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Mario und der Zauberer

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Mario und der Zauberer

Ein tragisches Reiseerlebnis

S. Fischer,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Eine ungute Urlaubsstimmung gipfelt im Spektakel eines dämonischen Hypnosekünstlers – und dieses in einem Mord. Thomas Manns Erzählung ist Reisebericht und Parabel auf den Faschismus zugleich.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Moderne

Worum es geht

Ein dämonischer Verführer

Die Novelle Mario und der Zauberer wurde 1930 veröffentlicht und entwirft, ohne direkt darauf hinzuweisen, ein bedrückendes Bild der Gefahr des Faschismus – noch vor der Machtergreifung Hitlers. Eine deutsche Familie macht Ferien in Italien und findet sich in einer merkwürdig gereizten, patriotisch aufgeladenen Atmosphäre wieder, die in mehreren Eklats gipfelt. Der schlimmste wird durch den Zauberkünstler Cipolla provoziert. Seine Bühnenkunststücke entpuppen sich dem Eingeweihten als Hypnosenummern, in denen einzelne Zuschauer bloßgestellt werden. Er lässt sie die Zunge rausstrecken, sich vor Schmerzen krümmen oder tanzen wie Hampelmänner, und sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Alles zielt auf den Entzug des eigenen und das Aufdrängen eines fremden Willens – der sich unter der Hypnose aber anfühlt wie frei gewählt. Der Kellner Mario bereitet dem Schrecken schließlich das gewaltsame Ende, auf das die Erzählung von Anfang an zusteuert: Von Cipolla gedemütigt, erschießt er ihn. Ein spannendes, atmosphärisch starkes Stück Weltliteratur vom „Zauberer“ Thomas Mann, das in der Frage nach der Verführbarkeit des Menschen und nach den Grenzen der Willensfreiheit ungebrochen aktuell ist.

Take-aways

  • Mario und der Zauberer, erschienen 1930, zeigt, wie gut Thomas Manns Gespür für die schwelende Gefahr des Faschismus war.
  • Am Beispiel der Hypnose verdeutlicht die Erzählung, wie die Mechanismen zwischen Führer und Masse funktionieren.
  • Die Handlung beruht auf realen Erlebnissen Thomas Manns während eines Italienurlaubs.
  • Eine deutsche Familie macht Ferien an der italienischen Mittelmeerküste. Von Anfang an ist die Stimmung im Urlaubsort gereizt und patriotisch aufgeladen.
  • Vom Grand Hôtel ungerecht behandelt, zieht die Familie in eine Pension um.
  • Am Strand gibt es einen weiteren Eklat: Eines der deutschen Kinder läuft nackt zum Wasser, was die Badenden empört als Angriff auf die Ehre Italiens werten.
  • Auf Wunsch der Kinder besucht die Familie die Veranstaltung eines Zauberkünstlers.
  • Die Kunststücke stellen sich als Hypnose heraus, was den meisten Zuschauern jedoch entgeht.
  • Cipolla, der Hypnotiseur, verbreitet eine aggressive Stimmung; er stellt die Zuschauer bloß, während sie hypnotisiert sind.
  • Den Kellner Mario demütigt er besonders: Er lässt den unglücklich Verliebten glauben, er, Cipolla, sei seine Angebetete. Mario küsst den Zauberer.
  • Als er erkennt, was er getan hat und wie er getäuscht wurde, erschießt Mario Cipolla.
  • Thomas Mann schrieb die Erzählung 1929, auf dem Gipfel seines Ruhms. Im selben Jahr erhielt er den Literaturnobelpreis.

Zusammenfassung

Erinnerung an eine angekündigte Katastrophe

Ein Urlaub, den der Erzähler mit seiner Familie in Italien verbracht hat, ist ihm in unangenehmer Erinnerung. Von vornherein war die Atmosphäre in dem Ferienort am Meer gereizt und aggressiv, eine Grundstimmung, die dann in einer einzigen unheilvollen Person, einem Zauberkünstler, ihren Höhepunkt fand. Es kam zur Katastrophe – tröstlich war letztlich nur, dass wenigstens die Kinder das Unglück nicht von dem Spektakel unterscheiden konnten, das der Zauberer veranstaltete.

