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Masse und Macht

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Masse und Macht

Hanser,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Halb Literatur, halb ethno-soziologischer Essay: Canettis Großwerk ist die bedeutendste Auseinandersetzung mit dem Massenphänomen im 20. Jahrhundert.


Literatur­klassiker

  • Soziologie
  • Moderne

Worum es geht

Mysterium Masse

Elias Canetti musste lange warten, bis seine dichterischen Werke Anerkennung fanden. Nicht besser erging es ihm mit seinem philosophischen Hauptwerk, einem behäbigen, zwischen Wissenschaftlichkeit und Literatur changierenden Erklärungsversuch für die beiden titelgebenden Phänomene. Darin verzichtet Canetti weitgehend auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Fachliteratur. Stattdessen schreibt er, was er denkt, gelesen und selbst erlebt hat. Was ist Masse? Worin liegt ihre Faszination? Unterliegt sie bestimmten Gesetzmäßigkeiten? Diese Fragen treiben ihn um. Der Nationalsozialismus bildet die Folie für Canettis Beobachtungen, dass der Mensch gern in der Masse aufgeht und dass Macht sich vor allem aus dem Triumph des Überlebenden über die Toten ergibt. Welche Rolle Massensymbole spielen und warum Befehle überhaupt befolgt werden, wird ebenfalls dargelegt. Doch die politische Landschaft im NS-Deutschland ist nur der aktuelle Hintergrund, Canetti forscht tiefer und zieht vor allem anthropologische, ethnologische und soziologische Forschungen sowie eine Menge Mythologie zurate. Ein schwieriges Buch, dessen Bedeutung bis heute umstritten ist, an dem man aber nicht vorbeikommt, wenn man sich mit den Massenphänomenen des 20. Jahrhunderts beschäftigt.

Take-aways

  • Masse und Macht ist Elias Canettis eigenwillige Abhandlung über die Entstehung und Wirkung der beiden titelgebenden Phänomene.
  • Canetti orientierte sich beim Schreiben nicht an der gängigen Wissenschaftsliteratur, sondern entwickelte für das Buch sein eigenes Vokabular.
  • Paradox: Menschen flüchten in die Masse, weil sie Angst vor Berührungen haben; in der Masse gehen sie auf.
  • Massen existieren als geschlossene und offene Massen, je nachdem ob sie weitgehend zügellos wachsen können oder nicht.
  • Eine Masse will immer wachsen, sie macht ihre Mitglieder gleich, braucht Dichte und eine Richtung.
  • Es gibt unterschiedliche Arten von Massen, darunter die Hetz-, Flucht-, Verbots-, Umkehrungs- und Festmasse.
  • Die Urform der Masse ist die Jagdmeute.
  • Nationen konstituieren sich mithilfe spezifischer Massensymbole wie Feuer, Wald oder Meer.
  • Der Nationalsozialismus verdankt seinen Erfolg dem Verbot der Wehrpflicht, der Weltwirtschaftskrise und dem geschickten Gebrauch von Massensymbolik.
  • Macht entsteht durch Überleben, durch den Sieg über den Tod.
  • Paranoide Machthaber sichern ihre Macht durch das Töten anderer; ihr stärkstes Mittel ist der Befehl mit Todesandrohung.
  • Die Wirkung von Masse und Macht setzte erst mit einigen Jahren Verspätung ein; der Rang des Werks ist bis heute umstritten.

Zusammenfassung

Offene und geschlossene Masse

Menschen haben Angst vor der Berührung mit Unbekanntem. Sie wollen jeden Kontakt kontrollieren, deswegen gehen sie Fremden aus dem Weg und schotten sich von ihnen ab. Einzig die Masse befreit sie von dieser Berührungsangst: Sie können darin aufgehen, werden Teil davon und empfinden sie deswegen nicht mehr als etwas Fremdes. Es gibt offene Massen, die aus dem Nichts heraus entstehen und nur existieren können, solange sie wachsen. Und es gibt geschlossene Massen, die äußerlich begrenzt sind: Sie wachsen nicht, zerfallen aber auch nicht so schnell wie die offenen. Geschlossene Massen bestehen vor allem durch Wiederholungen, etwa in Form regelmäßiger Treffen oder Rituale, wie z. B im Gottesdienst. Massen brauchen „Entladungen“: Das sind Momente, in denen sich alle Mitglieder einer Masse als gleich empfinden, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind.

