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Mars

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Mars

Fischer Tb,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Die Streitschrift eines Todkranken, der die Gesellschaft und Gott für sein Unglück hasst, war 1977 ein Schock – und wurde zum Kultbuch.


Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Rundumschlag eines Todkranken

Mars ist die wahre Geschichte eines jungen Menschen, der nach eigenem Bekunden an seinem Umfeld zugrunde geht. Als der depressive Lehrer Fritz Zorn erfährt, dass er Krebs hat, blickt er unerbittlich auf sein nicht gelebtes Leben zurück. Obwohl er aus Rücksicht auf seine Eltern ein Pseudonym verwendet, ist der Autor in seiner Abrechnung alles andere als schonungsvoll, auch nicht sich selbst gegenüber. Mit beißendem Sarkasmus konstatiert er sein eigenes Versagen. Die Schuld dafür nimmt er allerdings nicht auf sich: Die gibt er seinen Eltern und der herzlosen bürgerlichen Gesellschaft der Zürcher „Goldküste“. Schließlich richtet er seinen verzweifelten Hass gegen Gott, der all das Leid duldet. Das streitbare Testament eines Todkranken sorgte 1977 für einiges Aufsehen. Zum Schlüsselbuch wurde es für die revoltierende Zürcher Jugend der 80er Jahre, die wohlbehütet aufgewachsen war, aber den Bruch mit einer Gesellschaft suchte, die sie als erstarrt und erstickend empfand.

Take-aways

  • Fritz Zorns Mars ist die Abrechnung eines Todkranken mit einer verhassten Gesellschaft und erregte 1977 einiges Aufsehen.
  • Inhalt: Der Lehrer Fritz Zorn, aufgewachsen in einer reichen Zürcher Familie, erkrankt nach jahrelangen Depressionen 30-jährig an Krebs. Im Angesicht des Todes zieht er Bilanz über sein unglückliches Leben. Er gibt seinen Eltern und der Gesellschaft die Schuld, dass er nie jemanden lieben konnte, und glaubt, dass er letztlich „zum Krebs erzogen“ wurde.
  • Fritz Zorn ist ein Pseudonym, das Fritz Angst, so der bürgerliche Name des Autors, auf Anraten seines Mentors Adolf Muschg wählte.
  • Wenige Stunden vor seinem Tod erhielt der Autor die ersehnte Nachricht, dass das Buch veröffentlicht werden sollte.
  • Die radikale, blasphemische Todeswut des Buchs faszinierte und inspirierte die 80er-Protestbewegung in Zürich.
  • Die Idee, dass Krebs soziologisch bedingt sein könnte, birgt Zündstoff für die Schulmedizin und wird bis heute diskutiert.
  • Das Buch ist von Zynismus und Sarkasmus durchtränkt, was am Ende in gnadenlose Gotteslästerung mündet.
  • Der Titel ist eine Anspielung auf den römischen Kriegsgott und weist das Werk von Anfang an als Kampfschrift aus.
  • Das Buch wurde mehrmals dramatisiert und 1983 in Heidelberg als Oper inszeniert.
  • Zitat: „Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein.“

Zusammenfassung

Problemlose Kindheit, logische Krankheit

Der 30-jährige Gymnasiallehrer Fritz Zorn ist an Krebs erkrankt. Er beschließt, einen Bericht über sein Leben zu verfassen. Seine Krankheit sieht er als logische Folge des Milieus, in dem er aufgewachsen ist: Sein Vater ist ein Millionär von der Zürcher Goldküste, sein Elternhaus ausgesprochen bürgerlich. Den Ausbruch seiner Krankheit empfindet Zorn auch als Glück: Jahrelang war er schwer depressiv und jetzt geht es ihm besser als zuvor. Er ist überzeugt, dass sein Krebs neurotisch bedingt ist und dass man ihn „zu Tode erzogen“ hat.

„Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein.“ (S. 27)

Zorn hat seine Kindheit in der „besten aller Welten“ verbracht: So harmonisch es im Elternhaus zugeht, so verlogen ist die Erziehung. Probleme darf es nicht geben. Deshalb sind aus Prinzip stets alle der gleichen Meinung. Diskussionen finden nicht statt. Brisante Themen wie Politik, Sexualität, Geld oder Religion werden totgeschwiegen. Alles ist in Ordnung, lautet die Devise im Elternhaus. So verleugnet die Mutter der Harmonie zuliebe ihre eigenen Gefühle. Und Fritz wird zum Jasager, der keinen Geschmack hat. Ohne eigene Urteilskraft übernimmt er Vorstellungen von „höherer Kunst“. Er hört nur „gute“ Musik, also klassische, und liest nur „gute“ Bücher. Jazz und Schlager hält er für Schund, ohne sie jemals gehört zu haben. Seine Erziehung, die wohl sehr ähnlich ist wie die vieler anderer junger Leute aus gutbürgerlichem Milieu, hat Konsequenzen: Aus falscher Höflichkeit ist er anderen gegenüber nie ehrlich und findet keine Freunde.

Ein braver Schüler

Zorns Eltern pflegen einen übertriebenen, falschen Respekt gegenüber Angestellten. Auch wenn sie Besuch haben, heucheln sie. Sie sind gute Gastgeber, aber miserable Gäste und versuchen, alle Anlässe bei sich zu veranstalten, hauptsächlich aus dem egoistischen Grund, nie dankbar sein zu müssen. Neben den „respektablen“ Leuten – Doktoren, Direktoren etc. – kennen sie auch die „die Lächerlichen“. Das sind Menschen, die im Gegensatz zur Familie Zorn im Leben etwas tun, sagen oder meinen. So blamieren sie sich und tragen zum Amüsement am Salontisch bei. Die Zorns tun lieber gar nichts und vermeiden so, sich eine Blöße zu geben. Das Leben läuft an ihnen vorbei wie ein Film. Ihr herablassender Blick auf die anderen hinterlässt bei Fritz Spuren: Auf der Straße hat er oft Angst, dass andere ihn lächerlich finden. Ganz besonders, wenn er Mädchen begegnet.

„Meine Familie ist ziemlich degeneriert, und ich bin vermutlich auch ziemlich erblich belastet und milieugeschädigt. Natürlich habe ich auch Krebs, wie es aus dem vorher Gesagten eigentlich selbstverständlich hervorgeht.“ (S. 27)

Fritz besucht die Mittelschule in Zürich. Er ist ein guter Schüler, flucht nicht, ist folgsam und stellt nie etwas an. Nur im Turnen versagt er und läuft vor Scham ständig rot an. Als problemloser, aber schwächlicher Außenseiter absolviert er seine Schulzeit seltsam abwesend. Zwar versucht er sich durch die Vorliebe für ausgefallene Kunst das Image eines originellen Freaks zu geben, doch das täuscht nicht darüber hinweg, dass er hinter seinen Altersgenossen zurückgeblieben ist: Er hat keine Ahnung von Geld. Er weiß nicht, was gut und böse ist. Und das Schlimmste: Er hat nie eine Freundin gehabt. Trotz Tanzkursen kommt er nicht in Kontakt mit Mädchen und macht sich deshalb Vorwürfe.

Beginn einer Depression

Religion und Sex sind Tabuthemen bei den Zorns. Die Eltern sind vollkommen areligiös, doch sie halten die Kirche grundsätzlich für etwas Gutes – bloß nicht für sich selbst. Über Sexualität wird getreu dem lebensfeindlichen, protestantischen Prinzip nie gesprochen. Erst im Gymnasium wird Fritz aufgeklärt. Wie an alle Vorschriften hält er sich auch an die Tabus. Er entwickelt einen Reinlichkeitsfimmel und eine spezielle Scheu vor Mädchen. Gesellschaftliche Formen wie etwa das Grüßen pflegt er gewissenhaft, doch in der Liebe ist er unfähig. Er hat zwar eine ausgeprägte Korrektheit entwickelt, aber keine Persönlichkeit. Gegen Ende der Gymnasialzeit merkt der 18-Jährige, wie unnormal er ist, obwohl er nie Probleme hatte. Die Erkenntnis dieser Andersartigkeit stürzt ihn in eine Depression.