Auszug aus dem Grand Hôtel

Torre di Venere ist ein Küstenort in der Nähe der Urlaubsstadt Portoclemente, einem touristischen Zentrum, in dem im Sommer monatelang rummelartige Überfüllung herrscht. Torre selbst, einst ein Rückzugsort für diejenigen, die die Stille suchten, ist inzwischen fast genauso bevölkert, obwohl es immer noch im Ruf steht, die feinere, leisere Adresse zu sein. Neben zahlreichen Pensionen ist längst auch ein Grand Hôtel entstanden. Dort logiert der Erzähler mit seiner Familie. Es ist Mitte August, Hauptsaison.

„Die Erinnerung an Torre di Venere ist atmosphärisch unangenehm. Ärger, Gereiztheit, Überspannung lagen von Anfang an in der Luft, und zum Schluss kam dann der Choc mit diesem schrecklichen Cipolla, in dessen Person sich das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammenzudrängen schien.“ (S. 9)

Gleich bei der Ankunft im Grand Hôtel kommt leichtes Unbehagen auf. Die deutsche Familie fühlt sich von der Hotelleitung benachteiligt zugunsten der z. T. hochadligen Gesellschaft aus Rom und Florenz. Dieser Eindruck verstärkt sich bald: Eine römische Fürstin hört nachts von einem der Kinder des Erzählers die Nachklänge eines bereits ausgeheilten Keuchhustens. Die Familie versichert der Hoteldirektion, dass keine Ansteckungsgefahr mehr bestehe. Die Hotelführung ist zu dem Zugeständnis bereit, den Arzt des Hauses entscheiden zu lassen. Dieser bestätigt die Harmlosigkeit des Hustens, trotzdem besteht der Hotelmanager darauf, die Gäste in ein Nebengebäude umzuquartieren – ein Verhalten, das die Familie empört und dazu veranlasst, ihr Quartier gleich ganz zu wechseln. Sie beziehen ein Appartement in der Pension Eleonora, die ihnen wegen der guten Küche und der charismatischen Wirtin schon vorher aufgefallen ist.

Vergiftete Stimmung am Strand

Doch die Trübung der Urlaubsstimmung lässt sich nicht rückgängig machen; die unschöne Auseinandersetzung im Grand Hôtel hängt nach. Außerdem drückt die extreme Hitze, und die Strandbevölkerung fällt dem Erzähler lästig. Jetzt, zur Hauptsaison, besteht sie hauptsächlich aus Vertretern der italienischen Mittelklasse, darunter viel „bürgerliches Kroppzeug“. Unausstehlich sind insbesondere die gellenden Frauenstimmen und ein zwölfjähriger Junge, der sich als Ausbund an Flegelhaftigkeit und Weinerlichkeit entpuppt: ein übler Querulant, der anderen Kindern die Sandburgen zerstört und gleichzeitig ein Riesentheater veranstaltet, wenn ihn ein Taschenkrebs kneift. Überhaupt geht der Gesamtheit der Badenden jegliche Unschuld und Lockerheit ab. Selbst Kinder, die sich normalerweise trotz unterschiedlicher Herkunft schnell verstehen, geben sich an diesem Strand nationalistisch.

„Man verstand bald, dass Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war.“ (S. 24)

Schließlich kommt es zu einem weiteren Zusammenstoß. Der Erzähler und seine Frau erlauben ihrer achtjährigen Tochter, nackt ans Wasser zu gehen, um dort ihren Badeanzug auszuspülen. Zu viel für die anderen Strandgäste: Das für einen Moment unbekleidete Kind erregt Anstoß, man bezichtigt die Eltern der Schamlosigkeit und des Missbrauchs der italienischen Gastfreundschaft. Die Behörden werden benachrichtigt und finden den Fall genauso schwerwiegend; die Eltern müssen ein Bußgeld von 50 Lire bezahlen. Nach diesem Vorfall erwägt man die Abreise – aber halb aus Trotz, halb aus Faszination für die Merkwürdigkeit und Peinlichkeit dieser Ferienerlebnisse bleibt die Familie. Im Übrigen sind zwei Drittel der Zeit bereits um, die Hauptsaison ist vorbei, das Publikum wird jetzt internationaler und großbürgerlicher, und die Hitze lässt nach.

