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Kindheitsmuster

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Kindheitsmuster

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Christa Wolfs schonungsloser Rückblick auf ihre Kindheit in der NS-Zeit.


Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Verdrängte Kindheit im Nationalsozialismus

„Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?“ Diese Frage zieht sich als Leitmotiv durch Christa Wolfs autobiografisches Werk Kindheitsmuster. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit unternimmt die Erzählerin 1971 eine Reise in ihre nunmehr in Polen gelegene Heimatstadt. Sogleich steigen Erinnerungen auf: an alltägliches Kindheitsglück; an das in ihrer Familie herrschende Schweigegebot zu bestimmten Themen wie den Nazis oder den Juden; an die ideologische Indoktrination in der Schule und im Bund Deutscher Mädel; an ihre Zeit als BDM-Führerin; an Lüge, Scham und Verstellung. Schonungslos schildert Wolf die Verstrickungen ihres kindlichen Alter Egos Nelly Jordan im Nationalsozialismus, ihre Hingabe an den Führer, dem sie bis zuletzt die Treue hält, und die Flucht ihrer Familie vor der Sowjetarmee in den Westen im Jahr 1945 – in der DDR, wo das Dogma von den Sowjets als Befreier galt, ein Tabu. Indem die Erzählerin den Erinnerungsstrom immer wieder unterbricht und den Blick auf ihre Gegenwart richtet, macht sie den tieferen Sinn ihres Schreibens deutlich: Solange wir uns nicht erinnern und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, wird sich die Geschichte wiederholen.

Take-aways

  • Christa Wolfs Buch Kindheitsmuster zählt zu den wichtigsten Werken der DDR-Literatur über die Zeit des Nationalsozialismus.
  • Inhalt: Im Sommer 1971 reist die Erzählerin in eine Stadt jenseits der Oder, in der sie – bis sie 1945 floh – aufgewachsen war. Sie möchte jenes junge Mädchen verstehen, das sie einmal gewesen ist. Nach und nach steigen Erinnerungen auf an ihre Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, an den Alltag und an eigene Verstrickungen.
  • Das Buch ist eine Mischung aus Tagebuch, Autobiografie und fiktionaler Erzählung.
  • Indem sie ihre Kindheit in der dritten Person schildert, geht die Erzählerin auf Distanz zu ihrem kindlichen Ich.
  • Die Handlung spielt auf drei Zeitebenen, die sich ständig überlagern.
  • Durch die Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart betont Christa Wolf die Tendenz der Geschichte zur Wiederholung.
  • Kindheitsmuster brach mit dem offiziellen Geschichtsbild der DDR von der Unschuld der Masse der Bevölkerung am Nationalsozialismus.
  • Auch Wolfs Schilderung von Flucht und Vertreibung rührten in der DDR an ein Tabu. Die Sowjetarmee galt hier ausschließlich als Befreier.
  • Kindheitsmuster wurde in der DDR von der Kritik zunächst totgeschwiegen.
  • Zitat: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Zusammenfassung

Das vergessene Kind

Im Sommer 1971 begibt sich die Erzählerin auf eine Reise zu den Stätten ihrer Kindheit. Zusammen mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Lutz, ihrem Ehemann H. und ihrer 14-jährigen Tochter Lenka fährt sie in die in Polen gelegene Stadt G., in der sie 1929 geboren wurde und aufgewachsen ist. Damals hieß diese Stadt östlich der Oder, in der sie seit ihrer Flucht 1945 nicht mehr gewesen ist und wo sie heute niemanden mehr kennt, noch L. und gehörte zum Deutschen Reich. Die Erzählerin kann sich nur lückenhaft an diese Zeit erinnern. Das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen ist und das sie rückblickend Nelly Jordan tauft, ist für die Erwachsene nach 40 Jahren unerreichbar. Sie hat es vergessen und verdrängt. Durch die Rückkehr nach L. hofft sie, dieses Kind kennenzulernen und endlich zu verstehen.

