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Minima Moralia

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Minima Moralia

Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Eines der wichtigsten Werke Theodor W. Adornos und der Frankfurter Schule.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Ein Manifest für den kritischen Intellektuellen

Jürgen Habermas, der Lieblingsschüler Adornos, hat Minima Moralia zum Hauptwerk seines Lehrers ernannt. Tatsächlich setzen die Aphorismen Adornos gemeinsame Arbeit mit Max Horkheimer aus der Dialektik der Aufklärung fort und nehmen Themen und Gedanken aus Adornos späteren Werken vorweg. Minima Moralia präsentiert die gesamte thematische und stilistische Bandbreite Adornos und erweist ihn als nonkonformistischen Kulturkritiker, der kein Detail der alltäglichen Lebenswelt aus seiner umfassenden Erkundung der Gegenwart ausnimmt. Ein Kinderlied, eine Floskel, selbst das Zuschlagen einer Tür kann für den kritischen Intellektuellen, wie ihn Adorno in Minima Moralia nicht nur beschreibt, sondern geradezu vorlebt, zum Ausgangspunkt werden für Reflexionen über Kunst, Ethik, den Kapitalismus, das Verhältnis der Geschlechter, letztlich über das Leben in der modernen Kultur selbst. Dabei fällt sein Befund nicht gerade rosig aus, wie das Motto des ersten Teils zusammenfasst: „Das Leben lebt nicht.“ Entstanden zwischen 1945 und 1947 im amerikanischen Exil, ist Minima Moralia auch der Versuch, die Katastrophe zweier Weltkriege und des Faschismus zu verarbeiten und ihre Bedeutung für die moderne Kulturgeschichte zu ergründen.

Take-aways

  • Minima Moralia ist eines der wichtigsten Werke des deutschen Philosophen Theodor W. Adorno.
  • Inhalt: Der kritische Intellektuelle muss den gegenwärtigen katastrophalen Zustand der Kultur analysieren: den Zweiten Weltkrieg und den Faschismus, die Kulturindustrie und die Massenmedien sowie die zunehmende Entfremdung des Einzelnen von seiner eigenen Erfahrung. Dabei gilt es, die Möglichkeit einer besseren, menschenfreundlicheren Welt zumindest im Denken zu bewahren.
  • Adorno schrieb die Aphorismensammlung zwischen 1945 und 1947 in der Emigration in den USA.
  • Sie ist eine Art Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung, des Hauptwerks der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.
  • Der Titel bezieht sich negativ auf eines der Hauptwerke der Ethik der Antike, die Magna Moralia des Aristoteles.
  • Adornos philosophische Methode wird als Mikrologie bezeichnet: Ausgehend von konkreten Anlässen und Erfahrungen denkt er das Allgemeine, die Gesellschaft.
  • Adorno bezieht sich besonders stark, aber stets kritisch, auf Nietzsche und Hegel.
  • Das Buch war 1951 eine der ersten Publikationen des neuen Suhrkamp-Verlags.
  • Es machte Adorno zu einem der führenden Intellektuellen Nachkriegsdeutschlands.
  • Zitat: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Zusammenfassung

Zueignung an Max Horkheimer

Der zentrale Gegenstand der Philosophie war traditionell die Ethik, also die Lehre vom richtigen Leben. Doch das Leben ist höchst problematisch geworden, seit es auf die bürgerliche Privatsphäre und den kapitalistischen Konsum reduziert und damit zum bloßen Anhängsel der ökonomischen Produktionsverhältnisse wurde. Seither ist die individuelle Existenz entfremdet, fremdbestimmt durch soziale Mächte, auf die es keinen Einfluss mehr hat. Wer angesichts des Verschwindens des Subjektiven noch über das unmittelbare Leben schreiben will, muss also über diese objektiven Prozesse der Gesellschaft nachdenken.

„Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen.“ (S. 13)

Die Dialektik Hegels kann noch immer als Methode genutzt werden – aber nicht in unkritischer Art. Denn bei Hegel dominiert stets der Blick aufs Ganze, dem das Besondere und Individuelle zum Opfer fällt. Dagegen gilt es für eine kritische Theorie, gerade in der individuellen Sphäre des Lebens Reste von Widerständen und Differenzen zur Gesellschaft zu entdecken. Es gilt, Erkundungen in der eigenen subjektiven Erfahrungswelt anzustellen und dabei Überlegungen fortzusetzen, die gemeinsam mit Max Horkheimer begonnen wurden. Ihm sind die folgenden Gedanken auch gewidmet.

