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Lenz

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Lenz

Eine Reliquie

dtv,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Büchners berühmte Erzählung: Der Dichter Lenz verfällt dem Wahnsinn, als Opfer einer entfremdeten Gesellschaft.


Literatur­klassiker

  • Kurzprosa
  • Vormärz

Worum es geht

Eine Reise in den Wahnsinn

Mit dem Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz hat Georg Büchner einen ebenso genialen wie tragischen Literaten zum Helden seiner Erzählung gemacht. Büchners Lenz durchlebt in beispielhafter Form das Scheitern des Individuums in der Restaurationszeit – also in jenen Jahrzehnten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen die politische Liberalisierung bekämpft und der Adel wieder in seine alten Machtpositionen eingesetzt wurde. Büchner lässt Lenz aber nicht etwa ein unmittelbares Opfer adeliger Repression werden. Vielmehr teilt der fiktive Lenz das Schicksal jener Figuren, die der echte Lenz 50 Jahre zuvor in seinen Dramen beschrieb: Als überaus sensibler Mensch zerbricht er an den Anforderungen des Alltags. Büchner zeichnet ein für seine Zeit sehr modernes Menschenbild: das des innerlich zerrissenen Individuums, das vergeblich nach Sinngebung sucht. Indem er seinem Helden die Gestalt des Verlierers gibt, schreibt Büchner gegen die idealistisch geprägte Vorstellung vom Menschen an. Die psychogrammatische Dichte, die der erst 22-jährige Autor in Lenz erreicht, ist einzigartig. Sie verleiht dem schmalen Werk des jung Gestorbenen eine Bedeutung, die andere große Schriftsteller wie Grillparzer oder Heine erst in einem viel späteren Lebensabschnitt erreichten.

Take-aways

  • Georg Büchners Erzählung Lenz gilt als Beginn der modernen deutschen Prosa.
  • Sie basiert auf Tagebuchaufzeichnungen und Briefen über das Leben des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Büchner bearbeitete diese Quellen stilistisch und verlieh dem Text einen bruchstückhaften Charakter.
  • Lenz begibt sich, von Schizophrenieanfällen geplagt, in die Obhut des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin im vogesischen Steintal.
  • Seine Stimmung ist trüb. Er empfindet die Natur als bedrohlich, fühlt sich isoliert und glaubt sich dem Wahnsinn nahe.
  • Bei Oberlin erholt er sich wieder. Er predigt gar in der Kirche von der Natur als göttlicher Kraft, die ihn in Harmonie mit Gott und der Welt leben lasse.
  • Sein Freund Christoph Kaufmann besucht Lenz im Steintal. Die beiden führen ein Streitgespräch über Literatur.
  • Kaufmann ist der Ansicht, die Literatur habe ein idealistisches Menschenbild zu vertreten. Lenz dagegen fordert, sie müsse die Wirklichkeit und das Leid des Menschen zur Darstellung zu bringen.
  • Lenz’ Zustand verschlimmert sich wieder. Er versucht, ein totes Kind zum Leben zu erwecken. Als ihm dies nicht gelingt, erlebt er starke Halluzinationen.
  • Lenz fühlt sich als Mörder des Kindes und zieht die Existenz Gottes in Zweifel. Wenig später unternimmt er den ersten Selbstmordversuch.
  • Oberlin lässt Lenz nach Straßburg bringen. Erneut versucht Lenz sich umzubringen, doch je mehr er sich der Stadt nähert, desto schicksalsergebener wirkt er.
  • Hinter dem fragmentarischen Aufbau verbirgt sich eine moderne Erzählstrategie: Die Brüchigkeit der äußeren Erzählform bildet Lenz’ gestörte Befindlichkeit ab.
  • Lenz begann erst um 1900 ein größeres Publikum zu interessieren. Damals verwies vor allem Gerhart Hauptmann auf die literarische Bedeutung der Erzählung.