„Jeder reiche Zürcher hat schließlich einen Herzinfarkt und ein Magengeschwür; bloß fällt ihm nichts Gescheites ein dazu.“ (S. 50)

In diesem Zustand beginnt er sein Germanistikstudium an der Universität Zürich. Er kleidet sich ausschließlich schwarz. Nach außen führt er das Leben des problemlosen und guten Studenten. Sein Interesse für Literatur, mit dem er sich im Gymnasium noch profilieren konnte, ist nun allerdings nichts Spezielles mehr. Auch betrübt es ihn, dass er immer noch keine Freundin hat. Er fühlt sich wie ein vertrockneter Greis und Versager, mitunter gibt er auch dem Wetter die Schuld an seiner schlechten Laune. Indem er seinen wahren Gemütszustand verdrängt, entwickelt er allmählich eine Neurose. Gleichzeitig sucht er sich Freunde in den Büchern. Er beginnt auch, selbst Kurzgeschichten und Gedichte zu schreiben, verbrennt sie aber – obwohl sie ihm gefallen. Die Eltern schicken ihren Sohn in eine Psychotherapie, doch die fruchtet nichts.

Erfolg und Einsamkeit

Mit der faktischen Freiheit an der Universität verliert Zorn die Ausreden, mit denen er sich seine Langeweile erklärt hat. Ihm fällt nichts ein, was er nach den Vorlesungen tun könnte, und er geht jeweils nach Hause. So vereinsamt er mehr und mehr. Von den Germanisten wechselt er zu den Romanisten. Hier fühlt er sich zu Hause. Die Universität wird wie einst sein Elternhaus zur Muschel, in die Zorn sich zurückzieht. Bei jeder Gelegenheit macht er mit irgendwem Pause, bis sein Tag fast nur noch aus Pausen besteht. So verschafft er sich eine Vielzahl oberflächlicher Bekanntschaften. Er verbringt ganze Tage im Lichthof der Uni beim Kaffeeklatsch. Geldsorgen hat er keine. Seine Eltern spendieren ihm Ferien, doch im Ausland ist Zorn noch viel unglücklicher als daheim.

„Es klingt wie ein Paradox, aber es ist keines: Je besser es mir ging, desto schlechter ging es mir.“ (S. 126)

Vor einem Besuch beim Psychiater drückt er sich, weil es ihm äußerlich wieder besser geht. Er macht intensives Körpertraining und kann plötzlich tanzen, was er im Gymnasium nie geschafft hat. Das lässt ihn sportlich und unverkrampft aussehen, viel normaler als früher. Als Autor von Uni-Theaterstücken hat er einigen Erfolg. In seinem Elternhaus gibt er sogar ganz leidliche Partys. Je beliebter er wird, desto grundloser erscheint ihm seine schwere Gemütslage. Die chronische Depression ist kaum erklärbar. Dieses Paradox belastet ihn zusätzlich. Rätselhaft findet er mittlerweile auch, dass ihm jegliche Erfahrung in dem fehlt, was das Wichtigste überhaupt zu sein scheint: Liebe und Sexualität.

