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Mein Name sei Gantenbein

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Mein Name sei Gantenbein

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Max Frischs unkonventionellster Roman: Die Figuren werden ständig neu erfunden und gewähren entlarvende Blicke auf die Gesellschaft.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Ich ist ein anderer

Max Frisch führt in Mein Name sei Gantenbein die Brüchigkeit menschlicher Identität vor. Das geht so weit, dass er seine Figuren immer wieder neu erfindet. Der Erzähler selbst tritt in das Geschehen ein, überlegt sich, welche Rolle er annehmen will, und spielt mit der Identität der anderen Personen. Erzählung und Erzähler, Geschichte und Wirklichkeit, wahres und falsches Ich fließen auf verwirrende Art ineinander. Nur die Hauptperson, Gantenbein, bekommt über die Zeit ein greifbares, verfestigtes Ich. Gantenbein gibt vor blind zu sein und freundet sich immer mehr mit dieser Rolle an. Denn plötzlich ändern sich alle seine sozialen Beziehungen: Hinter seiner Blindenbrille kann er die Menschen beobachten, ohne dass sie sich beobachtet fühlen. Sie mögen ihn, weil sie seinen urteilenden Blick nicht zu fürchten haben, und fangen an, sich zu enttarnen. Das Spiel mit den Identitäten gewährt einen entlarvenden Einblick in die moderne Gesellschaft. Die Menschen versuchen, sich selbst und ihre Geschichte als sinnvolles Kontinuum zu erleben und zu erzählen. Beim Erzählen aber, so die Kernaussage, erfindet sich der Mensch erst, mag die Realität auch ganz anders aussehen als deren Rekonstruierung.

Take-aways

  • Mein Name sei Gantenbein ist Max Frischs dritter großer Roman und gleichzeitig sein unkonventionellstes Werk. Er bricht radikal mit den üblichen Erzählstrukturen.
  • Zentrales Thema ist die Brüchigkeit der menschlichen Identität. Der Mensch erfindet sich ständig neu.
  • Die Geschichte besteht aus vielen Erzählvarianten und Episoden. Alternativgeschichten werden lose hintereinandermontiert.
  • Die Personen bleiben zwar den Namen nach gleich, ändern aber ständig ihre Rollen. Manche schlüpfen gar für eine bestimmte Zeit in die Haut eines anderen.
  • Die Identität einer Person scheint aus den Geschichten zu entstehen, die sie über sich selbst erzählt. Die Identität ist also eine Erfindung.
  • Nur Gantenbein, die Hauptperson, bleibt meist der Gleiche.
  • Er spielt den Blinden (mit Blindenbrille, Stock und Armbinde) und wächst in diese Identität hinein, die er zunächst nur spielerisch angenommen hat.
  • Als Blinder scheint Gantenbein mehr zu sehen als sonst. Er entlarvt die Selbstinszenierungen seiner Mitmenschen.
  • Er lebt mit der Schauspielerin Lila zusammen, die ihn ständig betrügt.
  • Daneben unterhält er eine lockere Freundschaft mit Camilla Huber, die sich als Kosmetikerin ausgibt, jedoch eine Prostituierte ist.
  • Als Gantenbein sein Blindenspiel beenden will, glaubt ihm niemand, dass er sehen kann. Er ist in seiner Rolle gefangen.
  • Der Roman entstand, als Frisch zusammen mit Ingeborg Bachmann in Rom lebte (1960-1964). Das Verhältnis zwischen Gantenbein und Lila spiegelt teilweise diese Beziehung wider.