Zusammenfassung

Lenz unterwegs im Gebirge

Lenz, der von Wahnsinnsanfällen geplagt wird, macht sich auf Empfehlung eines Freundes zu Fuß auf den Weg zu Pfarrer Oberlin ins elsässische Waldbach, um dort Ruhe zu finden. Geradezu seismografisch nimmt Lenz den steten Wechsel der Landschaft wahr, die er durchwandert: Mal ängstigt ihn die leere Weite und vermeintliche Horizontlosigkeit der Natur, dann wieder bedrückt ihn die Enge von Schluchten und Felshängen, die ihm das Gefühl geben, mit dem Körper überall anzustoßen. Kaum kommt es ihm vor, als ob er den Weg nicht schnell genug zurücklege, da verliert er auch schon das Gefühl für die verflossene Zeit. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit verliert bei Lenz jegliche Kontinuität und zerfällt. Als er schließlich bei Pfarrer Oberlin ankommt, muss er feststellen, dass dieser ihn für einen Handwerksburschen hält. Lenz nennt seinen Namen, und Oberlin erkennt, dass er es mit dem bekannten Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz zu tun hat. Lenz befürchtet nun, Oberlin halte sein Werk für ungenügend, doch erweist sich diese Angst rasch als unbegründet.

Bei Pfarrer Oberlin

Lenz isst gemeinsam mit Oberlin, dessen Frau und Kindern zu Abend und entspannt sich. Kaum hat sich der Besucher jedoch in sein Zimmer zurückgezogen, nimmt die Angst wieder von ihm Besitz. Es ist ihm unmöglich, ins Bett zu gehen. Wie in Trance läuft er durch das Zimmer, rast die Treppe hinunter ins Freie, doch die Dunkelheit der Winternacht ängstig ihn nur noch mehr. Er stößt sich an den Steinwänden Haut und Fingernägel auf, um wieder zu Bewusstsein zu kommen und stürzt sich schließlich in den Brunnen vor dem Haus. Oberlin und die Nachbarn laufen entsetzt herbei. Wieder bei Sinnen, schämt sich Lenz, dass er den Leuten Angst gemacht hat. Er beruhigt sie mit der Ausrede, er sei es gewohnt, auch im Winter kalt zu baden. Dann steigt er wieder zu seinem Zimmer hoch und schläft erschöpft ein. An den nächsten Tagen begleitet Lenz Oberlin zu Pferd auf dessen seelsorgerischen Besuchen bei der Landbevölkerung. Lenz fühlt sich zu den einfachen Menschen hingezogen. Deren – von Oberlin geförderte – Auffassung, Gott sei in der Natur und in den täglich zu verrichtenden Geschäften zu erkennen, erfüllt Lenz mit einer großen inneren Wärme. Er sieht sich im Einklang mit Gott und der Welt.

Der Dunkelheit entrinnen

Mit Einbruch der Dunkelheit kippt Lenz’ Zustand erneut in einen Anflug von Wahnsinn. Ihm ist, als müsse er dem Weg der Sonne nachlaufen, um nie mehr die Erfahrung der Dunkelheit zu machen. Gierig suchen seine Augen auf dem Ritt nach Hause jede noch so kleine Lichtquelle in den Häusern am Wegrand. Wieder nimmt er ein Bad im eisigen Brunnenwasser vor Oberlins Haus, doch tut er es jetzt ein wenig leiser, um nicht erneut die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen. Das Bewusstsein, krank zu sein, keimt in ihm auf. Der Besuch bei den Bauern und Handwerkern zusammen mit Oberlin hallt in Lenz noch lange nach. Er liest in der Bibel, zeichnet und rezitiert Shakespeare. Bei einer langen Wanderung in der Umgebung von Waldbach wird ihm bewusst, dass die Erfahrung Gottes im Alltäglichen die Bibel in einem für ihn nie gekannten Maße lebendig werden lässt. Als Lenz abends wieder bei Oberlin ist, bittet er diesen, predigen zu dürfen. Oberlins Frage, ob Lenz denn auch Theologe sei, bejaht er. Daraufhin gestattet der Pfarrer es ihm.