„Aber man darf in der Liebe kein Versager sein; wer zur Liebe nicht fähig ist, mit dem ist gar nichts los.“ (S. 170)

Gegen Ende des Studiums zieht Fritz Zorn in eine Wohngemeinschaft. Beim Einrichten entdeckt er endlich den eigenen Geschmack. Fritz geht nie aus. Stattdessen beginnt er, bei Sonnenuntergang den Lichtreflexen nachzustarren und dazu traurige Gedichte zu zitieren. Diese Traueranfälle überkommen ihn immer wieder. Mit den Worten portugiesischer Dichter klagt er laut über Tod und Einsamkeit. Er leidet an Schlaflosigkeit und kleidet sich nur noch schwarz. Weil sein Vater inzwischen gestorben ist, hat er finanziell ausgesorgt und hätte eigentlich allen Grund, wunschlos glücklich zu sein. Doch die Erbschaft bleibt ebenso unberührt wie er selbst. Dabei klagt er aber nie und fragt sich nur leise, ob er vielleicht homosexuell sein könnte. Doch eigentlich ist das egal: Beziehungsunfähig ist er so oder so. Mit seiner seit Jahren andauernden Depression hat er sich arrangiert. Stundenlang kritzelt er die Wörter „tristeza“ oder „soledad“ auf Papier. Zudem hat er seltsame Visionen, die sich um Tod und Trauer drehen. Er erkennt diese Träume als Hilferufe seiner Seele.

Krebs als Chance

Auf einmal geht es ihm überhaupt nicht mehr gut. Die Depression verschlimmert sich. Praktisch gleichzeitig bildet sich am Hals ein Krebsgeschwür. Fritz betrachtet es von Anfang an als logische Folge des jahrelang in sich hineingefressenen Unglücks, als Ausdruck seiner „verschluckten Tränen“. Er sieht im Krebs aber auch die Chance zur Wiedergeburt und ist froh, dass das Leid, das ihn seit jeher gequält hat, endlich benannt werden kann. Fast dankbar nimmt er die Krankheit als möglichen Ausweg aus seiner Resignation an. Er unterzieht sich erneut einer Psychoanalyse und erkennt, dass es ihm stets miserabel ging, weil er wegen seiner „seelischen Impotenz“ nicht lieben konnte. Er sieht sich als einen emotionalen Idioten, der sich mit seiner Neurose tröstete. Sein ganzes bisheriges Leben erscheint ihm jetzt als völlig falsch und krank, seine Jugend als konsequente Zerstörung seiner Persönlichkeit.

„Ich bin in der besten und heilsten und harmonischsten und sterilsten und falschesten aller Welten aufgewachsen; heute stehe ich vor einem Scherbenhaufen.“ (S. 181)

Während sich der Krebs in seinem Körper ausbreitet, raubt ihm die Psychotherapie die Illusion, dass sein bisheriges Leben heiter gewesen sei. Seine Geselligkeit war stets nur gespielt. Um wieder aufzuerstehen, will er sein ganzes bisheriges Ich zerstören. So bleibt nach der Therapie zwar nur noch ein Häufchen Elend, die Depressionen aber sind auf einmal verschwunden. Zorn kann sich wieder über kleine Dinge freuen und zeigt Gefühlsregungen. In der wichtigsten Sache der Welt hat er freilich gänzlich versagt: Er hat nie jemanden geliebt.

„Da antwortete Hiob dem Herrn und sprach: Du hast Recht. Ich anerkenne, dass du der gemeinste, widerlichste, brutalste, perverseste, sadistischste und fieseste Typ der Welt bist. (...) Du hast die Gestapo, das KZ und die Folter erfunden; ich anerkenne also, dass du der Größte und der Stärkste bist. Der Name des Herrn sei gelobt.“ (S. 187)