Ein unheimliches Spektakel

Zu diesem Zeitpunkt kündigt sich der Zauberkünstler Cipolla an. Besonders die Kinder interessieren sich für die Plakate, die überall auf den Magier hinweisen. Zwar zögern die Eltern, vor allem weil die Veranstaltung erst um neun Uhr abends beginnt, doch schließlich kaufen sie doch Eintrittskarten. In einem Saalbau im ärmlichen Teil von Torre lässt der Zauberer lange auf sich warten. Der ganze Ort scheint da zu sein, neben Touristen auch die einfachen einheimischen Leute. Unter den Stehplatzinhabern sind einige bekannte Gesichter, etwa der melancholische Kellner Mario.

„Wir blieben auch deshalb, weil der Aufenthalt uns merkwürdig geworden war und weil Merkwürdigkeit ja in sich selbst einen Wert bedeutet, unabhängig von Behagen und Unbehagen.“ (S. 30)

Cipolla, ein verwachsener Mann mit schwarzem Schnauzbart, hat ein strenges, keineswegs lustiges Gesicht, trägt altmodische Abendgarderobe und strahlt grenzenloses Selbstbewusstsein aus. Von Anfang an herrscht eine leicht aggressive Stimmung zwischen ihm und dem Publikum. Ohne ein Wort gesagt zu haben, fängt er auf der Bühne zu rauchen an. Ein gut aussehender, lockiger junger Mann sucht schließlich herausfordernd den Kontakt, indem er „Buona sera“ ruft. Cipolla wendet sich ihm sofort zu, lobt höhnisch seine Kernigkeit und fragt ihn mit metallischer Stimme, ob er – wenn er schon so mutig sei – nicht dem Publikum die Zunge herausstrecken wolle? Nein, meint der Angesprochene, er sei gut erzogen. Und doch, prophezeit ihm Cipolla, werde er genau das gleich tun. Der Zauberer starrt ihn mit stechenden, tief in den Höhlen liegenden Augen an und lässt die Reitpeitsche knallen, sein wichtigstes Requisit. Tatsächlich wendet sich der Mann daraufhin dem Publikum zu und streckt lange seine Zunge heraus – um kurz darauf wieder eine unbeteiligte Pose einzunehmen. Die Kinder lachen herzlich, der Erzähler und seine Frau tauschen einen Blick. Das Publikum scheint nicht recht zu wissen, was vor sich geht.

„Bei den jungen Leuten auf den Stehplätzen sah man zusammengezogene Brauen und bohrende, nach einer Blöße spähende Blicke, die dieser allzu Sichere sich geben würde. Er gab sich keine.“ (über Cipolla, S. 41)

Cipolla wendet sich jetzt an die Zuschauer, lobt sich selbst und streicht seinen Ruhm heraus, nicht ohne patriotisch-nationalistische Bemerkungen. Auch hört er nicht auf, gegen den gut aussehenden Mann und vermuteten Frauenliebling von Torre di Venere zu sticheln, den er soeben vorgeführt hat. Dass er immer wieder gehässige Bemerkungen über ihn macht, steht in einem merkwürdigen Widerspruch zu seiner von ihm betonten eigenen Bedeutsamkeit. Cipolla selbst ist zwar hässlich und bucklig, aber er kann reden, und das weiß das Publikum zu schätzen. Als der Zauberer weiter gegen Torre di Venere stichelt, meldet sich der junge Mann wieder und protestiert gegen die Witze, die Cipolla auf Kosten des Städtchens macht. Cipolla zwingt ihn, wiederum mithilfe eines durchdringenden Blicks, in eine verrenkte Pose des Schmerzes. Erst ein Knallen der Reitpeitsche erlöst ihn.