Lenz predigt

Die Tage, in denen Lenz seine Predigt vorbereitet, verlaufen glücklich. Er hat das Gefühl, in sich selbst zu ruhen. Am Sonntag, als er vor die Gemeinde tritt, durchdringt eine große Wärme den jungen Mann. Während seiner Predigt über die göttliche Kraft in der Natur befällt ihn ein ungewohnter wohliger Schmerz, dessen Ursachen er nicht zu bestimmen weiß. Er fühlt sich seinen Zuhörern nahe und glaubt ihr Leid zu teilen. Am nächsten Morgen erzählt Lenz Oberlin, er habe geträumt, seine Mutter sei gestorben und über ihrem Leichnam seien rote Rosen gewachsen. Oberlin und Lenz führen darauf ein Gespräch über die Gabe der Vorahnung und der Wahrnehmung unsichtbarer Ereignisse und Gegenstände. Oberlin sagt ihm, dass auch ihm einstmals draußen auf dem Feld eine Stimme mitgeteilt habe, dass sein Vater gestorben sei. Zu Hause habe er den Vater tatsächlich tot aufgefunden. Später zeigt Oberlin Lenz kleine Farbtafeln. Jede Farbe repräsentiere einen Apostel, der wiederum für eine bestimmte menschliche Verhaltensweise stehe. Diese Form der Vorbestimmtheit des menschlichen Schicksals beunruhigt Lenz. Sie veranlasst ihn, viel in der Bibel zu lesen. Dem Buch der Offenbarung schenkt er besondere Aufmerksamkeit.

Literatur als Spiegel der Wirklichkeit

Eines Tages besucht Lenz’ Schweizer Freund Christoph Kaufmann ihn bei Oberlin. Lenz ist Kaufmanns Anwesenheit anfangs unangenehm, denn der kennt ihn nur zu gut, während er doch bei Oberlin die Gelegenheit hätte, anonym und in einer neuen Umgebung sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Zwischen Kaufmann und Lenz entspinnt sich ein Gespräch über den Idealismus in der Kunst. Kaufmann steht leidenschaftlich hinter der These, dass die Kunst sich von der Wirklichkeit unterscheiden und die Personen und Dinge symbolisch überhöhen müsse. Lenz hingegen redet einer Kunst das Wort, die von unverfälschter Wirklichkeitsdarstellung und einer Auseinandersetzung mit den einfachen Menschen und deren Leid geprägt ist. Die Diskussion verläuft lebhaft, und Lenz fühlt sich in seinem Element. Nach dem Mittagessen nimmt Kaufmann, erfreut über das Engagement des Freundes, Lenz beiseite und fordert ihn auf, zu seinem Vater zurückzukehren. Lenz verschleudere doch sein Leben hier auf dem Dorf, er solle sich wieder ein Ziel setzen. Lenz reagiert heftig: Man solle ihm doch die Ruhe lassen, die er endlich hier in Waldbach gefunden habe. Kaufmann ist verstimmt und will am nächsten Morgen abreisen. Er schlägt Oberlin vor, mit ihm in die Schweiz zu fahren und den Züricher Theologen und Schriftsteller Lavater zu besuchen.