Nüchtern betrachtet er seine zwei Möglichkeiten: den Tod und die Chance auf Heilung. Die Hoffnung, dass er überleben könnte, gibt seinem Leben eine neue Qualität. Aber auch der Tod aus Liebesmangel wäre insofern nicht nutzlos, als er, Fritz Zorn, dafür ein perfektes Beispiel abgeben würde, ein Beispiel, das anderen vielleicht sogar helfen könnte. Dass er ein Einzelfall ist, glaubt er nicht; vielmehr ist er sicher, dass es am Zürichsee von Menschen wimmelt, denen es ähnlich geht wie ihm. Er will alles, was ihn zerfrisst, also seine Herkunft und sein soziologisches Erbe, loswerden und stellt astrologische Überlegungen an: Als Sternzeichen Widder ist er ein marsisches Wesen, dem Gott des Krieges und der schöpferischen Kraft zugehörig. Wenn aber einem solchen Wesen die Angriffsfläche fehlt, zerstört es sich selbst und gerät in den Bannkreis des Krebses, des Passiven und Unbewussten.

Ein Vulkan voller Hass

Die gesundheitliche Lage verschlimmert sich weiter. Der Krebs hat sich im ganzen Körper ausgebreitet und steckt in den Knochen. Vor dem Scherbenhaufen einer heilen Welt stehend, zieht Zorn den Tod vor: „Lieber Krebs als Harmonie.“ Seine Todesangst ist gering im Vergleich zu dem Vulkan von Hass und Verzweiflung, der in ihm ausbricht. Er schreibt weiter, weil er das Leid seiner Seele hinausschreien muss. Sein Hass richtet sich gegen die bürgerliche Gesellschaft, die ihre eigenen Kinder frisst. Er verflucht auch Gott, der so eine Welt überhaupt zulässt, und bezeichnet ihn in Hiobs Namen als „das größte Schwein des Universums“. Er möchte aus seiner Haut schlüpfen, wenn nötig durch Selbstmord. Doch vorerst kämpft er noch darum, seine Vergangenheit zu besiegen. Der Gedanke, dass alles im Leben einen Sinn habe, auch Unglück und Leid, ekelt ihn an.

„Dreißig Jahre lang habe ich nun zwar körperlich existiert, bin aber ebenso lange seelisch tot gewesen.“ (S. 196)

Zorn erfährt, dass er gar nicht an Krebs, sondern an einem „malignen Lymphom“ leidet, was für einen Laien allerdings auf dasselbe hinausläuft. Es ändert nichts an seinen Perspektiven, und die körperliche Heilung ist für ihn ohnehin zweitrangig geworden. Als ihm klar wird, dass seine Zeit abläuft, will er nur noch Klarheit über die Urheber seines Leidens. Zorn sieht sich als Abfallprodukt der bürgerlichen Vorurteile und Frustrationen. Doch er will die Reste seiner Persönlichkeit aus dem Abfall retten. Als das grundlegende Übel bestimmt er seine Eltern. Er sieht sich gezwungen, sie zu hassen. Sein Vater und seine Mutter, die noch lebt, waren als Personen zwar nicht schlecht, jedoch böse in ihrer Wirkung auf das Leben ihres Sohnes. Er glaubt, dass er seine Eltern erst dann überwunden hat, wenn sie ihm vollkommen egal sind.

Geräuschvoller Abgang

Fritz Zorn wehrt sich dagegen, seinen Tod einfach so hinzunehmen. Wenigstens soll seine Klage zur Besserung der Gesellschaft beitragen. Er sieht sich nicht als einzelnes Opfer, sondern als typischen Fall, allerdings als Extrembeispiel mit tödlichen Folgen. Das Böse, das er im Übermaß abbekommen hat, zeigt sich auch in der Sehnsucht nach Ruhe, die in Zürich herrscht: Die Grabesruhe wird als Tugend gepflegt und gegen alles verteidigt, was stört. Dieses Geruhsame ist für Zorn das größte Verbrechen der Gesellschaft und seiner Familie: Man lässt Talente brachliegen und lebt nichts aus. Mit dem Krebs erlebt Fritz nun wenigstens etwas, anders als die Eltern. Er kommt zum Schluss, dass man stören muss, um gelebt zu haben.