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ (S. 11)

Als sie vor ihrem ehemaligen Elternhaus steht, kommen ihr nach und nach Erinnerungen: an Märchenwesen, die Nellys Fantasie bevölkerten; an die Entdeckung ihres Ichs im Alter von drei Jahren; an unterdrückte Mordgedanken gegenüber ihrem neugeborenen Bruder, dem sie – nach alten Fotos zu urteilen – zumindest nach außen eine liebevolle und gewissenhafte ¬große Schwester war; an Streit, erste Lügen und Schuldgefühle. Heute weiß die Erzählerin: Nicht durch Strafen und harte Erziehungsmaßnahmen, sondern durch den Wunsch, geliebt zu werden, ist Nelly zu jenem tapferen, klugen, vernünftigen Kind geworden, wie es sich die Mutter gewünscht hatte. Schon früh erkannte sie, dass Gehorchen und Geliebtwerden dasselbe sind.

Familiengeheimnisse und -ähnlichkeiten

Nellys Eltern, Bruno Jordan und seine Frau Charlotte, hatten in L. einen Kaufmannsladen. Sie arbeiteten hart. Besonders die Mutter wollte unbedingt glücklich sein, und so verschonte Nelly, die als überempfindlich galt, sie mit unerwünschten Gefühlen wie Scham, Traurigkeit oder Einsamkeit. Wie die Eltern die Machtübernahme der Nazis 1933 erlebten, davon bekam die vierjährige Nelly kaum etwas mit. Unter dem allgemeinen Druck wählten sie die NSDAP. Der Vater, der als Soldat im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft geraten war, wusste genau, wie Angst auf Menschen wirken kann. Er hatte nichts übrig für die Nazis, aber als Einzelner gegen die Masse wollte er auch nicht stehen. Nelly selbst erlebte einmal – anlässlich eines angekündigten Besuchs des Führers in L., der dann doch ausfiel – das beängstigende, aber auch erregende Gefühl, sich mit der jubelnden Masse eins zu fühlen.

„Dein Unterfangen ist aussichtslos. Niemals, jedenfalls lebend nicht, kann einer erreichen, was er vielleicht insgeheim anstrebt: die Zeit im gleichen Augenblick durch Beschreibung verewigen, in dem sie schon vergeht: vergangen ist.“ (S. 133)

Was die erwachsene Nelly auf ihrer Kindheitsreise sucht, sind nicht statistische Tatsachen. Sie möchte wissen, was man damals dachte und fühlte. Nicht Zahlen, sondern Tränen und Schweißtropfen interessieren sie. Dass die Menschen dort den Nazis zujubelten, entfremdete sie von ihrer Heimatstadt für lange Zeit; Anflüge von Heimweh hat sie stets unterdrückt. Doch je älter sie wird, desto besser erkennt sie, dass moralischer Rigorismus nichts nutzt. Sie will die Menschen – und vor allem das kleine Mädchen, das in dieser Welt des Verschweigens und der Geheimhaltung aufwuchs – verstehen. Warum etwa hielt sie als Achtjährige die Mitteilung des Dienstmädchens, deren Familie sei kommunistisch, geheim? Weil sie früh gelernt hatte, zu schweigen und sich in sich selbst zurückzuziehen. Weil es in der Welt der Erwachsenen bestimmte Dinge gab – Nazis, Kommunisten, Juden, Behinderung, Sex und Tod –, von denen sie spürte, dass man über sie nicht reden dürfe. Erst stellte sie sich taub und unwissend, dann wurde sie es.