Zusammenfassung

Der Erzähler sucht seine Rolle

Ein Mann verlässt hastig eine unterhaltsame Abendgesellschaft und wird später in seinem Wagen tot aufgefunden. Der Ich-Erzähler eröffnet, dass er sich dieses Ende sehr gut für eine seiner Figuren vorstellen könnte: Enderlin vielleicht, oder Gantenbein. Ruhelos verfolgt der Erzähler in verschiedenen Städten Fremde, heftet sich in New York oder Paris an ihre Fersen und geht ihnen so lange nach, bis es entweder zu einer Konfrontation kommt oder er entscheidet, dass sie als Figuren für seine Erzählungen nichts taugen. Während seiner Ruhepausen lauscht er den Erzählungen eines Barkeepers und stellt fest, dass dieser sich seiner Erinnerungen nur gewiss sein kann, wenn er sie als zusammenhängende Geschichte darstellt. Er beneidet den Mann um seine Selbstgewissheit in Bezug auf seine eigene Lebensgeschichte. Der Erzähler dagegen glaubt, dass jede Geschichte eine Erfindung ist: Wenn man über sich selbst erzählt, erfindet man in diesem Moment sein eigenes Ich.

„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu - man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stellte ich mir vor, ein anderer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung ...“ (S. 11)

Dann ein Krankenhausaufenthalt: Der Erzähler belästigt eine Krankenschwester und läuft schließlich nackt durch die Straßen von Zürich, überrascht, wie wenig seine Umwelt darauf reagiert. Einem anderen, der Ähnliches tat, erging es schlimmer: Er wurde sofort als geisteskrank eingestuft, was dazu führte, dass er zwar überaus höflich behandelt wurde, aber eben wie jemand, der nicht zurechnungsfähig ist. Der Erzähler betrachtet seine eigene Wohnung, in der er aber schon lange nicht mehr wohnt. Er erfährt sie wie die Behausung eines Fremden und begutachtet sie, als kenne er die Dinge darin nicht. Seine Frau ist ausgezogen, sie hat ihn verlassen. Wie in Pompeji nach dem Ausbruch des Vesuvs scheint in einer Momentaufnahme sein eigener, jetzt fremder Alltag eingefroren zu sein. Er stellt sich einen Mann vor, dem durch einen Unfall das Gesicht entstellt wird. Sein Augenlicht steht auf dem Spiel. Als der Verband abge-nommen wird, stellt er fest, dass er sehen kann – ab sofort aber spielt er den Blinden.

Mein Name sei Gantenbein

Diese Figur bekommt den Namen Gantenbein. Der Erzähler spielt mit dem Gedanken, selbst in diese Rolle zu schlüpfen: „Mein Name sei Gantenbein.“ Er betritt ein Brillengeschäft und kauft eine Blindenbrille, außerdem besorgt er sich einen Stock. Er geht als Blinder vertraute Straßen entlang und sieht seine Stadt, Zürich, nun grau und farbverfälscht. Prompt übersieht er eine rote Ampel und wird fast von einem Wagen überfahren. Er macht die ersten Fehler als „Blinder“: Bückt sich nach seinem Hut, der ihm bei dem Fast-Unfall vom Kopf gefallen ist, oder fragt die Fahrerin des Wagens, die ihn als Entschädigung nach Hause fährt, ob sie mit ihrem Auto gut zurechtkäme, wobei er die Marke nennt. Er begleitet die Dame, Camilla Huber, in ihre Wohnung. Sie entfernt rasch die Spuren der letzten Nacht: Büstenhalter, Strümpfe, Cognacgläser, einen vollen Aschenbecher. Gantenbein begeht noch einige Fehler, aber sie nimmt ihm die Rolle als Blinder trotzdem ab. Sie spielt ihrerseits die berufstätige, unabhängige Frau, im festen Glauben, er sehe nicht, dass sie als Prostituierte arbeitet. Er lässt ihr ihre Rolle, so wie sie ihm seine lässt. Gantenbein richtet sich darin ein, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie von ihm nicht durchschaut werden können. Prompt wird er ein gern gesehener Gast auf vielen Cocktailpartys, denn die Leute fühlen sich von ihm bestätigt und können ihm eine Welt vorführen, „wie sie in den Zeitungen steht“, nicht, wie sie tatsächlich ist. Er steigt gesellschaftlich auf. Auch seine Vorgesetzten schätzen ihn, da er niemals sagt, was er sieht.