Das sterbenskranke Mädchen

Oberlin willigt ein. Für Lenz bedeutet diese Trennung von seinem Gastgeber neuen Schmerz. Der Pfarrer ist zu einem ruhenden Pol in seinem Leben geworden. Zugleich merkt Lenz aber auch, dass er sich die Gründe für seinen Verbleib in Waldbach aus Selbstmitleid zurechtlegt. Da Kaufmann schon einen Tag früher abgereist ist als Oberlin, begleitet Lenz den Pfarrer ein Stück. Auf dem Rückweg kehrt Lenz in Fouday bei armen Leuten ein und verbringt dort die Nacht. Zu der Familie gehört ein sterbenskrankes achtjähriges Mädchen, das nachts im Fieberwahn fantasiert. Zurück in Oberlins Haus lässt Lenz das Bild des Kindes nicht mehr los. Er glaubt in ihm seine Mutter zu erkennen, ein anderes Mal erinnert es den jungen Mann an eine Frau, die seine Liebe nicht erwiderte. Lenz verbringt seine Zeit mit Zeichnen und Bibellektüre und spielt, äußerlich ruhig, mit Oberlins jüngstem Kind. Innerlich plagen ihn religiöse Zweifel. Er fragt sich, was Gott mit ihm vorhat. Stundenlang im Gebet versunken will er, dass Gott ihm ein Zeichen sendet. Da hört er, dass in Fouday ein Kind gestorben sei. Lenz beschließt, nun nicht mehr zu essen und allein in seinem Zimmer zu bleiben.

In Sack und Asche

Am nächsten Morgen erscheint Lenz mit aschebeschmiertem Gesicht bei Frau Oberlin und bittet sie um einen Sack. Wie ein Büßender wickelt er den Sack um sich und begibt sich nach Fouday zu dem toten Kind. In der Familie des Kindes erhält er erneut eine Schlafstatt. Lenz findet das tote Mädchen auf einem Tisch liegend vor. Mit „Stehe auf und wandele“, den Worten, die Jesus an Lazarus gerichtet hat, versucht Lenz, das Kind wieder ins Leben zurückzubringen – vergeblich. Lenz kann seine Machtlosigkeit nicht verkraften. Er ergeht sich in wilden Gotteslästerungen, Schuldgefühle steigen in ihm hoch. Er glaubt, das Mädchen ermordet zu haben. Fluchtartig verlässt er das Haus und läuft nach Waldbach zurück. Ein höhnisches Lachen packt ihn, und er glaubt, dass sich der Atheismus seiner bemächtigt habe. Am nächsten Tag ist er wieder zu sich gekommen. Scham steigt in ihm auf, die rasch in eine diffuse Angst umschlägt: Er meint, dass er gesündigt hat und sich vor dem Heiligen Geist rechtfertigen muss.

Lenz am Scheideweg

Da kommt Oberlin früher als erwartet aus der Schweiz zurück. Für Lenz ist es, als ob der Stellvertreter des höchsten Richters plötzlich vor ihm stehe. Lenz schwankt zwischen Freude, Scham und Verwirrung. Tatsächlich fordert ihn jetzt auch Oberlin auf, nach Hause zu seinem Vater zurückzukehren, denn Vater und Mutter zu ehren sei Christenpflicht. Lenz glaubt zuerst, dass man ihn verstoßen will, und fürchtet, dass er sich wohl wie der Ewige Jude fühlen soll, der dazu verdammt ist, für immer in der Welt umherzuirren. Er fängt sich jedoch schnell wieder und fragt, ob Oberlin Nachrichten von einer geliebten Frau habe, ob sie gar tot sei. Oberlin kennt die Frau zwar nicht, bietet Lenz aber an zu vermitteln, da er eine Krise zwischen ihr und dem jungen Mann zu erkennen glaubt. Schließlich empfiehlt Oberlin ihm, das Schicksal der Menschen, die er liebt und zu denen er ungerecht war, in Gottes Hände zu legen. Wenig später kommt Lenz mit einem Bündel Gerten in der Hand ins Haus und bittet Oberlin, ihn zu geißeln. Statt ihn zu schlagen, küsst Oberlin Lenz aber auf den Mund: Kein einziger Schlag von ihm würde auch nur eine einzige seiner Sünden tilgen, Christus allein könne dies tun. In der folgenden Nacht hört man Lenz im Hof herumirren. Wieder schickt er sich an, im Brunnen ein Bad zu nehmen, wobei er laut den Namen „Friederike“ ruft. Die Mägde hören ihn in dieser Nacht noch oft verzweifelt winseln.