„Es ist der Mensch, der sich erinnert – nicht das Gedächtnis. Der Mensch, der es gelernt hat, sich selber nicht als ein Ich, sondern als ein Du zu nehmen.“ (S. 188)

Eines dieser wohlgehüteten Familiengeheimnisse war das Verhältnis ihrer Tante Lisbeth mit einem jüdischen Arzt, von dem wohl das Kind war, das sie mit ihrem Mann aufzog. Auch dass Charlottes Vater – genannt Schnäuzchen-Opa – es nur zum Fahrkartenknipser bei der Reichsbahn gebracht hatte und wegen ständiger Trunkenheit vorzeitig entlassen worden war, erfuhr Nelly erst spät. Dafür begann sie früh, sich mit einer Mischung aus Lust und Schaudern Gedanken über die wunderbare Zufälligkeit ihrer Existenz zu machen. Hätte Bruno den Krieg nicht überlebt, wäre er an einem bestimmten Abend nicht von einem Freund zu einer Feier mitgenommen worden, er hätte Charlotte nie kennengelernt, und sie, Nelly, wäre nie geboren worden. Erst später begann sie, die Mutter, die sie nur als fleißige Kaufmannsfrau kannte, mit anderen Augen zu sehen: Auch Charlotte hatte einmal Träume, und je älter Nelly wurde, desto mehr Ähnlichkeiten entdeckte sie zwischen sich und ihrer Mutter.

Fantasien und Lügen

Charlotte wollte aus Nelly ein normales, ordentliches, vernünftiges Kind machen. Doch deren Gedankenwelt war beherrscht von fantastischen Gestalten und Märchen. Sie spielte Prinzessin, sah überall Hexen und Ungeheuer, und ein einziges Wort reichte, um ihre lebhafte Fantasie in Gang zu setzen. Einmal belauschte sie ein Gespräch der Erwachsenen über einen angeblich komisch riechenden „Judenbengel“, der von seinen Klassenkameraden verprügelt worden war. Kurz darauf hatte die Sechsjährige ein schockierendes Erlebnis mit einem Exhibitionisten und seiner „weißen Schlange“, über das sie mit den Eltern nicht sprechen konnte. In ihren Gedanken vermischte sich das alles – der Judenjunge, die weiße Schlange, überhaupt Ungeziefer – zu etwas Unreinem, das es zu meiden galt. Obwohl es inzwischen längst Pflicht geworden war, Juden zu hassen, hasste sie die Juden nicht. Blinden Hass gegen unbekannte Menschen konnte Nelly nicht empfinden. Und doch fühlte sie ein gewisses Unbehagen, eine Scheu, ja sogar Angst beim Gedanken an Juden.

„Und das scheint uns leichtzufallen. Überhören, übersehen, vernachlässigen, verleugnen, verlernen, verschwitzen, vergessen.“ (S. 235)

1936 zogen die Jordans in ein neu gebautes Haus am Stadtrand um. Es herrschte Frieden, das Geschäft lief gut. Nelly – inzwischen ein Schulkind – erlebte eine Zeit des Glücks und genoss ihr Leben. In der Schule war sie eine Außenseiterin, die dem geliebten, parteilinientreuen Lehrer Herrn Warsinski durch Sturheit und übertriebene Wahrheitsliebe auffiel. Einerseits war sie stolz auf ihr Anderssein, andererseits wollte sie unbedingt dazugehören. Sie spaltete sich in zwei Personen: Die eine Nelly spielte auf Kindergeburtstagen mit den anderen Kindern Spiele wie „Der Jude hat ein Schwein geschlachtʼ“, die andere Nelly beobachtete sie dabei und durchschaute alles. Erst als Nelly lernte, sich in der Schule zu verstellen, fand sie in der Klasse Anerkennung und auch Freundinnen. Fortan wusste sie: „Wer lügt, siegt“.

Kollektive Verdrängung

Die Lüge beherrschte den Alltag der Deutschen und lebte auch nach dem Zusammenbruch des Naziregimes fort. Hinterher wollte niemand mehr etwas gewusst haben – ein Volk von Schläfern und Ahnungslosen, das auf Kommando alle Inhalte des Lang- und Kurzzeitgedächtnisses löschte und wie aus einem Mund beteuerte, sich an nichts erinnern zu können. Dabei fuhren die Züge zu den Konzentrationslagern an vielen Orten vorbei, qualmten die Öfen, in denen die Leichen ermordeter behinderter Menschen beseitigt wurden, brannten in den Städten die Synagogen. Die Erzählerin fragt sich: Wo haben wir nur gelebt? Und wie kann sie ihrer Tochter Lenka, die sie mit Fragen bedrängt, verständlich machen, dass die Kindheit einfach weiterlief, dass man Sammelbilder tauschte und in Poesiealben schrieb, während ringsherum Menschen verfolgt und ermordet wurden?