Massenstruktur

Geschlossene Massen werden meist zu Institutionen, die sich an ihrer Gemeinsamkeit berauschen, wie z. B. die Kirche. In der Moderne zeigen geschlossene Massen mitunter die Tendenz, sich in offene Massen zu verwandeln. Die Französische Revolution, die von einem kleinen Haufen Aufständischer ausging, ist hierfür ein gutes Beispiel. Massen besitzen eine große Furcht vor äußeren Feinden. Dabei sind diese meist harmlos: Sie schlagen in die Masse wie eine Hand in einen Mückenschwarm, die auseinandergesprengten Teile fügen sich sofort wieder fest zusammen. Folgende vier Eigenschaften kennzeichnen die Masse:

  1. Sie will wachsen, und zwar grenzenlos.
  2. Sie ist ein Hort der Gleichheit, was sie für den Einzelnen attraktiv macht.
  3. Sie braucht Dichte, sie will keine größeren Lücken haben. Im Moment der Entladung ist die Masse am dichtesten.
  4. Sie braucht eine Richtung auf ein Ziel hin. Die Masse kann sich stockend oder in einem fortwährenden Rhythmus entwickeln. Letzteres kann man beispielsweise beim Haka-Tanz der Maori-Ureinwohner beobachten, bei dem der ganze Stamm zur zuckenden, stampfenden Masse wird.

Massenarten

Eine Masse kann sich langsam oder schnell auf ein Ziel hin bewegen. Insbesondere die Weltreligionen sind langsame Massen, denn ihr Ziel (z. B. das Jüngste Gericht) wird weit in die Zukunft verschoben, um die Masse intakt zu halten. Es gibt sogar unsichtbare Massen: Die Toten beispielsweise spielen in jeder Kultur eine große Rolle. Sie werden dereinst erweckt oder wiedergeboren und bilden also eine langsame, stockende Masse. Fünf Arten von Massen lassen sich unterscheiden:

  1. Hetzmassen sind schnell, zielgerichtet und meist auf das Töten aus. Sie stehen in der Nachfolge der alten Jagdmeuten, wie sie die Stammesmenschen kannten. Hetzmassen töten gelegentlich auch ein Mitglied ihres Verbundes, z. B. indem es ausgesetzt, den Feinden übergeben oder gemeinschaftlich geopfert wird.
  2. Fluchtmassen werden von einer gemeinsamen Gefahr oder Bedrohung fortgestoßen. Ihre Mitglieder fliehen zusammen, weil sie so die Gefahr als verteilt empfinden – und damit für den Einzelnen niedriger.
  3. Verbotsmassen begegnen uns z. B. in streikenden Arbeitern: Sie haben gemeinsam beschlossen, etwas nicht zu tun – und das macht sie gleicher als zuvor.
  4. Umkehrungsmassen bilden sich etwa bei Aufständen wie der Französischen Revolution. Hier werden die Schafe zu Wölfen und jagen die früheren Wölfe. Die Masse wird umgekehrt.
  5. Festmassen feiern zusammen: Hierarchien werden aufgelöst und ein buntes Treiben findet statt. Feste sind Höhepunkte im Leben der Masse.

Doppelmassen und Massenkristalle

Wie kann sich eine offene Masse am Leben erhalten? Indem sie mit einer anderen Masse wetteifert, sich mit ihr misst. Bei den Tupinambu in Brasilien beispielsweise gibt es ein großes Fest, bei dem Frauen und Männer voneinander getrennt werden und in Hütten nebeneinander feiern. Sie feuern sich gegenseitig an, ohne zueinander zu gelangen. So funktionieren Doppelmassen. Sie entstehen auch in Kriegen, wo die eigene Masse propagandistisch der Masse der getöteten Feinde gegenübergestellt wird. Jede Art von Masse wird von Massenkristallen ausgelöst: Dabei handelt es sich um eine fest umrissene, beständige Gruppe, die aber nie so groß ist wie die Masse selbst.