Geistige Umnachtung

Am folgenden Tag unternimmt Lenz einen Selbstmordversuch. Zumindest erzählt er dies dem entsetzten Oberlin. Da Oberlin seinen Geschäften nachgehen muss, lässt er nach dem Schulmeister in Bellefosse schicken, damit Lenz Gesellschaft hat. Mit dem Schulmeister besucht Lenz das Grab des Mädchens in Fouday. Auf dem Rückweg nach Waldbach rennt Lenz plötzlich wie von Sinnen nach Fouday zurück. Als der Schulmeister ein wenig später auch in dem Dorf ankommt, erfährt er, dass Lenz sich hat gefangen nehmen lassen, mit der Begründung, er sei ein Mörder. Als Lenz, von dessen Unschuld alle außer ihm selbst überzeugt sind, zu den Oberlins zurückgebracht wird, weiß niemand mehr Rat. Am nächsten Morgen überrascht Lenz Oberlin mit der Nachricht, Friederike sei gestorben. Lenz’ Zustand erscheint immer trostloser. Erkennbar ist nun für alle, dass von der Erholung, die die Stille des Tals und die liebevolle Gesellschaft der Oberlins Lenz in den letzten Wochen gebracht haben, nichts mehr übrig geblieben ist. Spuren einer völligen geistigen Umnachtung werden nun sichtbar: Lenz wiederholt Worte und Sätze ohne Grund. Schließlich geht er gar auf die Katze der Oberlins los. In lichten Augenblicken allerdings wird er sich der Schizophrenie bewusst, deren Opfer er geworden ist. Dann erkennt er auch, wie ein mächtiger instinktiver Erhaltungstrieb in ihm jene Kraft freisetzt, die es ihm erlaubt, wieder zu sich zu kommen.

Das Dasein als notwendige Last

Immer häufiger bekommt Lenz nun seine Anfälle. Oberlin kümmert sich trotz seiner vielen Verpflichtungen um seinen Gast, so gut es geht. Er ist stundenlang bei ihm und spricht mit ihm über die Allmacht Gottes. Lenz erwidert ihm, dass er, wäre er Gott, die Menschen von ihrem Leid befreien würde. Er, Lenz, wolle ja nichts als Ruhe und schlafen können. Auch in diesem Stadium noch gibt es Momente, in denen Lenz’ Blick weniger wirr ist als sonst. Oberlin spricht ihm dann Mut zu, doch der Pfarrer ist nicht sicher, ob Lenz ihn überhaupt noch hört. Als Oberlin eines Abends von einem Krankenbesuch in Bellefosse zurückkommt, begegnet er draußen zu seiner Überraschung Lenz. Es sei die Stille dieses Tals, die ihn nicht zur Ruhe kommen lasse, lässt er den Pfarrer wissen und geht scheinbar einfach fort. Oberlin bittet ihn, nicht zu weit zu gehen. Noch bevor Oberlin sein Haus betritt, ist aber auch Lenz wieder zurück. Plötzlich lässt ein lautes Geräusch die Familie zusammenschrecken. Es ist Lenz, der sich aus dem Fenster gestürzt hat, aber den neuerlichen Selbstmordversuch wiederum überlebt.

„Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.“ (S. 9)

Oberlin beschließt nun, Lenz im Wagen nach Straßburg bringen zu lassen. Während der Fahrt versucht Lenz erneut, Hand an sich zu legen, seine Bewacher können jedoch eingreifen. Als er in Straßburg ankommt, scheint er vernünftig, aber auch resigniert, und er spürt eine entsetzliche Leere in sich. Sein Dasein empfindet er nur noch als eine notwendige Last.