„Du stellst dir ein Volk von Schläfern vor, ein Volk, dessen Gehirne träumend den ihnen gegebenen Befehl befolgen: löschen, löschen, löschen.“ (S. 236)

Nelly hatte weder jüdische noch kommunistische Vorfahren oder Verwandte. Ihre Familie war nicht direkt betroffen, und so fiel es ihr leicht, zu übersehen und zu vergessen, was um sie herum passierte. Und doch wussten sie Bescheid. In der Zeitung, die die Eltern täglich lasen, wurde vom Terror gegen Kommunisten berichtet und zum Boykott jüdischer Ärzte und Geschäfte aufgerufen. Im Radio hetzte Joseph Goebbels gegen die Juden. Nellys Onkel Emil Dunst kaufte einem Juden seine Fabrik zum Spottpreis ab, schuldig aber fühlte er sich nie. Ihre Tante Jette war behindert und wurde vergast – auch darüber schwieg man in der Familie. Die Erzählerin ist beunruhigt. Ihre Erinnerungen sind unter einer Geröllmasse verschüttet. Was wird sie entdecken, wenn sie einmal anfängt, zu graben? Ihre Aufgabe ist es, die Zensur, an der sie selbst beteiligt war und die bis heute in ihr fortwirkt, aufzubrechen und schmerzhafte Wahrheiten – auch über sich selbst – zur Sprache zu bringen.

„Dieser fatale Hang der Geschichte zu Wiederholungen, gegen den man sich wappnen muss.“ (S. 266)

1937 beobachtete Nelly heimlich, wie Juden Gegenstände aus der brennenden Synagoge von L. retteten, und empfand bei dem Anblick unerlaubterweise Trauer. Fast verspürte sie sogar Mitleid, aber ihr Verstand verbot es ihr. Als Kind war sie gezwungen worden, natürliches, menschliches Mitgefühl mit Schwachen in Hass und Angst umzumünzen. Längst hatte sie gelernt, ihre wahren Gefühle nicht nur vor anderen Menschen, sondern auch vor sich selbst zu verbergen und zu leugnen. Als 1939 der Krieg ausbrach und ihr 42-jähriger Vater eingezogen wurde, machte die Mutter keinen Hehl mehr aus ihrer Wut auf den Führer und ihrer Trauer ob der Zerstörung all dessen, was sie sich mühsam aufgebaut hatten. Nelly dagegen wurde aufgefordert, die Zähne zusammenzubeißen und ihrer Mutter beizustehen. Für ihre eigene Wut und Trauer war kein Platz.

Liebe, Scham und Selbstzweifel

Je älter das Kind Nelly wurde, desto weniger verstand die Erwachsene sie und schämte sich ihrer sogar: Gegen den Willen ihrer Mutter schloss Nelly sich dem Jungmädelbund an. Hier erfuhr sie Anerkennung und Kameradschaft, etwas, das ihre Mutter ihr nicht geben konnte. Mit zwölf Jahren gehörte sie zur Führungsriege der Jungmädel, mit 13 verliebte sie sich in ihre stramm nationalsozialistische Lehrerin Juliane Strauch. Diese übertrug ihr Sonderaufgaben, Nelly fühlte sich geehrt. Sie teilte die geforderten Überzeugungen, nur selten regte sich innerer Widerstand gegen den Rassenwahn. Durchaus nicht nur aus Ehrgeiz und Geltungsdrang nahm sie ihre Pflichten als Führerin des Mädchentrupps wahr. Dahinter steckten tiefe Selbstzweifel und die Angst vor dem Gefühl, sich selbst fremd zu sein. Nelly gab sich auf, befolgte Weisungen und sang Kampflieder, damit ihr wahres, tief verunsichertes Selbst nicht zum Vorschein kam.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören.“ (S. 279)