Eine Cocktailparty

Enderlin befindet sich auf einer Cocktailparty. Man prostet ihm zu, da er einen Ruf an die renommierte Universität Harvard erhalten hat. Doch er selbst bleibt merkwürdig dis-tanziert und hört heraus, was die Leute wirklich denken: dass man es ihm in seinem Alter, Anfang 40, nicht mehr zugetraut hat und dass man seine bisherigen Errungenschaften, Professuren an anderen, auch bekannten Universitäten, nicht zu würdigen weiß. Ihm wird das Hohle der Veranstaltung und der Gesellschaft insgesamt bewusst. Als eine Gesprächspause entsteht, merkt Enderlin, dass es nun an ihm ist, etwas Geistreiches zu sagen, was ihm aber nicht gelingt. Er verabschiedet sich, spürt plötzlich das ganze Elend seiner Existenz – und vergisst es kurz darauf, denn es war ja nur einer dieser belanglosen Abende.

Gantenbein richtet sich in seiner Rolle ein

Gantenbein besorgt sich eine Blindenbinde und einen amtlichen Blindenausweis. Hierzu benötigt er ärztliche Atteste. Er steigert sich so weit in seine Rolle hinein, dass er die Bescheinigungen auch erhält. Nun wartet er auf dem Gesundheitsamt, wo er die Binde bekommt. Die letzte Hürde ist noch zu nehmen, dann wird er ein richtiger, staatlich und gesellschaftlich anerkannter Blinder mit allen Rechten sein. Wartend bemerkt er, dass die Menschen ihm im Vorübergehen nicht mehr grüßend zunicken. Seine Rolle scheint gut zu funktionieren. Es kommt zu einem stummen Machtkampf mit dem Amtsarzt. Glaubt er ihm oder glaubt er ihm nicht? Gantenbein gibt ihm Feuer, obwohl er eigentlich nicht hat sehen können, dass der Arzt nach Streichhölzern gesucht hat. Dennoch bekommt er seine Blindenkarte mit der Unterschrift des Arztes. Dieser glaubt so sehr an seine eigene Beglaubigung, dass sich Gantenbein einen weiteren Fauxpas erlauben kann: Er findet ohne Umschweife seinen Blindenstock, was nur ein Sehender hätte leisten können. Einzig die Frauen in den Cafés misstrauen seiner Verkleidung. Sie spüren es, wenn er sie mustert.

Der Erzähler trifft eine Frau

Der Erzähler sitzt wieder in der Bar, der Barmann berichtet aus seinem Leben und hält für wahr, was eigentlich nur Geschichten sind. Eine Frau tritt ein, sie ist die Gattin des Mannes, den der Erzähler hat treffen wollen. Der Erzähler sieht sich gleichsam selbst dabei zu, wie er routiniert eine Liaison anbahnt, obwohl er gar nicht sonderlich interessiert ist. Er beobachtet sich selbst wie einen Fremden. Später kommt heraus, dass der „fremde Herr“, in dessen Rolle der Erzähler geschlüpft ist, Enderlin sein könnte. Er verbringt die Nacht mit der Frau in einem Hotelzimmer. Morgens schlendert er zu sei-nem eigenen Hotel, dann in ein Kunstmuseum, obschon es höchste Zeit ist für eine berufliche Besprechung. Er will nicht, dass die Frau ihn anruft und es zu einem weiteren Treffen kommt, er will nicht gemeinsam mit ihr in die Wirklichkeit einsteigen – gleichzeitig lechzt er geradezu nach dem Kontakt. Doch sie ruft nicht an, und er geht zu der langweiligen beruflichen Verabredung.