Im Bann des Gauklers

Mit Zahlenspielen geht es weiter. Cipolla schreibt verdeckt eine Zahl an die Tafel. Dann geht er durchs Publikum und lässt sich Zahlen von einzelnen Zuschauern nennen. Oft sind es markante Daten aus der italienischen Geschichte, die ihn zu patriotischen Bemerkungen veranlassen. Die Zahlen werden vorn an der Tafel aufgeschrieben. Als dort etwa 15 Stück stehen, lässt Cipolla sie vom Publikum addieren. Am Ende entspricht die fünfstellige Summe genau jener Zahl, die er selbst anfangs verdeckt aufgeschrieben hat. Die Kinder sind begeistert – ihr Vater aber macht sich Sorgen: Es ist schon spät und das Spektakel ist im Grunde nichts für die Kleinen. Die Mischung aus Willensbeeinflussung, Patriotismus und der selbstgefälligen Gereiztheit Cipollas ist beklemmend. Der Magier leugnet die Beeinflussung nicht, er führt den Prozess sogar noch deutlicher vor Augen, indem er Zahlen „raten“ lässt, die er vorher verdeckt aufgeschrieben hat. Ein Zuschauer bekennt, dass er eigentlich eine andere Zahl habe nennen wollen, bis zu dem Moment, da die Reitpeitsche durch die Luft sauste.

„Übrigens sorgte Cipolla selbst dafür, dass der Charakter seiner Künste jedem irgendwie Wissenden unzweifelhaft wurde, freilich ohne dass ein Name, ein Terminus fiel.“ (S. 65)

Zwischen den einzelnen Nummern trinkt Cipolla Cognac; das scheint er zu brauchen, um seine Spannkraft zu halten, denn zwischendurch sieht er kraftlos und eingefallen aus. Auf die Zahlen- folgen Kartenspiele. Cipolla zieht drei Karten aus einem Spiel, ein Zuschauer ebenso viele aus einem zweiten, und siehe: Es sind die gleichen. Dann geht man zu okkulten Gesellschaftsspielen über: Cipolla findet vom Publikum versteckte Gegenstände. Hier scheinen nun die Rollen vertauscht, der Gaukler sieht wie der Ausführende, dem Publikumswillen Unterworfene aus. Das veranlasst ihn zu Bemerkungen über Volk und Führer, über Befehlen und Gehorchen – dies seien zwei Seiten einer Medaille; wer das eine könne, könne auch das andere. Immer wieder kommt er auf die Willensfreiheit zu sprechen und auf den Unterschied zwischen Wollen und Handeln. Und immer wieder gibt es einzelne Zuschauer, die Anstalten machen, sich offensiv zu widersetzen – doch es gelingt ihnen nie ganz.

Kein Entrinnen

Dem Erzähler ist klar: Cipolla ist ein Hypnotiseur. Der umschreibt seine Handlungen in einem steten Redefluss, ohne freilich den Begriff „Hypnose“ zu verwenden. Für das einfache Publikum sind die gezeigten Phänomene vermutlich nicht so klar einzuordnen. Auch die Kinder verstehen natürlich nicht, worauf die „Wunder“ des Magiers beruhen. Zwischendurch sind sie eingeschlafen, und als Cipolla eine Pause macht, wollen die Eltern sie endlich ins Bett bringen – und lassen sich dann doch, aus ihnen selbst nicht ganz erklärlichen Gründen, ziemlich leicht zum Bleiben überreden.

„Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere.“ (Cipolla, S. 67)

Nach der Pause zielen die Vorführungen noch deutlicher auf die Beeinflussung von Zuschauern ab. Cipolla lässt die Leute unglaubliche Dinge tun: Ein Mann legt sich mit Füßen und Nacken auf zwei Stühle, und der Körper bleibt selbst dann noch starr, als Cipolla sich auf ihn setzt – ein entwürdigender Anblick. Eine Frau lässt er unter Hypnose glauben, sie sei auf einer Reise nach Indien; wieder wach, erzählt sie von ihren Abenteuern. Ein Mann kann auf Cipollas Ankündigung den Arm nicht mehr heben. An der ebenfalls anwesenden Pensionswirtin der Familie statuiert Cipolla ein besonders unheimliches Exempel: Er mimt den bösen Verführer, von dem sich die Frau in Trance buchstäblich wegziehen lässt, ohne dass Cipolla sie berührt – und obwohl ihr Mann ihren Namen ruft, um sie zu zurückzuhalten.