Massensymbole

Es gibt Massen, die nicht aus Menschen bestehen; sie werden als Massensymbole bezeichnet. Zu ihnen gehören:

Feuer: Es greift schnell um sich, ist zerstörerisch und kann normalerweise nur durch Wasser bekämpft werden. Das Feuer fasziniert die Menschen, ist bedrohlich und begehrenswert zugleich. • Meer: Es ist vielgestaltig, eine elastische Masse, von der sich feinste Tröpfchen absondern lassen. • Wald: Er ist unverrückbar und zwingt zur Andacht. Sein dichtes Blätterdach verlangt, dass man zu ihm aufsieht.

Die Meute

Die Vorform der Masse ist die Meute, eine geringe Anzahl von Individuen mit einem gemeinsamen Ziel. Meuten gibt es in vier Varianten: als Jagdmeute, als Kriegsmeute, die gegen eine andere Meute ins Feld zieht, als Klagemeute, die ein verstorbenes Mitglied betrauert, und als Vermehrungsmeute, der es in erster Linie um die Erhöhung ihrer eigenen Zahl geht. Vermehrungsmeuten finden sich vor allem bei den Urvölkern, wo z. B. in Tanzritualen Büffel angelockt werden sollen. Meuten können von einem Zustand in den anderen übergehen. Manche Meutenmuster finden sich immer wieder: Die Klagemeuten der christlichen Passionsfeier und des Muharramfestes der Schiiten sind Beispiele dafür.

Nationale Massensymbole

Wie kommt es, dass sich Menschen verschiedener Nationen als voneinander unterschiedlich empfinden? Ist es die Sprache, die Geografie oder die Geschichte? Nein, es sind die Massensymbole, die ein Volk zu einer geschlossenen Masse machen. Einige Beispiele:

 

Masse und Geschichte

Die Engländer sehen sich als Seefahrer, ihr Massensymbol ist das Meer. Sie wollen es beherrschen, es bezwingen und für ihre Zwecke benutzen. Ihr Leben an Land richten sie sich genau entgegengesetzt zum Meer ein; hier geht es ihnen vor allem um Gleichmäßigkeit und Sicherheit. • Die Franzosen erkennen ihre nationale Eigenheit in der Revolution. Als Ausbruch der Freiheit ist sie Ausdruck und Inbegriff der französischen Lebensart. Jedes Jahr, wenn am 14. Juli der großen Revolution von 1789 gedacht wird, kann man dies auf den Straßen beobachten. • Die Juden scheinen auf den ersten Blick kein Massensymbol zu haben. Ein solches ist so schwierig zu finden, weil das Volk über die ganze Erde verteilt ist. Deshalb ist die in der Wüste herumirrende Masse das treffende Symbol, zumal es das Schicksal der Juden seit dem Auszug aus Ägypten widerspiegelt. • Die Deutschen werden durch das Heer charakterisiert. Ihr Heer ist gleichsam ein marschierender Wald. Die Ordnung, das Kühne, Gerade, Aufrechte eines europäischen Waldes erinnert die Deutschen an ihre Vorfahren und wird so zum Symbol der Nation. Der Kriegsausbruch von 1914 zeigte die Deutschen als offene Masse: Die Begeisterung war groß, selbst die international ausgerichteten Sozialdemokraten zogen mit. Der Versailler Friedensvertrag von 1918 beraubte die Nation dann ihrer wichtigsten geschlossenen Masse: des Heeres. Das Verbot der allgemeinen Wehrpflicht spielte Hitler in die Hände, denn er sollte in der Folge erfolgreich die Wiederherstellung der nationalen Massensymbolik betreiben. Hitler benutzte „Versailles“ immer als Signalwort: Es bedeutete gleichzeitig Triumph (bei der Proklamation des Deutschen Reiches 1871) und Niederlage (1918) und erregte deshalb gleichzeitig Hass und Hoffnung auf die Wiederherstellung früheren Glanzes. Das Erlebnis der Inflation, die Entwertung des Geldes und in der Folge auch die Entwertung seiner Besitzer, wurde von Hitler als Massenerfahrung des deutschen Volkes genutzt: Auf der Suche nach einem Objekt, das die Deutschen ihrerseits entwerten konnten, fand er die Juden.