Während die Erzählerin – begleitet von ihrer Familie – durch die Straßen ihrer alten Heimatstadt geht, fallen ihr immer neue schmerzliche Details dessen ein, was sie rückblickend als Versagen empfindet: wie Nelly straff ihre Jungmädeltruppe kommandierte und Verweise erteilte; wie sie sich aus Eitelkeit von einem selbst ernannten Hitler-Doppelgänger umschwärmen ließ; wie sie nach der Anerkennung der geliebten Lehrerin gierte; wie sie sich 1943 als Erntehelferin gegenüber ihren osteuropäischen Kolleginnen als etwas Wertvolleres fühlte. Trotz der an Selbstaufgabe grenzenden Hingabe, mit der Nelly sich dem Führerkult widmete, hat die Erzählerin nur bruchstückhafte Erinnerungen an diese Zeit. Sie hat sie aus ihrem Gedächtnis gelöscht, wohl um beim Wort „Auschwitz“ nicht über sich selbst nachdenken zu müssen: Was hätte sie unter bestimmten Umständen getan? Hätte sie gehorcht – so wie Adolf Eichmann, der von sich behauptete, er habe Gehorsam als eine Tugend erlernt?

Flucht und Zusammenbruch

Im Januar 1945 floh Nellys Familie samt Großeltern, Tanten und Onkel vor der Sowjetarmee auf einem Lastwagen über die Oder und landete schließlich im mecklenburgischen Dorf Bardikow. Nelly wusste, dass sie ihre Heimat nie wiedersehen würde, glaubte aber immer noch an den Endsieg und schwor sich, dem Führer auch in diesen schweren Zeiten die Treue zu bewahren. Um sie herum starben Menschen an Hunger und Typhus. Täglich flogen Bomber über ihre Köpfe. Dass der Vater als tot galt, berührte Nelly zunächst nicht. Gefühle waren nicht erlaubt. Was wie Tapferkeit aussah, war in Wirklichkeit Gefühlstaubheit. Da die äußere Befehlsgewalt zusammengebrochen war, musste Nelly innere Kontrolle bewahren, um nicht verrückt zu werden. Erst als sie ein Jahr später erfuhr, dass Bruno Jordan als sowjetischer Kriegsgefangener überlebt hatte, merkte sie, wie sehr sie um ihn getrauert hatte.

„Leichter scheint es, ein paar Hundert, oder Tausend, oder Millionen Menschen in Un- oder Untermenschen umzuwandeln als unsere Ansichten von Sauberkeit und Ordnung und Gemütlichkeit.“ (S. 311)

Immer wieder begegneten ihr auf der Flucht Spuren menschlichen Leids: keine Leichenberge, dafür abgemagerte Frauen in Sträflingskleidung, die sich ohne Scham am Straßenrand entleerten, halb verhungerte KZ-Häftlinge, aus deren Blicken weder Freude noch Hass sprach, sondern nur Gleichgültigkeit. Einmal lud Charlotte, die einzige in Nellys Umgebung, die ein Gewissen zeigte, einen KZler zum Essen ein, das sie mangels Herd auf einer offenen Feuerstelle bereitete. Der Mann berichtete, er sei Kommunist. Auf Charlottes naive Bemerkung, als Kommunist sei man doch nicht ins KZ gekommen, fragte er ohne Vorwurf, wo sie bloß alle gelebt hätten – ein Satz, der für Nelly später zu einer Art Motto wurde.