Zum Text

Aufbau und Stil

Lange glaubte man, dass es sich bei Büchners Lenz um ein Fragment handele. Heute aber geht die Literaturwissenschaft davon aus, dass die Erzählung als abgeschlossen gelten muss. Denn ihre bruchstückhafte Form darf in diesem Fall als bewusste Erzählstrategie gelten: Es wird eine Folge von zusammenhanglosen Augenblicken und Räumen dargestellt, auf die sich Lenz’ Erfahrung der Wirklichkeit reduziert. Die Momente der Desorientierung und die Halluzinationen, die Büchners Vorbild, den realen Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, heimgesucht haben, bemächtigen sich seiner auch in der Erzählung Lenz. Büchners Sprache bildet die psychische Instabilität des Dichters ab. Das ist z. B. der Fall, wenn kurze Hauptsätze neben weit ausholenden, kaum ein Ende findenden Tiraden stehen, wenn Konjunktionen scheinbar unpassend verwendet werden und keine echte gedankliche Verbindung mehr herstellen, oder wenn erklärende Ergänzungen auftauchen, die bei genauerem Hinsehen außerhalb der syntaktischen Logik stehen. Der bruchstückhafte Satzbau zerstört das Zeit- und Raumgefüge konventionellen Erzählens. Letztlich löst die Erzählung ein, was Lenz im Gespräch mit Kaufmann fordert: dem Leser eine erlebte Wirklichkeit durch ihre sprachliche Vermittlung erfahrbar zu machen. Diesen Anspruch stellt der fiktive Lenz, stellvertretend für den Dichter Büchner, an die Literatur als Kunstform. Und dieser Absicht dient auch die personale Perspektive, die weite Teile der Erzählung beherrscht: Büchner schildert den Großteil der Geschichte aus der Sicht des Helden. So entsteht eine große Nähe zwischen dem wahnsinnigen Lenz und dem Leser.

Interpretationsansätze

  • Lenz’ Wahnsinn kann als eine natürliche Reaktion auf die entfremdete Gesellschaft gedeutet werden. Symbolisiert wird dies immer wieder durch die Bildlichkeit einer von Lenz als feindlich empfundenen Natur.
  • Lenz’ von Halluzinationen bedrängtes Bewusstsein findet sich nicht nur in seiner Wahrnehmung der Natur, sondern auch in der auffälligen Brüchigkeit der Sprache wieder, die oft auf einen konventionellen Satzbau verzichtet.
  • Lenz nimmt seine Existenz nicht als Einheit wahr, sondern als fragmentarische Folge unabschließbarer Erfahrungen. Der Aufbau der Erzählung bildet diese Wahrnehmung in der Aufeinanderfolge zufälliger Wirklichkeitsausschnitte ab, die nicht auf einen finalen Abschluss abzielen, sondern unaufgelöst bleiben.
  • Als Gott Lenz nicht hilft, das tote Mädchen wieder zum Leben zu erwecken, wird Lenz Atheist. Lenz’ psychische Krankheit erlaubt es Büchner, Gottes Existenz infrage zu stellen, ohne dafür persönlich zur Verantwortung gezogen werden zu können.
  • Lenz wird zum Sprachrohr von Büchners Literaturverständnis: Nicht idealistisch überhöhte Charaktere, sondern zerrissene Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in ihrer realistischen Lebenswirklichkeit werden in Zukunft die Helden der Literatur sein.
  • Büchner schreibt weite Teile der Erzählung aus der Sicht der Hauptperson Lenz. Diese personale Erzählhaltung, die erst um 1900 verstärkt Eingang in die Literatur fand, ermöglicht eine Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten.

