdenmoral zur einzig wahren Moral erklärt. Die Machtverhältnisse sollen demokratisiert werden, es soll keine Eliten mehr geben und unter den Menschen sollen Brüderlichkeit und Gleichheit herrschen.
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (S. 82)
Die neuen Philosophen und wirklich freien Geister wissen, dass diese Entwicklung den Menschen in seinen Möglichkeiten einschränkt. Im Grunde wird er dadurch auf die Stufe eines Tieres reduziert, das nur in der Herde angenehm leben kann. Stattdessen muss es aber darum gehen, den Menschen in seiner Höherentwicklung gezielt zu fördern.
Wissenschaftler und Arbeiterphilosophen
Zwischen der Wissenschaft und der Philosophie hat eine ungerechtfertigte Rangverschiebung stattgefunden. Die Wissenschaftler und Gelehrten versuchen sich von der Philosophie als übergeordnetem Weg zur Erkenntnisfindung loszulösen. Die Philosophie wird immer geringer geschätzt. Aber so achtenswert der Beitrag der Wissenschaftler zur Erkenntnisgewinnung auch sein mag, sie sind doch nur Zuträger und Informationslieferanten für die wahren Philosophen der Zukunft. Ebensolche Werkzeuge für die wahren Philosophen sind „philosophische Arbeiter“ wie Hegel oder Kant, die sich nur mit den gegebenen Wertschöpfungen, den temporären Wahrheiten befassen und diese einordnen und interpretieren. Der wahre Philosoph bedient sich dieser Denker, die von den gegenwärtigen Werturteilen versklavt sind, als Informationsquellen. Darüber hinaus hat er als Philosoph der Zukunft aber auch den Mut und den Willen, die gegenwärtige beschränkte Weltsicht zu überwinden und neue Wertmaßstäbe zu setzen.
Die Tugenden der neuen Philosophen
Auch die neuen, wahrhaft freien Geister haben ihre Tugenden, doch diese entsprechen nicht den naiven traditionellen Vorstellungen. Der durchschnittliche Mensch will gar keine echte Tugend, sondern nur äußere Maßstäbe, die er allen anderen aufzwingen kann. Es ist im Grunde unmoralisch, die Rangordnung der Moralen nicht anzuerkennen. Menschen mit höherem Potenzial und damit höheren Aufgaben müssen auch einer höheren Moral folgen. Für sie sind Lust und Leid nur oberflächliche Kriterien; worauf es wirklich ankommt, ist das, was eine Höherentwicklung des Menschen fördert. Mitleid sollte darum auch nicht dem leidenden Menschen gelten (denn er wächst an seinen Leiden), sondern dem Menschen, der zu bequem und unfähig zu einer Weiterentwicklung ist.
„Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral – also nur, wie wir die Dinge verstehn, eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten.“ (S. 105)
Die Emanzipationsbestrebungen der Frauen führen lediglich zu einem Verlust an Weiblichkeit. Sie werden dadurch ihrer besten Werkzeuge zur Einflussnahme beraubt. Gleichzeitig leidet ihre Willenskraft. Entsprechend haben bereits die Männer ihre Männlichkeit und Willenskraft verloren. Dabei sind Frauen in ihrer willensstarken Weiblichkeit durchaus in der Lage, Macht auf Männer auszuüben, wie etwa die Mutter von Napoleon bewiesen hat.
Patriotismus
Die patriotischen Exzesse unserer Zeit sind Rückfälle in primitive Denkweisen. Staatsmänner, die diese Gefühlsaufwallungen für ihre eigenen Zwecke ausnutzen, führen ihre Völker in eine Zukunft, in der diese einem stärkeren Volk dienen und für ihre fehlerhaften Ansichten büßen müssen. Die größten Geister Europas, etwa Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal oder Wagner, haben durch ihr Schaffen die Richtung angezeigt, in die Europa sich entwickeln wird: Es ist dazu bestimmt, sich zu vereinen.
„Ihr ,Erkennen‘ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht. – Gibt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben?“ (S. 124)
Was das jüdische Volk anbelangt, so waren die Deutschen ihm noch nie gewogen. Die Juden sind aber die stärkste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt. Man sollte daher ihrem Wunsch, in Europa eine Heimat zu finden, entgegenkommen und falls nötig lautstarke Antisemiten des Landes verweisen.
Sklavenmoral und Herrenmoral
Die gegenwärtigen Moralvorstellungen sind das Produkt einer Sklavenmoral. Das Gerede von Selbstlosigkeit und Mitgefühl und das Streben nach Demokratie entspringen der Angst der Schwachen vor den Starken. Eine solche Moral ist nichts als ein Selbstschutzbestreben der Mittelmäßigen.