„Nirgendwo wird so abgrundtief geschwiegen wie in deutschen Familien.“ (S. 323)

In dem von der sowjetischen Armee besetzten Bardikow wurde Nelly – gerade erst 16, aber durch die Umstände früh gereift – als Schreibkraft des Bürgermeisters eingestellt. Von ihrer neuen Lehrerin, Maria Kranhold, einer gläubigen Christin, erfuhr sie, dass sie zwölf Jahre in einer Diktatur gelebt hatte, anscheinend ohne es zu merken. Am Ende ihrer Reise in die alte Heimat weiß die Erzählerin nicht, ob sie dem Kind, das sie war, nun nähergekommen ist. Möglich, dass sie sich täuscht und sich – in der typischen Manier ihrer Zeitgenossen – in Wirklichkeit gar nicht kennenlernen wollte.

Zum Text

Aufbau und Stil

Christa Wolfs Kindheitsmuster ist in 18 Kapitel unterteilt, die jedoch keine besonderen inhaltlichen Zäsuren markieren. Es lassen sich drei Zeitebenen unterscheiden: Kindheit und Jugend der Erzählerin zwischen 1933 und 1946, die 48-stündige Reise der Erzählerin in ihren Heimatort im Sommer 1971 sowie die Arbeit am Roman zwischen 1973 und 1975. Den größten Raum nimmt die erste Zeitebene ein. Zwar beginnen diese Aufzeichnungen mit der frühen Kindheit der Autorin und enden mit ihrer späten Jugend, folgen jedoch keineswegs einer strengen linearen Chronologie. Ständig mischt sich in die Erinnerungen die Gegenwart, greift die Autorin den Ereignissen vor oder geht noch weiter in die Zeit vor ihrer Geburt zurück. Ihr Stil ist assoziativ, sprunghaft und aphoristisch, die Sprache nüchtern, rational, streckenweise essayistisch. Die immer wieder in den Text montierten Werbesprüche, nationalsozialistischen Parolen, Kinder-, Volks- und Kampflieder, aber auch Zeitungsartikel aus jener Zeit, verleihen Wolfs Erinnerungen ein hohes Maß an Authentizität.

Interpretationsansätze

  • Christa Wolfs Kindheitsmuster entzieht sich einer eindeutigen Charakterisierung. Das Buch ist zugleich Reisebericht, Tagebuch, Autobiografie und – glaubt man den einleitenden Worten der Autorin – zumindest streckenweise auch eine fiktionale Erzählung. Trotz ihrer Beteuerung, alle Personen seien frei erfunden, lassen sich deutliche Ähnlichkeiten der Erzählerin mit der Autorin erkennen.
  • Als Triebfeder ihres Schreibens nennt Wolf ihren Wunsch, zu verstehen, wie sie und die Angehörigen ihrer Generation geworden sind, was sie sind. Dazu gilt es, das kollektive Schweigen über die NS-Vergangenheit zu durchbrechen. In Umkehrung des Wittgenstein-Diktums „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“, schreibt Wolf, wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man allmählich zu schweigen aufhören.
  • Indem sie ihre Kindheit auf eine dritte Person, Nelly Jordan, überträgt, spaltet die Erzählerin ihr kindliches Ich von sich ab und betont die Entfremdung von diesem Ich. Auch mit der Frau, die 1971 die Polenreise unternommen hat, identifiziert sich die Erzählerin nicht: Indem sie diese mit „du“ anspricht, macht sie die Distanz zu ihrem vergangenen Ich deutlich. Ihr Ziel ist es, sich Verdrängtes bewusst zu machen und so zu ermöglichen, dass am Ende des Erinnerungsprozesses „du und sie im Ich zusammenfallen“.
  • Christa Wolfs Frage nach der Schuld der deutschen Bevölkerung an den Naziverbrechen stellte einen deutlichen Tabubruch mit der offiziellen DDR-Geschichtsschreibung dar, die die Masse des Volkes als Opfer von Umtrieben führender NS-Politiker und Großindustrieller sah. Auch am Bild der Roten Armee als Freund und Befreier rührt die Autorin, wenn sie deutlich von Flucht und Vertreibung, aber auch von sowjetischen Lagern und Vergewaltigung durch russische Soldaten spricht.
  • Immer wieder unterbricht die Erzählerin ihren Erinnerungsstrom und blickt auf aktuelle Ereignisse wie den Vietnamkrieg oder den Militärputsch in Chile. Ohne den Nationalsozialismus relativieren zu wollen, erkennt sie eine Tendenz der Geschichte zur Wiederholung. Die Vergangenheit dient ihr als Erklärungsmuster für die Gegenwart. Nur die Erinnerung bewahrt davor, Fehler zu wiederholen.