„Meine Lebensgeschichte bedrückt mich zu Tode, aber sie leuchtet mir ein.“ (S. 197)

Obwohl er seine Eltern nicht hassen kann, spricht er sie schuldig. Sie haben es zwar gut gemeint mit ihm, aber es ist etwas Schlechtes dabei herausgekommen. Jammernd sieht er sich als Teil des aufheulenden Universums, als Krebszelle der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die Todesfälle wie ihn produziert, muss selbst todgeweiht sein. Deshalb erwartet er eine baldige Revolution, die die Gesellschaft heilt. Dass er dazu beiträgt, ist ein möglicher Sinn seines Todes. Das tröstet ihn allerdings nicht, sein Gotteshass bleibt. Gott vernichtet ihn durch den Krebs, und Zorn schlägt zurück, indem er Gottes monströses Zerstörungsprogramm entlarvt. Gott ist „das regionale Böse“, das gerade in seiner zürcherischen Ausprägung äußerst schlecht ist. Aber Gott ist zum Glück nicht überall. Im Todeskampf gegen die zerstörerische Weltordnung bleibt Fritz Zorn die Hoffnung auf den Teufel. Den will er unterstützen, solange er kann.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten, „Mars im Exil“, erzählt Fritz Zorn seine Kindheit sowie die von Depressionen dominierten Studienjahre nach. Rückblickend kommentiert er seine damaligen Einschätzungen, die sich im Verlauf seiner Krankheit radikal geändert haben. Der zweite und der dritte Teil (betitelt mit „Ultima Necat“ und „Ritter, Tod und Teufel“) sind kürzer als der erste und wurden mit ein paar Monaten Abstand zu diesem geschrieben. Zorn beschäftigt sich darin mit den Ursachen seiner Krankheit und der Schuldfrage. Im Stil einer klinischen Analyse beschreibt er, wie sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert. Dabei bezeichnet er sich konsequent als exemplarischen Fall und spart Details weitgehend aus. Das Körperliche ist im Text so abwesend wie in Zorns Leben selbst, die Sprache ist betont nüchtern. Die rücksichtslose Selbstbetrachtung der eigenen verzweifelten Lage ist von Zynismus und Sarkasmus durchtränkt, gelegentlich blitzt lakonischer Galgenhumor auf. Am Schluss des Buches steigert sich der Autor in eine gnadenlose Gotteslästerung hinein. Die kühle, geradezu elegante Sprache kontrastiert mit der kochenden Seele des Autors.

Interpretationsansätze

  • Mars ist eine Abrechnung mit der Zürcher Oberschicht, der Fritz Zorn nach eigenem Empfinden seinen Tod verdankt. Als er keine Hoffnung mehr auf Heilung hat, wird der Krebskranke selbst zum Krebs: Seine Gedanken sollen sich in der verhassten Gesellschaft ausbreiten und sie zerstören.
  • Die Idee, dass Krebs sozial bedingt sei, kursierte lange bevor Fritz Zorn seinen Text schrieb. Schon der amerikanische Psychologe Wilhelm Reich interpretierte die Krankheit als Folge unterdrückter Gefühle. Die Publizistin Susan Sontag nahm in ihrem Essay Krankheit als Metapher die Gegenposition ein: Die metaphorische Deutung von Krebs in der Literatur sei ein rein kulturelles Konstrukt. Diese Meinung entspricht auch dem heutigen medizinischen Forschungsstand.
  • Der Titel Mars bezieht sich auf den römischen Kriegsgott – das Buch ist eine Kampfschrift. Zorn kämpft nicht nur gegen den Tod, sondern auch gegen die Gesellschaft und gegen Gott. Der von ihm verwendete, auf die Nazis zurückgehende Begriff des „totalen Kriegs“ richtet sich gegen einen Gott, der Gräuel und Leiden zulässt.
  • Mars ist ein resolut antichristliches Manifest. Worin konkret die Hoffnung besteht, die Zorn zum Schluss auf den Teufel setzt, bleibt allerdings fraglich. Klar ist nur, dass ihm alles besser scheint als die verlogene, sich aufs Christentum berufende Moral seiner Heimat.
  • Zorn nutzte das Schreiben als Überlebensstrategie. Schon vor der Niederschrift von Mars diente ihm diese Tätigkeit als Therapie. Die größten sozialen Erfolge seines Lebens errang er mit den Theaterstücken an der Uni.
  • Zorns präzise, elegante Sprache ist ein perfekter Ausdruck des Ordnungsprinzips, an dem er verzweifelt. Er hat die rigorose Gesellschaftsordnung so verinnerlicht, dass er ihr auch sprachlich nicht mehr entkommen kann.