Macht und Essen

Macht bedeutet Essen, und Essen bedeutet Macht; diese Lektion unserer Vorfahren gilt auch heute noch. Der Vorgang des Beutezugs, das Auflauern, Anpirschen, Berühren, Ergreifen, Zermalmen oder Zerquetschen führt letztlich zur Nahrungsaufnahme. Man verleibt sich den Gegner ein und damit einen Teil seiner Kraft. Stammesangehörige, die den Tiger jagen, schmücken sich mit seinen Zähnen oder seinem Fell, den Insignien seiner Macht. Wer töten kann, ist mächtig. Gleichermaßen gilt: Wer essen kann, hat Macht. Sichtbarer Ausdruck der Macht eines Menschen sind seine Zähne und seine Hände. Beim Essen verteilt sich die Kraft der Beute im eigenen Organismus. Was von ihr übrig bleibt, scheiden wir wieder aus, und weil diese Exkremente unsere Blutschuld beweisen, entledigen wir uns ihrer meist im Privaten.

Macht und Überleben

Einmal wurde Dschingis Khan gefragt, was ihn eigentlich zum Anführer gemacht habe. Daraufhin erzählte er, dass er als junger Mann einen Anschlag von sechs Männern überlebt, den Spieß umgedreht und diese Männer getötet habe. Macht bedeutet also auch, zu überleben. Den Gegner zu töten und selbst am Leben zu bleiben, löst im Sieger ein unglaubliches Stärke- und Glücksgefühl aus. Kein Wunder, dass Feldherren es genießen, sich mit ihren Feinden zu messen – obwohl sie nicht selbst in die Schlacht ziehen, sondern ihre Soldaten schicken. Der Masse der Überlebenden steht eine Masse von Leichen gegenüber, nur so können sich die Sieger ihres Sieges sicher sein. Diese Form von Überleben kann regelrecht zur Sucht werden.

„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“ (S. 13)

Bei den Mitgliedern eines Südseestamms besteht die Vorstellung, dass jeder Mensch ein Quantum einer übernatürlichen Macht namens Mana in sich trägt. Jeder Krieger nimmt beim Sieg über seine Feinde deren Mana in sich auf, sodass dem Krieger das Töten als sehr erstrebenswert erscheint. Für den Machthaber können solche Überlebenden unerträglich werden. Daraus erklärt sich der ständige Machtkampf zwischen Königen und ihren Nachfolgern, selbst wenn es sich dabei um die eigenen Kinder handelt. Es ist ein Kampf zwischen demjenigen, der jetzt Leben und Macht hat, und denen, die ihn vermutlich überleben werden. Paranoide Machthaber können ihre Angst vor dem Machtverlust nur durch das Töten besänftigen.

Befehl: Antrieb und Stachel

Macht zeigt sich an der Einflusssphäre eines Machthabers. Ausgeübt wird sie mit Befehlen, die wir befolgen, weil uns dieses Verhalten bereits durch die Erziehung eingeimpft wurde. Befehle sind ursprünglich Befehle zur Flucht, ihnen liegt eine Todesdrohung inne. Jeder Befehl besteht aus zwei Teilen: Antrieb und Stachel. Der Antrieb ist die Drohung, welche die Ausführung des Befehls fördert. Der Stachel bleibt im Befehlsempfänger zurück und bringt ihn noch nach Jahren dazu, einem Untergebenen Ähnliches abzuverlangen wie das, was von ihm selbst gefordert worden ist. Frei von diesem zwanghaften Verhalten werden die Menschen nur, wenn sie Wege finden, sich den Befehlen zu entziehen, denn: Nur ausgeführte Befehle hinterlassen einen Stachel. Einzig der Henker kann einen Befehl befolgen und trotzdem ohne Stachel weiterleben: Den Befehl zum Tod gibt er sofort an den Delinquenten weiter.