Historischer Hintergrund

Vergangenheitsbewältigung in der DDR

Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 setzte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) einen Prozess antifaschistischer, demokratischer Erneuerung in Gang. Aus dem Bewusstsein, man habe die Lehren aus der Geschichte gezogen und die Gegenwart von allen reaktionären Traditionen, von Nationalismus und Militarismus gründlich befreit, leitete die SBZ und später die 1949 gegründete DDR ihre Legitimation ab. Die Bundesrepublik wurde als alleinige Schuldige und Erbin des nationalsozialistischen Staates identifiziert – eine Tendenz, die sich während des Kalten Krieges in den 1950er-Jahren noch verstärkte. Mit Genugtuung wies man darauf hin, dass im Westen etliche Führungspersonen des Dritten Reiches weiterhin hohe Ämter bekleideten, während in der DDR vor allem in den sensiblen Bereichen der Justiz und der Bildung eine weitgehende Entnazifizierung stattgefunden habe.

Da sich die DDR nach ihrem Selbstverständnis gründlich von allem historischen Ballast befreit hatte, war hier die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit lange ein Tabu. Wurden in den Jahren nach Kriegsende noch Schuld und Mitschuld der Massen am Nationalsozialismus diskutiert, so gewann in den 50er-Jahren die Theorie von den „Agenten des Imperialismus“ breiteren Raum. Demnach hatten Hitler und seine engsten Gefolgsleute als Marionetten der Großindustrie und des Finanzkapitals agiert, die breite Masse dagegen sei vom Klassenfeind aufgehetzt worden und selbst Opfer. Der Faschismus wurde als logische Konsequenz des Kapitalismus betrachtet, das Problem des Antisemitismus und der millionenfachen Ermordung von Juden an den Rand gedrängt.

Erst ab den späten 70er-Jahren setzte sich in den DDR-Geschichtsbüchern allmählich eine differenziertere Sichtweise durch. An der Grundannahme, die DDR habe die Nazizeit historisch bewältigt, wurde jedoch nicht gerüttelt. Auch die Frage, wie sich ideologische Indoktrination, politische Disziplinierung und der allgegenwärtige Terror der NS-Diktatur auf die Lebensgeschichten und die Psyche der Menschen in der DDR ausgewirkt hatten, wurde nach wie vor kaum öffentlich diskutiert.

Entstehung

Nach eigenen Angaben hatte Christa Wolf sehr lange – eigentlich seit sie schrieb – den Plan gehegt, über ihre Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus zu schreiben. 1971 verfasste sie die Erzählung Nachruf auf Lebende, in der sie aus der Perspektive einer 15-jährigen Ich-Erzählerin von den Verflechtungen ihrer Familie und vom Trauma der Flucht – in der DDR ein unliebsames Thema – berichtete. Auch die Erzählung Blickwechsel von 1970, die von der Flucht handelt, kann als eine Art Vorbereitung für Kindheitsmuster gesehen werden.

1971, nach einem Besuch in ihrem Heimatort Landsberg an der Warthe – nunmehr das polnische Gorzów Wielkopolski – begann Wolf mit der Arbeit an Kindheitsmuster, wobei sie, wie sie im Buch berichtet, unter Schreibblockaden litt und immer wieder neu anfangen musste. Während der intensiven Arbeitsphase ab 1973 unternahm sie verschiedene Reisen ins westliche Ausland und in die USA. Ihre Motivation erklärte die Autorin mit dem Bedürfnis, sich in einer tieferen und psychologisch fundierten Weise mit ihrer Entwicklung auseinanderzusetzen. Das Manuskript war schon im Druck, als Christa Wolf ein Protestschreiben gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieb. Entgegen ihrer Befürchtung, das Buch werde nun nicht mehr veröffentlicht, erschien Kindheitsmuster 1976 im Aufbau-Verlag in einer Auflage von 60 000 Stück.