Historischer Hintergrund

Die Schweiz der 1970er Jahre

Im Zweiten Weltkrieg blieb die Schweiz nicht nur von Zerstörung verschont, sondern profitierte sogar wirtschaftlich. Und in den 30 goldenen Jahren der Nachkriegszeit konnte das Land seinen Vorsprung behaupten und vergrößern. Durch den Ausbau des Sozialstaates profitierten breite Kreise vom wirtschaftlichen Wohlstand, es herrschte grenzenloser Fortschrittsoptimismus. Die Arbeitslosigkeit tendierte gegen null, und wenn es gesellschaftliche Schwierigkeiten gab, etwa die von vielen Intellektuellen beklagte „Enge“ des Landes, dann waren dies im Weltvergleich Luxusprobleme. Politisch war die Schweiz im Kalten Krieg ein Sonderfall. Ende der 70er Jahre stand die vom historischen Zufall begünstigte und von einem strengen Arbeitsethos geprägte „heile Schweiz“ im Zenit ihres Erfolgs.

Doch dann wurde die beschauliche Ruhe der Nation zunehmend von den Einflüssen der Hippiekultur gestört und von sozialkritischen Protestbewegungen herausgefordert. Die Jugend empfand die etablierte Ordnung mehr und mehr als goldenen Käfig und forderte politischen Freiraum. Im protestantischen Zürich war das bürgerliche Korsett besonders eng geschnürt. Die puritanischen Gesetze und Gepflogenheiten schränkten noch bis weit in die 80er Jahre das Leben der Jugend ein.

Nachdem die bürgerliche Ordnung bereits im Sommer 1968 beim so genannten Globuskrawall provoziert worden war, versuchte die Zürcher Jugend im Mai 1980 erneut, die Ketten des Spießertums zu sprengen. Die Diskussion um ein autonomes Jugendzentrum führte zu Scharmützeln mit der Polizei. Mehrere Jahre lang blieb die Gesellschaft gespalten in ein bürgerliches Lager mit traditionellen, konservativen Idealen und einer von der Popkultur beeinflussten, staatskritischen jüngeren Generation mit Parolen wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ und „Freier Blick aufs Mittelmeer – Sprengt die Alpen“.

Entstehung

Die drei Abschnitte der Autobiografie Fritz Zorns wurden von April bis Juli 1976 niedergeschrieben, also im Todesjahr des Verfassers. Ausgelöst wurden die Aufzeichnungen durch eine Psychoanalyse, der sich der 31-jährige Gymnasiallehrer unterzog, nachdem er an Krebs erkrankt war. Wegen seiner Krankheit musste er die Arbeit aufgeben. Er hielt sich vorerst in Zürich auf und flüchtete später zu einer befreundeten Familie nach Comano im Tessin. Dort beendete er seine Aufzeichnungen.

Über einen Buchhändler gelangte das Manuskript Anfang Oktober 1976 zum Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg mit der Bitte, es zu prüfen. Muschg leitete es an den Kindler Verlag weiter und riet dem todkranken Autor, für die Publikation aus Rücksicht auf familiär Betroffene ein Pseudonym zu verwenden. Der Verleger zögerte vorerst noch, doch der Psychotherapeut von Fritz Zorn drängte ihn zu einem Entscheid. Der todkranke Autor lag mittlerweile in kritischem Zustand im Spital und wünschte sich sehnlichst eine Veröffentlichung.