„Die Demokratisierung Europas ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigen.“ (S. 157)
Der vornehme Mensch dagegen ist sich selbst das Gesetz. Er legt die Werte, die für ihn gelten, selbst fest. Das schließt durchaus Pflichten mit ein, es sind aber immer seine persönlichen Pflichten, nicht etwas, was er verallgemeinern und damit auch banalisieren würde. Der vornehme, aristokratische Mensch ist völlig egoistisch. „Was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich“, so lautet sein Motto. Seine Tugenden sind Mut und Einsicht sowie Einsamkeit, weil er sich mit den Massen nicht solidarisieren will. Auch er kennt Mitgefühl, das aber auf einem tiefen Verständnis der menschlichen Psyche fußt. Sein Mitgefühl ist mehr wert als das der anderen, weil er die Macht hat, es wirkungsvoll einzusetzen.
„Jede Erhöhung des Typus ,Mensch‘ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft – und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Wertverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgendeinem Sinne nötig hat.“ (S. 177)
Der vornehme Mensch verwirklicht den natürlichen Willen zur Macht, der sich vor allem als Macht über sich selbst äußert: Er praktiziert Selbstüberwindung. Aus dieser Position heraus lehnt er die Gegensätze der Sklavenmoral, die Handlungen in Gut und Böse unterteilt, ab. Wenn er überhaupt Unterscheidungen trifft, dann nur zwischen vornehm und verachtenswert. Seine Moral ist eine höhere Moral – eine Moral jenseits von Gut und Böse.
Zum Text
Aufbau und Stil
Jenseits von Gut und Böse besteht aus einer Vorrede und neun „Hauptstücken“ oder Kapiteln, in denen Nietzsche in insgesamt 296 Abschnitten seine oft sprunghaften philosophischen Gedanken darlegt. Abgerundet wird das Ganze von einem gedichteten Nachgesang in 15 Versen. Die Titel der Hauptstücke stehen nicht immer in klarem Zusammenhang mit den Themen der einzelnen Abschnitte. Jeder Abschnitt präsentiert eigene Gedankengänge, die manchmal auseinander hervorgehen, gelegentlich aber auch widersprüchlich sind. Das vierte Hauptstück besteht aus kurzen Aphorismen zu einer breiten Auswahl von Themen. Nietzsche zieht alle sprachlichen Register, sein Stil ist immer kraftvoll, oft bilderreich, gerne auch polemisch. Das garantiert eine erfrischend unterhaltsame Lektüre; die verschachtelte, stringente, aber trockene Argumentationsweise, wie man sie von vielen Philosophen kennt, ist nicht Nietzsches Sache. Vielmehr kommt seine Philosophie sehr aphoristisch und dichterisch daher. Der Nachteil: Wer Nietzsches Gedankengänge zu den verschiedenen Themen verfolgen und zu einem Gesamtbild gelangen will, muss in den unterschiedlichsten Abschnitten seines Werks suchen.
Interpretationsansätze
- Mit dem zum geflügelten Wort gewordenen Buchtitel Jenseits von Gut und Böse meint Nietzsche nicht eine unmoralische Lebensweise, sondern ein Leben aufgrund einer höheren Moral, die sich nicht mit simplen Unterscheidungen wie jener zwischen Gut und Böse begnügt. Dass diese höhere Moral allerdings ganz und gar egoistisch ist („jeder Stern ist ein Egoist“), könnte man als grundsätzlich amoralisch kritisieren.
- Nietzsches Philosophie ist ein Angriff auf Christentum und Demokratie: Er stellt die elitäre Herrenmoral der konventionellen, von platonisch-christlichen Werten geprägten Sklavenmoral gegenüber, deren Hauptfunktion er darin sieht, die Starken und wirklich freien Geister in ihrer Höherentwicklung zu hindern und alle in gleicher Mittelmäßigkeit gefangen zu halten.
- Nietzsche geizt nicht mit Zeitkritik; er stößt sich an der positivistischen Wissenschaft ebenso wie an der Frauenemanzipation. Jenseits von Gut und Böse ist damit das Gegenstück zum vorangegangenen, positiven Verkündungsbuch Also sprach Zarathustra.
- Nietzsche nimmt eine Neubewertung vieler Werte vor. Das Leiden z. B., das die Menschen gewöhnlich zu vermeiden suchen, sieht er als eines der wertvollsten Werkzeuge zur Weiterentwicklung des Menschen. Mitleid hingegen hält er in den meisten Fällen für verlogen.
- Obwohl Jenseits von Gut und Böse zweifellos einen amoralischen Kern hat, lassen sich Nietzsche weder die grobe Vereinfachung noch der Missbrauch seiner Lehren anlasten. Eine Mitschuld an den Verbrechen der Nazis z. B. kann man ihm kaum geben: Nietzsche spricht sich gerade in diesem Werk ausdrücklich gegen blinden Patriotismus und Massenbewegungen aus und warnt davor, dass die demokratische Bewegung einer bestimmten Art von Tyrannen den Aufstieg ermöglichen würde.