Zum Text

Aufbau und Stil

Masse und Macht besteht aus elf Kapiteln mit jeweils mehreren Unterkapiteln. Die Kapitel sind, gemäß dem Titel, in zwei große Blöcke, „Masse“ und „Macht“, geteilt. Im ersten Teil führt Canetti seine Grundbegriffe ein, auf die er im Buch immer wieder zurückgreift. Die Struktur ist sehr frei und eigenwillig, man könnte fast sagen: Canetti reiht im Plauderton alles aneinander, was ihm zum jeweiligen Gebiet einfällt oder wichtig erscheint. Die einzelnen Unterkapitel sind teilweise sehr kurz und beleuchten stark fokussierte Einzelaspekte. Canetti wandert zwischen den Welten: Neben soziologischen streut er ethnologische, psychologische, anthropologische, mythologische, psychiatrische und sogar zoologische Abhandlungen ein. Insbesondere Berichte von archaischen Urvölkern, Reiseerzählungen und Beobachtungen vom Stammesverhalten Eingeborener liefern ihm Erklärungen für seine Massen- und Machttheorien. Diese entwickelt er völlig frei, ohne wissenschaftlichen Apparat und in einer gar nicht akademischen, leicht verständlichen Sprache mit überwiegend knappen Sätzen. Auch verzichtet er größtenteils darauf, seine Quellen anzugeben oder andere Begriffssysteme in seine essayistische Darstellung einzubeziehen. Dies führte u. a. dazu, dass sein Schreibstil von Kritikern als „zwischen Dichtung und Wissenschaft“ oder prinzipiell als unwissenschaftlich bezeichnet wurde. Manche Herleitungen, z. B. jene der Massensymbole verschiedener Völker, erscheinen willkürlich.

Interpretationsansätze

• Canettis Massentheorie beruht auf eigenen Erfahrungen – insbesondere einer Arbeiterdemonstration in Frankfurt 1922 und dem von Unruhen begleiteten Brand des Wiener Justizpalastes im Jahr 1927 – und wirkt durch den eher literarisch-essayistischen Stil sehr persönlich und wenig wissenschaftlich. • Die Ursache für den Massendrang des Menschen erscheint paradox: Weil er Angst vor Berührung (also auch vor sozialen Vereinigungen) hat, will er in der Masse aufgehen; er kuriert seine Sozialphobie in der Vereinigung mit der Gruppe. • Zentrales Element von Canettis Anthropologie ist die Jagd: Er führt sie immer wieder als Ursache sowohl für die Entstehung von Massen (Hetz- und Jagdmeute) als auch für die Entwicklung des Machtgefühls an. Die Jagdmetapher bedeutet, dass die menschliche Zivilisation immer noch den Kern einer archaischen Gesellschaft in sich birgt. Deshalb verwendet Canetti so viel Zeit auf das Studium von alten Mythen und Riten, obschon er die Gegenwart des 20. Jahrhunderts analysiert. • Masse und Macht entstand vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, und doch werden die Nazis und Hitler eher selten erwähnt – möglicherweise weil Canetti für seine Theorie einen universellen Anspruch hatte, der über die unmittelbare Gegenwart hinausreichen sollte. • Canettis Schilderung der Ausschaltung des individuellen Verstandes durch Massenappelle, Massensymbole und Entladungen (wie der kollektive „Sieg Heil“-Ruf), aber ebenso die Charakterisierung der Mächtigen als „Überlebende“ kann zur Erklärung der Rassenideologie der Nazis herangezogen werden. Auch die Schilderung des „paranoiden Machthabers“, der seiner Entmachtung nur durch Gewalt und Präventivschläge entgehen kann, scheint auf Hitler gemünzt zu sein.