Am Vorabend seines Todes erfuhr Zorn von seinem Psychotherapeuten, dass das Manuskript publiziert werden sollte. Gemäß Muschg hat der Todkranke die erlösende Nachricht noch wahrgenommen.

Die dürftigen biografischen Anhaltspunkte zum Autor und die Tatsache, dass Adolf Muschg das Manuskript einem Verleger anbot, nährten Spekulationen darüber, dass Muschg selbst hinter dem Pseudonym Fritz Zorn stecken könnte. Das schockierende Sterbeszenario des Autors wäre demnach nur fingiert. Muschg selbst bestritt diese Unterstellung stets vehement, und es gab auch keinerlei konkrete Hinweise, die sie bekräftigt hätten.

Wirkungsgeschichte

Mars wurde 1977 veröffentlicht und war ein großer Verkaufserfolg. Schon im ersten Jahr nach Erscheinen wurde das Buch sechsmal aufgelegt. Dass der Autor wenige Monate nach Beendigung des Werks gestorben war, mag ein zusätzlicher Erfolgsfaktor gewesen sein. Jedenfalls erregte das Buch einiges Aufsehen. Mars wurde nicht zuletzt wegen seiner erbarmungslosen Radikalität zu einem Kultbuch der frühen 1980er Jahre und der Autor zum Märtyrer eines lebensfeindlichen Bürgertums. Seine Kriegserklärung an die feine Gesellschaft war wegweisend für die Jugendunruhen von 1980 in Zürich. Zorns Buch wurde mehrmals dramatisiert und 1983 in Heidelberg sogar als Oper inszeniert. Für die Literaturkritik und die Psychologie bleibt Fritz Zorns Werk bis heute ein ergiebiges Thema, und die Diskussion über psychosomatische Krankheiten dauert bis in die Gegenwart an.

Über den Autor

Fritz Zorn, bürgerlich Fritz Angst, wird am 10. April 1944 in Meilen im Kanton Zürich geboren. Seine Kindheit und Jugend verbringt er am rechten Zürichseeufer, an der so genannten Goldküste. Er wächst als Sohn einer großbürgerlichen, reichen und strengen Familie auf. Nach der Matura studiert er an der Universität Zürich Germanistik und Romanistik. Er schreibt Theaterstücke für die Universität und Gedichte, die er aber jeweils kurz nach der Niederschrift vernichtet. Zorn leidet an schweren Depressionen und lebt in bitterer Einsamkeit, über die ihm auch kleinere Theatererfolge, Studentenpartys und zahlreiche flüchtige Bekanntschaften nicht hinweghelfen. Mit dem Doktortitel beendet er seine akademische Karriere. Zorn, fortwährend in psychiatrischer Behandlung, arbeitet für kurze Zeit als Lehrer an einem Gymnasium in Zürich. Als er an Krebs erkrankt, sieht er sich gezwungen, seinen Beruf aufzugeben. Er schreibt sein autobiografisches Werk Mars in der ersten Hälfte des Jahres 1976. Das Manuskript schickt er an den Schriftsteller Adolf Muschg, der eine Publikation im Kindler Verlag erwirkt. Die drastisch-blasphemische Abrechnung mit der Zürcher Oberschicht sowie mit Gott und der Welt im Allgemeinen avanciert zum Kultbuch der 1980er Bewegung, die in den Zürcher Jugendunruhen vom Mai 1980 gipfelt. Mars bleibt das einzige veröffentlichte Werk Fritz Zorns. Während er sich selbst über weite Strecken seiner Autobiografie als gehemmt und schüchtern beschreibt, haben ihn manche Bekannte als extrovertierten Dandy in Erinnerung. Fritz Zorn stirbt am 2. November 1976 in einer Zürcher Klinik.

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