„(...) wer zu gehorchen wisse, der wisse auch zu befehlen, und ebenso umgekehrt; der eine Gedanke sei in dem anderen einbegriffen, wie Volk und Führer ineinander einbegriffen seien (...)“ (Cipolla, S. 71)

Der Hypnotiseur lässt Zuschauer groteske Tänze vollführen. Dabei ist zu beobachten, dass nicht alle gleichermaßen bereit sind, sich hypnotisieren zu lassen. Der Jüngling etwa, der stocksteif zwischen zwei Stühlen gelegen hat, bietet sich geradezu als Versuchsobjekt an und fällt schon in Trance, wenn Cipollas Blick ihn nur streift. Doch es gibt auch Aufständische, die sich der Fremdbestimmung zu widersetzen versuchen: Ein Mann aus Rom fragt, ob Cipolla ihn auch dann zum Tanzen bringen könne, wenn er es ausdrücklich nicht wolle. Cipolla bejaht klar und befiehlt ihm zu tanzen – und der Mann tut es schließlich, obwohl er sich lange Zeit wehrt und zuerst nur hier und da zuckt. Cipolla stellt den Widerstand als anstrengenden und unnützen Kampf zwischen Kopf und Körper dar; erst das vollständige Sich-Fügen in das, was der Körper längst wolle, lasse den Mann wieder eins mit sich selbst werden, vergnügt und entspannt. Dieser Erfolg ist Cipollas Triumph: Niemand zweifelt seine Fähigkeiten mehr an.

„Der Anblick des Unholds im Salonrock, hockend auf der verholzten Gestalt, war unglaubwürdig und scheußlich (...)“ (S. 82)

Mittlerweile ist es weit nach Mitternacht. Die Kinder amüsieren sich gut; obwohl sie immer mal wieder einschlafen, wollen sie unbedingt bis zum Ende bleiben. Das Entehrende und Zwielichtige der Veranstaltung bleibt ihnen verborgen. Ihr Vater weiß, dass sie das eigentlich nicht sehen sollten, aber er kann sich nicht zum Aufbruch durchringen.