Zwei Schauspieler

Gantenbein hat sich mit einer berühmten Schauspielerin liiert, ihr Name ist Lila. Eine Schauspielerin und ein Blinder – die Presse zerreißt sich das Maul und gibt nicht viel auf diese Ehe. Lila betrügt Gantenbein und glaubt, er merke es nicht. Wenn sie bei ihm ist, ist sie fröhlich und gelöst, weil sie von ihm keine vorwurfsvollen Blicke zu erwarten hat. Er liebt sie und organisiert ihr gemeinsames Leben. Dass er Dinge sieht, die ein Blinder eigentlich nicht sehen kann, bemerkt sie nicht. Bei Gesellschaften ist seine Farce schwieriger aufrechtzuerhalten, denn die anderen beobachten ihn aufmerksamer. Die Freunde schauen genau hin und haben immer wieder Anlass, sich zu fragen, ob er wirklich blind ist. Lila erzählt die komische Geschichte ihres Kennenlernens: Gantenbein kam in ihre Garderobe und lobte ihre Schauspielkunst. Ihr fällt nicht auf, dass er diese gar nicht gesehen haben kann, sondern sie findet es gut, dass er sich nur auf ihre Kunst konzentriert habe, nicht auf ihren halb bekleideten Körper, wie es jeder andere Bewunderer getan hätte. Als Gantenbein bei einer ihrer Proben dabei ist, ist er der Einzige, der sieht, dass der Regisseur keine Ideen hat.

Lust und Last des Blindseins

Manchmal erholt sich Gantenbein vom Blindsein. Er geht dann in die Natur, macht mit seinem Blindenhund Patsch einen Ausflug an die Berliner Havelseen. Manchmal ärgern ihn Lilas Fans, die ihm etwa sagen: „Sie wissen nicht, was für eine wunderbare Frau Sie haben!“ Offenbar glauben sie, er kenne Lila nicht richtig, nur weil er sie scheinbar nicht sieht. Im Gegenzug stellt er fest, dass er von vielen sehr ernst genommen wird, gerade wegen seines Blindseins. Er wird um seine Meinung zu schwierigen Themen gefragt. Er spielt sogar Schach mit einem Freund. Dieser nennt ihm die Spielzüge und wundert sich, dass er sich die Aufstellung der Figuren merken kann. Gantenbein gewinnt durchweg – obwohl er vor seiner vorgetäuschten Blindheit immer unterlegen war. Lila lässt derweil Liebesbriefe von anderen Männern herumliegen, doch Gantenbein liest sie nicht. Seine Blindheit hält die Ehe zusammen. Beim Sex ist sich das Paar sehr nah, denn keiner scheut sich vor den Blicken des anderen. Gleichzeitig nutzt Lila Gantenbeins vermeintliche Blindheit immer dreister aus und verabschiedet sich sogar „vor seinen Augen“ von ihren Liebhabern. Gantenbein hofft, dass er nie eifersüchtig wird. Er besucht regelmäßig die Prostituierte Camilla, um ihr Geschichten zu erzählen, darunter die Geschichte des Mannes, der von einer Reise nach Hause kommt, in der Zeitung seine eigene Todesanzeige entdeckt und diesen Umstand nutzt, um ein neues Leben zu beginnen. Sie ist eine begeisterte Zuhörerin.