Historischer Hintergrund

Geschichte des Massenbegriffs

Der Begriff „Masse“ kommt aus dem Griechischen („maza“) und bedeutet ursprünglich „Brotteig“. Als Bezeichnung für eine Menge von Sachen oder Menschen existiert das Wort bereits im Spätlateinischen, in Westeuropa kam es aber erst im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts in Mode. Der deutsche Adel und später das Bürgertum verwendeten den Begriff vor allem dann, wenn es um den „Pöbel“, die plumpe, ungebildete und formlose Menschenmasse ging. Gustave Le Bon war der Begründer der Massenpsychologie; auch er brauchte den Ausdruck in seinem Werk Psychologie der Massen von 1895 abwertend: In der Masse verhalte sich der Mensch triebgesteuert und gefühlsbetont, er verliere die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und verfalle leicht in Panik. Le Bon baute seine Theorie auf seinen Beobachtungen diverser Massenphänomene im 19. Jahrhundert auf. Die Französische Revolution und ihre Folgen sowie der deutsche Vormärz führten dazu, dass „Masse“ zunehmend politisch gebraucht wurde, bei der Märzrevolution 1848 sogar vom Volk selbst als revolutionärer Kampfbegriff. Die Wirkung der Masse auf die individuelle Psyche untersuchte Sigmund Freud 1921 in seinem Buch Massenpsychologie und Ich-Analyse. Darin erklärte er u. a. die Anfälligkeit einer Menschenmenge für die Manipulationen ihres Anführers. Die Masse sei durch eine Art Herdentrieb miteinander verbunden, benötige aber auch einen Leitwolf. Manche hielten Freuds Analysen für eine Vorausdeutung des Nationalsozialismus. Auch der spanische Philosoph José Ortega y Gasset beschäftigte sich in Der Aufstand der Massen (1930) mit dem Phänomen. Adolf Hitler schließlich setzte zwischen 1933 und 1945 konsequent auf Massenkundgebungen sowie einen regelrechten Führerkult und machte sich die leichte Manipulierbarkeit der Menschen zunutze – auch durch den Einsatz von Massenmedien.

Entstehung

Mit Masse und Macht schloss Canetti an die Vorgängerwerke von Gustave Le Bon und José Ortega y Gasset an, wobei er darauf hinwies, dass keines dieser Bücher den Themenkreis erschöpfend bearbeitet habe. Viel mehr als die Massenpsychologie, wie sie Le Bon und auch Sigmund Freud erforscht hatten, interessierte Canetti das Zusammenwirken von Masse und Macht. Seine ersten Erfahrungen mit dem Forschungsgegenstand machte er in den 20er Jahren, wie er später schrieb: „1925, vor vierunddreißig Jahren, hatte ich den ersten Gedanken zu einem Buch über die Masse. Aber der wirkliche Keim dazu war noch früher: eine Arbeiterdemonstration in Frankfurt anlässlich des Todes von Rathenau, ich war siebzehn Jahre alt.“ Der Autor ließ sich immerhin rund 35 Jahre Zeit für die Niederschrift von Masse und Macht, in denen er genügend Masse-Erfahrungen beobachten, erforschen und selbst erleben konnte. Während seines Studiums der Chemie in Wien beispielsweise wurde er am 15. Juli 1927 von der Menschenmenge eines Arbeiteraufstands, in dessen Verlauf der Justizpalast in Brand gesteckt wurde, mitgerissen. Im Rückblick beschrieb er dies als einschneidendes Erlebnis: „Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“ Hieraus entwickelte sich bei Canetti die Idee, dieses Aufgehen in der Masse auf einen Massentrieb im Menschen zurückzuführen. Die Zeit des Nationalsozialismus bot ihm weiteres Studienmaterial und offenbarte die schlimmstmöglichen Folgen eines Massenphänomens. 1948 begann er mit der Niederschrift, 1959 beendete er sein Großwerk, das ein Jahr später erschien.