Die erlösende Katastrophe

Dann winkt Cipolla Mario auf die Bühne, den Kellner aus dem Strandcafé. Die Familie sieht ihn täglich und mag ihn wegen der verträumten Schwermut, die er ausstrahlt. Mario folgt dem Zauberer zögernd. Cipolla fragt ihn, wie er heiße. Mario? Ein antiker Name! Er grüßt ihn mit schräg erhobenem Arm und beginnt ihn zu verhöhnen: Mit seinem hübschen Halstuch habe er bestimmt Erfolg bei den Mädchen des Städtchens, grinst der Zauberer und provoziert damit ein gemeines Lachen des aufmüpfigen jungen Mannes vom Anfang. Er habe wohl Kummer, sagt Cipolla zu Mario, Liebeskummer. Ein erneutes brutales Lachen des jungen Burschen ertönt. Dieser verrät auch den Namen des Mädchens, welches nichts von Mario wissen will: Silvestra. Ununterbrochen redend geht Cipolla dazu über, sich an die Stelle dieses Mädchens zu setzen; der hypnotisierte Mario nimmt ihm die Rolle ab. Dann fordert der Magier den jungen Mann auf, ihn zu küssen. Und dieser, getäuscht und überglücklich, tut es tatsächlich. Ein Pfeifen der Reitgerte bricht den Bann, und Mario begreift, was er getan hat. Entsetzt stürmt er von der Bühne hinunter, dreht sich ruckartig um – und erschießt Cipolla. Tumult bricht aus. „War das das Ende?“, fragen die Kinder. Sie interpretieren selbst diesen Schluss als Teil der Vorstellung. Ihr Vater ist erleichtert: Ja, es war das Ende, wenn auch eines mit Schrecken.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die etwa 100-seitige Erzählung trägt deutliche Züge einer Novelle: Eine unerhörte Begebenheit wird geradlinig auf einen pointierten Schluss hin erzählt. Der Text weist keine Kapiteleinschnitte auf, es sind aber deutlich zwei Teile zu unterscheiden: das mehr atmosphärisch-allgemeine „Vorspiel“ und der unheilvolle Bühnenauftritt Cipollas. Beides wird zu Beginn in einer gerafften, halbseitigen Einleitung bereits angekündigt und aufeinander bezogen. Die zwei Teile sind außerdem durch ein kunstvolles Motiv- und Personengeflecht miteinander verklammert. So taucht die Pensionswirtin an markanten Punkten in beiden Hälften auf, auch Mario wird schon früh beiläufig eingeführt, und das Thema des gereizten Patriotismus begegnet von Anfang an. Vorausdeutungen auf die finale Katastrophe durchziehen den Text, ohne dass man genau weiß, was passieren wird – das erzeugt Spannung. Die Sprache ist ungemein präzise, gleichzeitig aber auch unprätentiös; manchmal trägt sie gar mündliche Züge. Der Ich-Erzähler und Familienvater bleibt namenlos und hat eine gewisse ironische Distanz zum Geschehen. Er durchschaut Cipollas Kunststücke als Hypnose und empfindet deutlich die Anrüchigkeit seines Vorgehens, er zeigt auch die Jämmerlichkeit seiner Gestalt auf – und ist doch selbst seltsam gebannt und unfähig, die Szenerie vorzeitig zu verlassen. Diese Unfähigkeit versucht er in direkten Ansprachen an nicht näher benannte Zuhörer oder Leser zu erklären und zu rechtfertigen.

Interpretationsansätze

  • Im Mittelpunkt der Novelle steht der Mechanismus von Führertum und Gefolgschaft, versinnbildlicht am Akt der Hypnose: Wie der Diktator dem Volk, so entzieht der Hypnotiseur den Zuschauern ihren individuellen Willen und schaltet sie gleich. Dabei suggeriert er, nichts weiter zu tun als ihnen das erhoffte Spektakel zu bieten.
  • Die Willensfreiheit wird pervertiert: Cipolla bringt es fertig, dass der vergewaltigte und darunter leidende Mensch es irgendwann als Freiheit empfindet, sich dem fremden Willen zu ergeben – als wohltuende Erlösung vom Leiden am Widerstand, auch wenn es in Wirklichkeit eine Befreiung zum tanzenden Hampelmann ist. Das zeigt: Autoritäre Herrschaft vollendet sich darin, dass sie das Gefängnis, in das sie die Menschen sperrt, als Freiheit erscheinen lässt. Cipollas Reitpeitsche steht symbolisch für diese entwürdigende, von Einzelnen aber geradezu lustvoll erlebte Unterwerfung unter einen fremden Willen.
  • Der Zauberer vertraut auf sein rhetorisches Geschick – eine Gabe, die ihn mit den meisten Diktatoren verbindet. Wiederholt stellen Zuschauer fest, wie gut er reden kann, obwohl der Inhalt seines ununterbrochenen Sprechens nur negativ ist: prahlerisch, menschenverachtend, neidisch und gehässig.
  • Cipolla ist auch ein Künstlertyp – mit all den problematischen Eigenschaften, die Thomas Mann in vielen seiner Werke mit diesem Typus verbindet. Das Maßlose, Zweideutige, Orgiastische und Dämonische, das stets im Gegensatz zum geordnet Bürgerlichen steht, ist in Cipolla auf die Spitze getrieben. Diesen Künstleraspekt und diese Verwandtschaft mit sich selbst sah Mann sogar in Hitler, wie er in seinem Aufsatz Bruder Hitler (1939) darlegte.