Enderlin fällt aus der Rolle

Enderlin zögert den Antritt seiner Professur in Harvard so lange hinaus, dass man seinen Ruf dorthin allmählich für eine Lüge hält. Alle spüren, dass Enderlin sich seiner Sache nicht sicher ist. Er merkt, dass er eine Rolle spielen soll: die des berühmten Professors. Zugleich stellt er fest, dass er diese Rolle nicht erfüllen kann, und leidet darunter. Nach seinem Rendezvous mit der fremden Dame wartet er am Flughafen auf seine Maschine nach Hause und kauft nervös ein Parfum für seine Frau. Der Erzähler stellt sich vor, wie es wäre, selbst Enderlin zu sein. Er könnte an Enderlins statt zu dessen Frau fliegen, während dieser ein Taxi zurück zu seiner Geliebten nimmt. Dummerweise verflüchtigt sich Enderlins Begierde nach der Geliebten in dem Moment, als er im Taxi sitzt: Er weiß gar nicht, warum er diesen Schritt unternommen hat. Enderlin will keine Geschichte, keine Kontinuität. Er scheut sich vor der Annäherung, davor, dass die Geliebten beginnen, aus ihrem Leben zu erzählen, und dass sich die Geschichten plötzlich verweben, weil sich herausstellt, dass man gemeinsame Freunde hat. Der Erzähler steigt ins Flugzeug – aber vielleicht fliegt er nicht davon. Er stellt sich vor, dass sein Freund Burri, ein Arzt, Enderlin mitteilen muss, dass er todkrank ist und nur noch ein Jahr zu leben hat. Enderlin versucht, den Schein zu wahren, obwohl ihn die Medikamente schwächen. Aber er wird sich nicht erhängen.

Gantenbein will aus der Rolle fallen

Es reizt Gantenbein immer mehr, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er begeht absichtlich Fehler, um die Grenzen seiner Glaubwürdigkeit als Blinder zu testen. Aber Lila bleibt gutgläubig. Sogar wenn er sagt, er habe etwas in der Zeitung gelesen, bleibt er für sie ein Blinder. Lila ist glücklich und pflegt weiterhin heißblütige Liebschaften. Inzwischen liest Gantenbein die Liebesbriefe. Einmal steht ein Besucher vor der Wohnungstür, den er für einen Geliebten Lilas hält. Er sperrt ihn in ein Zimmer und fährt spazieren. Als er zurückkommt, ist die Tür aufgesprengt. Der junge Mann ist sehr überrascht über die Bräuche im Hause Gantenbein. Es stellt sich heraus, dass er gar nicht Lilas Liebhaber ist.

Neue Rollen

Der Erzähler ist Lilas Rolle als Schauspielerin leid und denkt sich neue Berufe für sie aus. Schließlich lässt er sie in die Rolle der Geliebten Enderlins schlüpfen. Sie ist also die Frau, die dieser in der Bar getroffen hat. Lila eröffnet ihrem Mann, einem gewissen Frantisek Svoboda, dass sie sich in einen anderen verliebt habe. Svoboda bleibt zunächst ruhig, gerät dann aber in Rage und schmettert sein Whiskyglas an die Wand. Nach endlosen Gesprächen, die zu nichts führen, hängt er in Nachtklubs herum. Der Alltag der Eheleute löst sich Schritt für Schritt auf. Anfangs kümmert sich Lila noch um tägliche Kleinigkeiten und Besorgungen, um ein Paket, das abgeholt werden muss, um eine Geburtstagsfeier. Dann werden die Lebensgeschichten der beiden auseinandergeknotet. Der Erzähler fühlt mit Svoboda. Er stellt sich vor, was er an seiner Stelle täte, und spielt verschiedene Varianten durch: Svoboda, der kühle Geschäftsmann, der die gescheiterte Ehe sportlich nimmt. Svoboda, der mit einem Vorderlader systematisch seine ganze Wohnung zerschießt.