Wirkungsgeschichte

Wie fast alle Werke Canettis erhielt auch Masse und Macht nach seiner Publikation zunächst wenig positive Resonanz. Dem Buch wurde vorgeworfen, unwissenschaftlich, suggestiv und apodiktisch (d. h. in seiner Art der Beweisführung unwiderlegbar und unumstößlich) zu sein. Auch die Vermischung von Ethnologie, Soziologie, Anthropologie und Geschichtswissenschaft wurde als Mangel bezeichnet. Fast jeder Rezensent beklagte das Unbestimmbare „zwischen Dichtung und Wissenschaft“, was es sehr schwer mache, das Buch ernst zu nehmen. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang ein Radiointerview, das Theodor W. Adorno 1962 mit Canetti führte und worin Ersterer diese Vermischung als „Skandalon“ bezeichnete.

Mit dem steigenden Interesse am Gesamtwerk Canettis rückte auch Masse und Macht in den 70er und 80er Jahren erneut ins Blickfeld der Forschung. Es kam zu ersten Arbeiten, die in der Schrift ein system- und wissenschaftskritisches Werk erkannten. Ende der 80er Jahre tagte das „Internationale kulturanthropologisch-philosophische Canetti-Symposium“ in Wien, das die ersten drei Aufsatzbände zu Masse und Macht veröffentlichte und die Diskussion darüber neu entfachte. Jetzt wurde das Werk nicht mehr als unwissenschaftlich, sondern als bewusst gegen wissenschaftliche Traditionen geschriebenes, mit unterschiedlichen Perspektiven ausgestattetes Buch betrachtet. Dennoch verwiesen viele Wissenschaftler auf den hermetischen, d. h. in sich abgeschlossenen, unergründlichen Charakter von Masse und Macht.

Über den Autor

Elias Canetti wird am 25. Juli 1905 in Rustschuk in Bulgarien geboren. Beide Elternteile stammen aus Spaniolenfamilien, jüdischen Auswanderern aus Spanien. Im Juni 1911 zieht die Familie nach Manchester, wo Elias, der noch zwei jüngere Brüder hat, zur Schule geht. Im Oktober des Jahres 1912 verstirbt der Vater überraschend. Die Mutter zieht mit ihren Kindern über Paris und Lausanne nach Wien. Hier erlebt Canetti, der erst jetzt die deutsche Sprache lernt, die allgemeine Begeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 1916 zieht die Familie abermals um: In Zürich fühlt sich Canetti so wohl, dass er es als „Vertreibung aus dem Paradies“ empfindet, als die Familie 1921 nach Frankfurt umsiedelt. Er kehrt drei Jahre später nach Wien zurück, studiert Chemie und promoviert 1929. Während des Studiums lernt er seine spätere Frau Veza Taubner-Calderon kennen und wird ein begeisterter Anhänger des Dichters und Kritikers Karl Kraus. In dieser Zeit reift seine Idee, ein Buch über das Phänomen der Masse zu schreiben. Der Roman Die Blendung entsteht 1931, wird aber erst 1936 veröffentlicht. In Wien schreibt Canetti auch Theaterstücke wie Die Hochzeit und die Komödie der Eitelkeiten. Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich emigriert er 1938 über Paris nach London. Hier nimmt er die Arbeit an Masse und Macht wieder auf, wohl auch unter dem Eindruck des Nationalsozialismus. Veröffentlicht wird das Werk aber erst lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1960. Zunächst mehr oder weniger unbekannt, macht Canetti langsam von sich reden, mit seinem Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch (1956), mit Aufsätzen und Essays und schließlich mit seiner Autobiografie in drei Bänden: Die gerettete Zunge (1977), Die Fackel im Ohr (1980) und Das Augenspiel (1985). Die zahlreichen Preise, die ihm in den 70er und 80er Jahren verliehen werden, werden gekrönt durch den Literaturnobelpreis 1981. Elias Canetti übersiedelt 1972 erneut nach Zürich, zu seiner neuen Frau Hera, mit der er auch ein Kind hat. Er stirbt am 14. August 1994.

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