Historischer Hintergrund

Faschismus in Italien und Deutschland

Thomas Mann hatte ein feines Gespür für das zunehmend aggressive, nationalistische Klima in Italien nach dem Ersten Weltkrieg. Das Königreich, zunächst neutral, war 1915 auf alliierter Seite in den Krieg eingetreten – wegen großer Gebietsversprechungen durch die Alliierten. Der Krieg trieb das Land aber 1917 fast in den militärischen und politischen Ruin. Entsprechend angespannt war die innenpolitische Lage danach: Breite Bevölkerungsschichten drängten auf soziale Verbesserungen, die ihnen während des Kriegs als Anreiz zum Durchhalten in Aussicht gestellt worden waren. Nun aber vergaßen die herrschenden Eliten ihre Versprechungen und wollten ihren Besitzstand wahren. Ihnen kamen die faschistischen Kampfbünde zu Hilfe, die sich ab 1919 unter der Führung Benito Mussolinis bildeten und die durch Gewalt und Terror politische Gegner einschüchterten. 1921 beendeten sie einen Generalstreik, was ihre Macht enorm steigerte und ihren bewaffneten Marsch auf Rom ermöglichte. Das staatliche Militär wäre ihnen zwar überlegen gewesen, doch aus Angst vor einem Bürgerkrieg leistete König Vittorio Emanuele III. keinen Widerstand. Er ernannte Mussolini zum Ministerpräsidenten. 1926, im Jahr des Italienurlaubs der Familie Mann, waren alle politischen Gegner bereits ausgeschaltet, und Mussolini vereinte die zentralen Ämter in seiner Person. An die Stelle terroristischer Gewaltanwendung war die repressive, diktatorische Staatsgewalt getreten.

In der Zeit zwischen Manns Italienurlaub 1926 und der Niederschrift von Mario und der Zauberer 1929 erstarkte der Faschismus auch in Deutschland. Adolf Hitlers Aufstieg nahm in München seinen Anfang, wo die Manns lebten. Als die konservativ-nationalistische Deutschnationale Volkspartei sich mit der revolutionären Splitterpartei NSDAP verbündete, wurden deren hemmungslose Propaganda und Gewaltbereitschaft salonfähig. 1928 kamen 16 000 Menschen in den Berliner Sportpalast, um Hitler reden zu hören. Die Wirkung des Demagogen auf die Massen, zusammen mit der schlechten wirtschaftlichen Lage und der Massenarbeitslosigkeit, sorgte für eine bedrohlich aufgeladene Atmosphäre im Land.

Entstehung

Thomas Mann schrieb die Erzählung 1929 nieder, während eines Urlaubs im Ostseebad Rauschen. Er wollte sich beim Schreiben eines kürzeren Textes von der rechercheaufwändigen Arbeit an dem Romanzyklus Joseph und seine Brüder erholen. Die Handlung von Mario und der Zauberer basiert auf realen Erlebnissen während des Italienurlaubs von 1926, den das Ehepaar Mann mit den beiden jüngsten Kindern verbrachte. Beinahe alles ist aus der Realität übernommen: Es gab diese unangenehmen Hotel- und Stranderlebnisse und vor allem den Hypnosekünstler tatsächlich – nur der tödliche Schluss ist erfunden. Cipolla und auch Torre di Venere (zu Deutsch: „Turm der Venus“) sind allerdings fiktive Namen.

Mario und der Zauberer lässt sich als Antwort auf Heinrich Manns Roman Die kleine Stadt (1909) lesen, der den gemeinsamen Italienaufenthalt der Brüder in den Jahren 1896–1898 verarbeitet. Es geht darin um die Aufführung einer wandernden Theatertruppe in einem Städtchen – und den Sieg der liberalen und fortschrittlichen Kräfte innerhalb dieser Kommune. Eine Nebenfigur heißt Cipolla, und auch ein Venustempel kommt darin vor. Heinrichs um einiges früher geschriebenes Buch ist allerdings weitaus optimistischer als Thomas’ Novelle. Nicht zu unterschätzen ist schließlich der Einfluss der Schriften Sigmund Freuds. Der Psychoanalytiker befasste sich sowohl mit Massenpsychologie, die in Mario und der Zauberer eine wichtige Rolle spielt, als auch mit Hypnose. Letzteres Phänomen war Mann bereits vor der Aufführung des italienischen Hypnosekünstlers aus eigener Anschauung bekannt. Er hatte Anfang der 1920er Jahre in München an mehreren Séancen eines Hypnoseforschers teilgenommen und darüber auch Berichte geschrieben, worin er die umstrittene Mentaltechnik gegen Fälschungsverdacht verteidigte.