Übrig bleibt: Gantenbein

Gantenbein kämpft weiterhin mit seiner Rolle, muss sich manchmal direkt auf sie einschwören. Er stellt sich vor, dass Camilla ermordet wurde und er vor Gericht als Zeuge erscheint. Lila erfährt dann aus der Zeitung, dass er gar nicht blind ist. Doch er bleibt bei seiner Rolle. Gantenbein und Lila bekommen sogar ein Kind, Beatrice: Damit ist Gantenbein in der neuen Rolle als Vater. Schließlich erzählt er Camilla Huber die Geschichte eines unbekannten Menschen, der ungemeldet in Zürich lebt und irgendwann als anonyme Leiche aus dem Fluss gefischt wird: Der habe es als Einziger geschafft, ohne Geschichte zu bleiben.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Ich-Erzähler berichtet, wie er in Gantenbeins Rolle schlüpft. Er spielt mit der Figur und erfindet sie immer wieder neu. Ähnlich führt er auch Enderlin, Svoboda und Lila ein: als erzählerische Variablen. Manchmal begegnet er sogar seinen eigenen Figuren. Die Geschichten verweben sich und lösen sich wieder; am Ende bleibt nur Gantenbein, der an seiner Rolle festhält. Der Text ist nicht in Kapitel unterteilt, stattdessen sind unterschiedlich lange Episoden, manchmal gar nur einzelne Sätze, in lockerer Reihenfolge aneinandermontiert. Immer wieder werden kuriose Geschichten eingestreut, die von ganz anderen Personen handeln. Frisch unternimmt dabei viele Zeit- und Raumsprünge und zeigt die Welt wie durch ein Kaleidoskop: vielfach gebrochen und gespiegelt und mit Elementen, die sich auf immer wieder neue Art verbinden. Er gibt dem Leser nur nebenbei Hinweise, wann und wo eine Episode gerade spielt. Der rote Faden ist das Spiel mit der Identität der Figuren. Die eingestreuten Reflexionen des Erzählers spielen dabei eine zentrale Rolle. Frischs Sprache erinnert oft an das Assoziative eines inneren Monologs, dann wieder sind seine Beobachtungen der Umwelt knapp, kühl und sezierend. Der Satz „Ich stelle mir vor“, mit dem eine neue Erzählvariante eingeführt wird, zieht sich als Leitmotiv durch das Buch.

Interpretationsansätze

  • Thema des Romans ist die Frage der Identität: Wie entsteht ein Ich? Frisch bietet zwei Antworten: Das Ich ist die Summe aller Geschichten, die ein Mensch über sich erzählt. Oder: Es ist es nur das, was andere in einer Person sehen.
  • Zentrale Motive sind der Blick und die Blindheit: Der bewertende Blick, der das Gegenüber einordnet, ist der Kitt für das Gesellschaftsgefüge. Gantenbeins Blindheit setzt diese Verbindung außer Kraft und wirkt auf die Menschen befreiend: In seiner Gegenwart können sie ihre Lebenslügen leichter pflegen. Das Motiv des „sehenden Blinden“ reicht zurück bis in die griechische Antike.
  • Interessant ist der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Figuren: Die Männer werden von Frisch in einen Strudel der Ungewissheit und des Leidens an der Welt geworfen, wobei sie die Grenze zum Wahn mitunter überschreiten. Die weiblichen Charaktere dagegen bewegen sich in ihren Rollen mit schlafwandlerischer Sicherheit durchs Leben.
  • Der Roman ist sehr unterhaltsam: In zahlreichen komischen und absurden Situationen hält Frisch dem braven Bürger, der es sich zwischen seinen eigenen und den fremden Rollen gemütlich gemacht hat, den Spiegel vor.
  • Das Konzept des Romans ist ungewohnt, aber nicht radikal neu: Der Erzähler wechselt die Perspektiven beliebig und macht die Erfindung von Geschichten selbst zum Thema der Geschichte. Ganz ähnlich ist Frisch schon in seinem früheren Roman Stiller verfahren.
  • Das Buch ist, ähnlich wie Stiller, ein Eheroman: Die Ehe wird zum Modellfall für die Gesellschaft insgesamt, für das übliche Rollenspiel der Menschen und für das Auseinanderfallen der verschiedenen Realitätswahrnehmungen. Zugleich wird die moderne Ehe selbst mit ihren kleinen Lügen und Geheimnissen nirgendwo so klar durchleuchtet wie in diesem Werk.