Historischer Hintergrund
Europa am Fin de Siècle
Ende des 19. Jahrhunderts blickte Europa auf eine Epoche tief greifender Veränderungen zurück. In der Philosophie hatte das Primat der Rationalität über menschliche Instinkte und Leidenschaften zu einer wissenschaftlichen Methodik geführt, die ungeahnte Fortschritte in Forschung, Technik und Medizin einleitete. Eine Folge davon war die industrielle Revolution. Im gleichen Maß, in dem die menschliche Produktivität erhöht wurde, wuchsen aber auch die sozialen Missstände. Es kam nicht nur zu einem technischen Umbruch, sondern auch zu einem sozialen und politischen.
In Deutschland etwa sah die Reichsverfassung von 1871 zum ersten Mal allgemeine und gleiche Wahlen für den gesetzgebenden Reichstag vor. Die Autorität des deutschen Kaisers wurde beschränkt: Er war zwar das offizielle Staatsoberhaupt und der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und konnte den deutschen Reichskanzler ernennen oder ablösen, der Großteil der Entscheidungsmacht lag aber beim vom Volk gewählten Parlament. Reichskanzler Otto von Bismarck suchte zwar die Monarchie zu stärken, sah sich aber auch gezwungen, der Forderung der Arbeiterbewegung nach einer Sozialgesetzgebung nachzukommen.
Sowohl das liberale Bürgertum, das weitgehend die Mittel der industriellen Produktion kontrollierte, als auch die Arbeiterschaft, der mittlerweile kommunistische und sozialdemokratische Organisationen zur Seite standen, forderten verstärkt Mitspracherechte. Das Resultat war eine zunehmende Auflösung der früher strikten Ständegesellschaft und ein Infragestellen der traditionellen Eliten.
Entstehung
Die Saat für das Gedankengut, das Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse zum Ausdruck brachte, findet sich schon sehr früh in seinem Leben. Nietzsche war gerade einmal vier Jahre alt, als er vergeblich für seinen an einem Gehirntumor sterbenden Vater betete, einen lutherischen Pastor. Seine tiefe Skepsis gegenüber dem Christentum könnte hier ihren Ursprung haben. Später besuchte er die Landesschule Pforta, eine der damals besten sächsischen Schulen, dessen Rektor ein Bildungsideal vertrat, das auf der Förderung von Eliten und der Stärkung des Individuums beruhte.
Bereits vor Jenseits von Gut und Böse setzte Nietzsche sich in seinem Buch Morgenröte kritisch mit den traditionellen Moralvorstellungen seiner Zeit auseinander. Ursprünglich wollte er sein neues Buch als zweiten Band der Morgenröte veröffentlichen. Nietzsche selbst bezeichnetet das 1884/85 verfasste Werk als „ein erschreckliches Buch, sehr schwarz, beinahe Tintenfisch“. Es war aber die natürliche Fortsetzung vieler Gedankengänge, die er schon in seinen ersten Werken angeschnitten hatte. Typisch für Nietzsche war, dass er alte Ideen aufgriff, ihnen aber eine neue Wendung gab und gleichzeitig die Gelegenheit nutzte, seine früheren Vorstellungen und Gedanken auf den Prüfstein zu stellen.
Nietzsche hatte einen langfristigen Plan für das, was er als Philosoph noch verwirklichen wollte. Jenseits von Gut und Böse war für ihn nur ein Schritt hin zu diesem Endziel. Wahrscheinlich weil er sich selbst des relativ losen Zusammenhangs des Werkes bewusst war, legte er 1887 mit der Streitschrift Zur Genealogie der Moral ein stringenteres und zielgerichteteres Werk nach.
Wirkungsgeschichte
Jenseits von Gut und Böse hatte geringfügig bessere Verkaufszahlen als viele andere Werke Nietzsches, deren Druck er meist mit eigenem Geld unterstützte. Erstaunlicherweise blieben aber auch bei diesem Werk sowohl Zu- als auch Widerspruch weitgehend aus. Zu Lebzeiten wurde Nietzsche hauptsächlich ignoriert. Er selbst hatte so etwas erwartet: „Posthume Menschen – ich zum Beispiel – werden schlechter verstanden als zeitgemäße, aber besser gehört. Strenger: Wir werden nie verstanden – und daher unsre Autorität ...“, schrieb er in der Götzen-Dämmerung.
Er sollte Recht behalten: Mittlerweile gilt Nietzsche als entscheidende Inspirationsquelle für die Denker und Dichter der klassischen Moderne ebenso wie für jene der Postmoderne. Sein Einfluss auf die neuere Kunst, Literatur und Philosophie ist einzigartig. Nietzsche war sich seiner langfristigen Wirkung anscheinend durchaus bewusst, denn in Ecce Homo diagnostizierte er: „Ich bin kein Mensch. Ich bin Dynamit.“
Über den Autor
Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protestantismus des Elternhauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem unkonventionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkollegen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopenhauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Freundschaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopenhauer ab. 1879 gibt er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Augenschmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesundheitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusammenbruch: Aus Mitleid mit einem geschlagenen Droschkengaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicherweise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen durch die Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaffensphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigenwillige Autobiografie, die 1908 erscheint.
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