Wirkungsgeschichte

Gleich nach ihrer Veröffentlichung 1930 wurde die Erzählung von der zeitgenössischen Literaturkritik begeistert begrüßt. Handlungsaufbau und Sprache lobte man als meisterlich. Politische Deutungen gab es in diesen ersten Reaktionen nur vereinzelt – wenn doch, dann verwahrte man sich gegen die simple Gleichsetzung Cipollas mit Mussolini. Thomas Mann selbst hat die Erzählung rückblickend als politische Warnung vor dem Wesen des Diktators gedeutet, und viele Interpreten sind ihm darin gefolgt. Andere wiederum warnten gerade vor dieser nachträglichen politischen Auslegung angesichts der veränderten historischen Lage. In jedem Fall hängt die Gewichtung der Novelle in Thomas Manns Gesamtwerk auch heute noch davon ab, wie viel symbolisch-politischen Gehalt man ihr zuschreibt. So schwanken die Bewertungen zwischen „Meisterwerk“ und „Gelegenheitsarbeit“. 1994 verfilmte Klaus Maria Brandauer die Novelle; er selbst spielte den Cipolla.

Über den Autor

Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Er ist der zweite Sohn einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie, sein älterer Bruder Heinrich wird ebenfalls Schriftsteller. Thomas hasst die Schule und verlässt das Gymnasium ohne Abitur. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1894 nach München, dort arbeitet Mann kurzfristig als Volontär bei einer Feuerversicherung. Als er mit 21 Jahren volljährig ist und aus dem Erbe des Vaters genug Geld zum Leben erhält, beschließt er, freier Schriftsteller zu werden. Er reist mit Heinrich nach Italien, arbeitet in der Redaktion der Satirezeitschrift Simplicissimus und schreibt an seinem ersten Roman Buddenbrooks, der 1901 erscheint und ihn sofort berühmt macht. Der Literaturnobelpreis, den er 1929 erhält, beruht vor allem auf diesem ersten Buch – Mann, nicht uneitel, erwartet die Auszeichnung allerdings schon 1927. Trotz seiner homoerotischen Neigungen heiratet er 1905 die reiche Jüdin Katia Pringsheim. Sie haben sechs Kinder, darunter Klaus, Erika und Golo Mann, die ebenfalls als Schriftsteller bekannt werden. Weil Thomas den Ersten Weltkrieg zunächst befürwortet, kommt es zwischen ihm und seinem Bruder Heinrich zum Bruch, der mehrere Jahre andauert. 1912 erscheint die Novelle Der Tod in Venedig, 1924 der Roman Der Zauberberg. In den 1930er Jahren gerät er ins Visier der Nationalsozialisten, gegen die er sich in öffentlichen Reden ausspricht; seine Schriften werden verboten. Nach der Machtergreifung Hitlers kehrt er von einer Vortragsreise nicht mehr nach Deutschland zurück. Zunächst leben die Manns in der Schweiz, 1938 emigrieren sie in die USA, 1944 nimmt Mann die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1947 erscheint Doktor Faustus, eine literarische Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft. Nach dem Krieg besucht Thomas Mann Deutschland nur noch sporadisch; die von ihm vertretene Kollektivschuldthese verschafft ihm nicht nur Anhänger. Als die Manns 1952 nach Europa zurückkehren, gehen sie wieder in die Schweiz. Thomas Mann stirbt am 12. August 1955 in Zürich.

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