Wirkungsgeschichte

Kindheitsmuster wurde in der DDR von der Kritik fast vollständig ignoriert. Das lag nicht nur an der Biermann-Affäre, die die Diskussion über das Buch überschattete. Christa Wolfs erstes umfassendes autobiografisches Werk brach mit dem Schweigetabu bezüglich der Mitschuld der Bevölkerung an den Verbrechen des Nationalsozialismus, aber auch mit dem Dogma von der Sowjetarmee als Befreier. Zudem stellte es – zwar nicht offen, doch unüberhörbar – die Frage nach den Folgen kollektiver Disziplinierung und von oben verordneter Konformität, wie sie auch in der DDR praktiziert wurde. Auf die wenigen ersten – äußerst kritischen – Reaktionen folgten indes bald auch anerkennende Besprechungen, etwa von Wolfs Schriftstellerkollegen Stephan Hermlin.

In der Bundesrepublik – aber auch international – wurde das Buch begeistert aufgenommen und zu einem der bedeutendsten Flucht- und Vertreibungsromane der DDR-Literatur erklärt. Es gab allerdings auch einige negative Stimmen, die sich vor allem gegen den komplizierten Aufbau des Buches richteten.

Über den Autor

Christa Wolf wird am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe geboren. Nach der Vertreibung 1945 lässt sich ihre Familie in Mecklenburg-Vorpommern nieder. Wolf arbeitet zunächst als Schreibkraft und macht 1949 ihr Abitur. Im selben Jahr tritt sie der SED (Sozialistische Einheitspartei) bei. Während des Germanistikstudiums lernt sie ihren späteren Mann, den Schriftsteller Gerhard Wolf, kennen. Nach dem Studium arbeitet Christa Wolf zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Deutschen Schriftstellerverband, dann als Verlagslektorin und als Redakteurin einer Literaturzeitschrift. Ab 1962 ist sie freie Schriftstellerin. Ein Jahr darauf erscheint der Roman Der geteilte Himmel, eine Auseinandersetzung mit dem Mauerbau und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen in beiden Teilen Deutschlands. Christa Wolf gilt als Vorzeigeintellektuelle der jungen DDR, doch schon bald gerät sie wegen ihres subjektiven Stils und der Behandlung kontroverser Themen in Konflikt mit dem Machtapparat. Ihr zweiter Roman Nachdenken über Christa T. (1968) erscheint zunächst nur in kleiner Auflage. 1976 unterstützt die Autorin den Protest gegen die Zwangsausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Bei aller Kritik bleibt sie der Idee des Sozialismus dennoch treu. Als sogenannte loyale Dissidentin darf sie reisen, hält Vorträge im Ausland und wird zunehmend als gesamtdeutsche Schriftstellerin anerkannt. 1980 erhält sie den renommierten westdeutschen Georg-Büchner-Preis. 1983 erscheint ihre Erfolgserzählung Kassandra. Nach dem Fall der Mauer setzt Wolf sich für den „dritten Weg“ einer reformierten DDR und gegen die Wiedervereinigung ein. 1993 gibt sie zu, zwischen 1959 und 1962 als IM (inoffizielle Mitarbeiterin) für die Stasi gearbeitet zu haben, weist aber auch darauf hin, dass sie ab 1969 permanent von der Spitzelbehörde überwacht wurde. In den 90er-Jahren diffamieren westliche Kritiker die einst gefeierte Schriftstellerin als „Staatsdichterin der DDR“. Sie stirbt am 1. Dezember 2011 in Berlin.

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