Historischer Hintergrund

Das Problem der Identität in der modernen Literatur

Max Frischs Spiel mit der Identität ist gleichzeitig ihre radikale Hinterfragung. Der Ge-genpol kann in der Literatur der Klassik gesehen werden, besonders im Werk Johann Wolfgang von Goethes: Dieser sah in der Wirklichkeit noch einen sinnvollen Zusammenhang und glaubte, das ebenso sinnvolle Wirken der Geschichte zu erkennen. 250 Jahre später spießte Frisch das Lebensgefühl des modernen Menschen auf: Er kann niemandem und nichts wirklich vertrauen, weil er in jeder noch so alltäglichen Situation spürt, wie brüchig seine Existenz ist.

Frischs Mein Name sei Gantenbein ist ein Höhepunkt der literarischen Identitätskrise, die sich auch bei anderen Autoren wie etwa Marcel Proust findet. Auch in dessen Werk (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) spielt die Diskontinuität eine große Rolle, die Aufsplitterung von Raum und Zeit. Weitere Parallelen finden sich z. B. bei Hermann Hesse, der seine Protagonisten ebenso auf eine Reise ins Ich schickt, etwa im Roman Der Steppenwolf, in dem der Protagonist in einer Art absurdem Theater immer neue Wirklichkeitsvarianten durchlebt, bevor er in die wahre Wirklichkeit zurückkehrt. Auch in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften findet sich das Konzept, dass jeder mehrere Entwürfe seiner selbst in sich trägt. Schließlich ist noch der Italiener Luigi Pirandello zu nennen, der ganz ähnlich wie Frisch das Spiel mit den Identitäten zum Gegenstand seiner Literatur machte, etwa in dem Roman Mattia Pascal oder in dem Theaterstück Sechs Personen suchen einen Autor.

Entstehung

Mein Name sei Gantenbein ist Max Frischs dritter großer Roman. Er folgte auf seine Erfolge Stiller (1954) und Homo faber (1957). Alle drei Werke gehören in eine Schaffensperiode, in der Frisch die Identität des modernen Menschen stark gewichtete. Die Idee für den Gantenbein findet sich, wie häufig bei Frisch, bereits in seinen Tagebüchern aus den 1940er Jahren. Darin beschreibt er, dass sich das Wichtige gern im Ungesagten, im „Weißen zwischen den Worten“ verstecke. Das Eigentliche entstehe erst in der Spannung zwischen den Aussagen, nicht in den Aussagen selbst. Vielleicht gebe es keine andere Möglichkeit, das Erfahrene auszudrücken, als Geschichten aneinanderzureihen. Die Idee, dass sich jeder Mensch durch seine Geschichten erst selbst erfindet, hat Frisch zuerst in einem Interview geäußert. Faszinierend und erschreckend sei, so Frisch, dass sich mit den gleichen Vorkommnissen viele verschiedene Geschichten erzählen ließen – je nachdem, welche „Erfindung des Ichs“ sich der Erzähler jeweils zuweise.

In den Gantenbein-Roman flossen Erfahrungen ein, die der Autor selbst gemacht hatte: die Faszination für die Frauen, eine gescheiterte Ehe und die Unfähigkeit, eine dauerhafte Beziehung einzugehen, besonders aber seine Beziehung zu Ingeborg Bachmann, die ihn nicht selten betrogen hatte. Dennoch ist das Werk mehr als ein autobiografisch geprägter Eheroman: Die Ehe wird eher als ein Beispiel gesehen, an dem Frisch demonstriert, wie und warum menschliches Zusammenleben scheitern muss. Dass Frisch mit Gantenbein seine Leidenschaft für das Pfeifenrauchen teilt, mag ein augenzwinkernder Hinweis darauf sein, dass er im Roman auch von sich selbst spricht.