Historischer Hintergrund

Restauration und Biedermeier

Georg Büchners Erzählung Lenz stellt in der Figur des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz das Konflikt- und Krisenbewusstsein der Restaurationszeit in den Vordergrund, also der Zeit nach den Napoleonischen Kriegen bis zur Schaffung erster demokratischer Verfassungen um 1850. Gegen die damalige Zurückentwicklung der politischen Kultur, die in der gewaltsamen, auf polizeistaatliche Mittel zurückgreifenden Wiedereinsetzung des Adels in seine vorrevolutionären Machtpositionen gipfelte, versuchten das liberale Bürgertum sowie viele Schriftsteller und Künstler von Rang Stellung zu beziehen, allen voran Büchner, Börne, Heine, Grabbe und Gutzkow. In den deutschen Splitterstaaten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilten radikale Demokraten und gemäßigte Nationalliberale – spätestens nach der gescheiterten Revolution von 1848 – die frustrierende Erkenntnis, politisch nichts bewegen zu können. Aus dieser Erkenntnis entstand die weit verbreitete Tendenz zum Rückzug ins Private, in die kleine überschaubare Welt der Familie und der eigenen vier Wände mit ihren puppenstubenhaften Möbeln, deren Stil heute mit dem Begriff des Biedermeier gekennzeichnet ist. Die Restaurations- und Biedermeierepoche war also keine Glanzzeit in der Entwicklung zu Freiheit und Demokratie, aber sie war doch eine relativ lange Friedenszeit in Europa und stellte somit eine notwendige Voraussetzung für das geradezu sprunghafte Fortschreiten der Industrialisierung dar, für neue Erfindungen und bahnbrechende Entwicklungen, wie etwa die Eisenbahn.

Entstehung

Der Erzählung liegen Tagebuchaufzeichnungen des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin aus Waldersbach (bei Büchner Waldbach) im vogesischen Steintal unweit von Straßburg zugrunde, die von dem Aufenthalt des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner Familie vom 20. 1. bis 8. 2. 1778 berichten. Straßburger Freunde hatten Büchner in den Besitz einer Abschrift dieser Aufzeichnungen gebracht. Zudem verfügte Büchner auch über Abschriften von Briefen des Dichters Lenz. Den beobachtenden Blick des Pfarrers auf Lenz im Tagebuch verwandelt Büchner in einen Erzählstil der Einfühlung in die Wahrnehmungswelt des Kranken. Einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung der Erzählung hatten auch die Bemerkungen von Lenz’ Zeitgenossen Goethe über dessen Halluzinationen in Dichtung und Wahrheit.

Büchner schrieb die Erzählung im Herbst des Jahres 1835 nieder. Ursprünglich hatte er sie für eine Publikation in Karl Gutzkows Zeitschrift Deutsche Revue vorgesehen, einem Organ des Jungen Deutschland. Schriftsteller setzten sich in dieser Literaturbewegung gegen die Restauration ein. Da die Zeitschrift von der Zensur verboten wurde, konnte die Erzählung erst aus Büchners Nachlass im Jahr 1839 veröffentlicht werden. Der Erstdruck, der auf Veranlassung von Gutzkow bei Hoffmann und Campe im Telegraph für Deutschland unter dem Titel Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner zustande kam, ist heute die einzige originale Textgrundlage. Denn die handschriftliche Urfassung von Büchner, die dessen Verlobte Minna Jaeglé 1837 an Gutzkow schickte, gilt als verloren. Spätere Abschriften basieren auf Gutzkows Erstdruck. Gutzkow hat es sich nicht nehmen lassen, das Vorwort zu schreiben, in dem er nicht nur von Büchners Quellen berichtet, sondern auch darauf hinweist, dass der Text aufgrund von Büchners frühem Tod Fragment bleiben musste – eine These, die heute nicht mehr allgemein anerkannt ist.