Wirkungsgeschichte

Mein Name sei Gantenbein war Frischs provokantestes Erzählprojekt – allerdings weit weniger erfolgreich als Stiller und Homo faber. Diese Romane gelten als eingängig, der Gantenbein dagegen als kompliziert und wenig einladend. Die zeitgenössische Kritik sah das Werk einerseits als klassischen Bildungs- oder Entwicklungsroman, in dem ein Mensch versucht, sich selbst zu finden. Andererseits wurde der Ich-Erzähler als künstlerischer Typ gesehen, der in die gesellschaftsferne Rolle des Blinden schlüpft und kühl beobachtet. Man warf Frisch vor, lediglich sein Konzept des Stiller erneut in einem Roman verarbeitet zu haben.

Ähnlichkeiten mit dem zur gleichen Zeit auftretenden einflussreichen Nouveau Roman in Frankreich stritt Frisch stets ab, doch die Kritik wies immer wieder darauf hin: Wie der Schweizer Autor arbeitete auch der prominenteste Vertreter des Nouveau Roman, Alain Robbe-Grillet, mit der konsequenten Aufkündigung des kontinuierlichen Erzählflusses.

Auch auf die Nähe zur existenzialistischen Philosophie wurde hingewiesen, die eben-falls mit der als selbstverständlich gesehenen Einheit des Ichs brach. Mit seiner Montagetechnik im Gantenbein trieb Frisch nicht nur ins Extrem, was er im Stiller bereits begonnen hatte, er sorgte auch für einen weiteren Meilenstein in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Über den Autor

Max Frisch wird am 15. Mai 1911 als Sohn eines Architekten in Zürich geboren. Nach dem Gymnasium beginnt er ein Germanistikstudium, bricht es 1934 ab, arbeitet als freier Journalist, u. a. als Sportreporter in Prag, und verfasst Reiseberichte. Er ist vier Jahre mit einer jüdischen Kommilitonin liiert, die er heiraten will, um sie vor Verfolgung zu schützen, sie lehnt jedoch ab. Ab 1936 studiert er in Zürich Architektur, 1940 macht er sein Diplom. Ein Jahr später gründet er ein Architekturbüro und arbeitet gleichzeitig als Schriftsteller. Er heiratet 1942 seine ehemalige Studienkollegin Gertrud (Trudy) Constance von Meyenburg, mit der er drei Kinder hat. 1951 hält sich Frisch für ein Jahr in den USA und in Mexiko auf. 1954 erscheint sein erster Roman: Stiller. Das Buch ist so erfolgreich, dass Frisch sich nun ganz der Schriftstellerei widmen kann. 1955 löst er sein Architekturbüro auf und bereist die USA, Mexiko, Kuba und Arabien. 1958 erhält er den Georg-Büchner-Preis und den Literaturpreis der Stadt Zürich, ein Jahr später wird seine erste Ehe geschieden. 1960 zieht Frisch nach Rom, wo er fünf Jahre lang mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zusammenlebt – und die 23-jährige Studentin Marianne Oellers kennen lernt. 1961 wird das Theaterstück Andorra uraufgeführt, ein Gleichnis über die fatale Wirkung von Vorurteilen. 1964 erscheint der Roman Mein Name sei Gantenbein. Im Folgejahr übersiedelt Frisch zurück ins Tessin in die Schweiz. 1966 und 1968 unternimmt er größere Reisen in die UdSSR, 1970 folgt wieder ein längerer USA-Aufenthalt. Inzwischen hat er Marianne Oellers, mit der er jahrelang zusammengelebt hat, geheiratet. 1975 veröffentlicht Frisch die autobiografisch gefärbte Erzählung Montauk. Schweizkritische Schriften wie Wilhelm Tell für die Schule (1971) führen in seiner Heimat zu Widerspruch, in Deutschland findet er mehr Anerkennung. 1976 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Max Frisch stirbt am 4. April 1991 in Zürich an Krebs.

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