Wirkungsgeschichte

Büchner nahm in der Erzählung Lenz Abschied vom klassischen Verständnis der Literatur als idealisierender Kunstform und wandte sich einer Darstellung realistischer Lebensbedingungen zu. Damit markierte er einen Meilenstein der deutschen Literatur. Doch wahrgenommen wurde er nur von einigen wenigen Schriftstellerkollegen. Die beiden Gesamtausgaben von Büchners Werken aus den Jahren 1850 und 1879 blieben weitgehend unbemerkt. Erst um 1900 begann ein breiteres Publikum sich für Büchners Lenz zu interessieren. Ausschlaggebend dafür war das öffentliche Bekenntnis Gerhart Hauptmanns zu dem Werk Büchners. Später bezogen sich die Expressionisten Georg Heym und Georg Trakl in ihrer Korrespondenz auf Büchners Lenz, und Robert Walser, ein anderer geisteskranker Dichter, soll an ihn auf seinem langen Weg in die Heil- und Pflegeanstalt gedacht haben. Nach 1945 tauchten in den Werken von Paul Celan, Johannes Bobrowski und Peter Huchel Spuren von Lenz auf. Gemeinsam ist diesen Texten nicht unbedingt die psychogrammatische Dichte von Büchners Lenz, wohl aber die Beschreibung individuellen Zerbrechens an einer kalten, gleichgültigen Gesellschaft. Für die Jury des renommierten Georg-Büchner-Literaturpreises war dies bis in die 1980er Jahre hinein das wichtigste Kriterium, nach dem sie die Preisträger aussuchte.

1973 veröffentlichte Peter Schneider eine Erzählung, die ebenfalls den Titel Lenz trug. Auch George Moorses deutsche Verfilmung von Büchners Lenz aus dem Jahr 1970 stellt Lenz’ Zerbrechen an einer konservativen, bürgerlichen Gesellschaft in den Vordergrund, während Alexander Rockwells Film von 1981 Oberlin als Vorläufer einer auf christlicher Moral fußenden Psychotherapie porträtiert. Den Komponisten Wolfgang Rihm inspirierte Büchners Erzählung zu einer Kammeroper, die 1979 in Hamburg uraufgeführt wurde.

Über den Autor

Georg Büchner wird am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren. Sein Vater ist Arzt und seine Mutter eine sehr belesene, am geistigen Klima der Zeit interessierte Frau. Büchner nimmt 1831 in Straßburg ein Medizinstudium auf. Das Kleinstadtklima behagt ihm überhaupt nicht. Er wird melancholisch und erkrankt häufig. Erst die Beschäftigung mit der Geschichte der Französischen Revolution holt ihn aus seiner Lethargie heraus. 1832 verlobt er sich in Straßburg heimlich mit Wilhelmine (Minna) Jaeglé, der Tochter seines Vermieters. Im gleichen Jahr nimmt er am Hambacher Fest teil, dem Höhepunkt bürgerlich-liberaler Opposition gegen die Restauration. 1834 setzt er in Gießen sein Medizinstudium fort, gründet die „Gießener Gesellschaft der Menschenrechte“ und schart Gleichgesinnte um sich mit dem Ziel, die reaktionäre Strömung im Großherzogtum Hessen zu bekämpfen. Nachdem seine sozialrevolutionäre Flugschrift Der hessische Landbote in mehreren Hundert Exemplaren verteilt worden ist, wird seine Wohnung auf den Kopf gestellt und er wird bald sogar steckbrieflich gesucht. Büchner flieht nach Straßburg. 1836 siedelt er nach Zürich über, wo er sein Studium beendet und Privatdozent für Anatomie wird. Im Juli 1835 erscheint die Buchausgabe von Büchners Drama über die Französische Revolution, Dantons Tod. Drei Monate später beginnt er die Niederschrift der Erzählung Lenz, die der Dichter Karl Gutzkow, Büchners langjähriger Freund und politischer Mitstreiter, 1839 publizieren wird. Erst 1878 erscheint hingegen das Fragment gebliebene Theaterstück Woyzeck, das Büchner Ende 1836 beginnt, wegen einer Erkrankung aber nicht fortsetzen kann. Als der Arzt Typhus diagnostiziert, eilt Büchners Verlobte von Straßburg nach Zürich. Zwei Tage nach ihrem Eintreffen, am 19. Februar 1837, stirbt Büchner im Alter von nur 23 Jahren.

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