Die Kommerzialisierung der Privatsphäre

Während früher ein klares Bewusstsein für die Trennung von Privatsphäre und Beruf herrschte, wird heute noch der intimste Bereich des Privaten kommerzialisiert und nach dem Vorbild der geschäftigen Produktion des Berufslebens umgestaltet. Wer in seinen privaten Beziehungen keine Zwecke und nicht den eigenen Vorteil verfolgt, wer seine Mitmenschen nicht in Freund und Feind gemäß dem Eigeninteresse einteilt, gilt als suspekt. Ein gutes Beispiel ist die Tugend des Schenkens: Heute scheint verdächtig, wer gibt, ohne dafür eine Bezahlung durch eine Gegengabe zu erwarten. Offenbar kann man die Ausnahme aus dem allgemeinen Tauschverhältnis gar nicht mehr ernsthaft denken. So sind auch die ehemals abenteuerlichen erotischen Seitensprünge verheirateter Männer ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Statt freier und abenteuerlicher Romantik dürfen sie nur mehr vernünftig kalkulierte Tauschgeschäfte erwarten: Für eine Nacht mit der hübschen Künstlerin müssen sie ihr tags darauf Verträge oder Engagements vermitteln.

Der Zweite Weltkrieg und der Faschismus

In den faschistischen Regimes der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Kapitalismus gefestigt – und unvorstellbares Grauen entfaltet. Die bürgerlichen Institutionen wie Privatheit, Eigentum, Partikularinteresse oder Familie bleiben bestehen, aber sie sind ihrer Substanz beraubt. Zurückgeworfen in Isolation und Vereinzelung, flüchten sich die Bürger in die Verteidigung des Eigenen. Sie wissen sehr wohl, dass sie, egal wie erfolgreich sie sein mögen, ihr eigenes Leben nicht mehr bestimmen und gestalten können. Doch da sie nicht erkennen, dass die Bedrohung von den objektiven Mächten der Gesellschaft herrührt, fürchten sie die Fremden und anderen – und werden damit anfällig für den Faschismus. Insofern ist das Aufkommen der Nazis nicht überraschend – die deutsche Kultur war bereits seit dem Ende des Ersten Weltkriegs auf dem Weg in den Faschismus. Mit dem Zweiten Weltkrieg ist die Katastrophe, das Ende der bekannten Welt eingetreten. Dass Kultur, Humanität oder das normale Leben danach wieder aufzubauen seien, ist eine naive Illusion. 

„Die Signatur des Zeitalters ist es, daß kein Mensch (…) sein Leben in einem einigermaßen durchsichtigen Sinn (…) mehr selbst bestimmen kann. Im Prinzip sind alle, noch die Mächtigsten Objekte.“ (S. 41)

Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, insbesondere die Gräuel der Konzentrationslager, entziehen sich jeglichem Verständnis. Dennoch muss das Denken versuchen, dieses Unsagbare zumindest ansatzweise zu begreifen. Das Verhalten der Nazis wirkte todessüchtig, ähnlich der Götterdämmerung Wagners: Am Anfang stand bereits der gewollte oder erahnte eigene Untergang fest. So zog Deutschland trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche gegenüber der restlichen Welt in einen rücksichtslosen und aussichtslosen Krieg mit ihr. Die Ereignisse entziehen sich dem Verständnis, auch durch ihre vollständige Überdeckung durch Propaganda, Informationspolitik und mediale Vermittlung. Als Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs bleiben die Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge und das Absterben der unmittelbaren Erfahrung angesichts ihrer umfassenden Formung durch die Kulturindustrie.

Der Intellektuelle

Durch die Vereinheitlichung der Massenmedien wird die Subjektivität selbst zunehmend verunmöglicht. Dennoch darf man sich der Verwaltung und ökonomischen Verwertung nicht widerstandslos übergeben. Die Kultur ist zwar fehlgeschlagen, bleibt aber die einzige Alternative zum absoluten Kapitalismus. Doch da die herrschende Normalität das Kranke und Unmenschliche schlechthin geworden ist, kann der kritische Intellektuelle nicht mehr in der sozialen Unmittelbarkeit mitmachen. Jedes unschuldige Geplauder, jeder einfache Kinobesuch ist bereits Teilnahme an der herrschenden Gewalt und Geistfeindlichkeit. Der Intellektuelle muss sich zurückziehen, distanzieren und die gegenwärtige Welt reflektieren – ohne dabei in den falschen Glauben zu verfallen, er sei dem richtigen Leben näher als der Rest. Er ist genauso in der falschen Welt gefangen wie jeder andere – der winzige Unterschied ist, dass er diese Verstrickung im Denken erkennt. Die Anforderung an den kritischen Intellektuellen besteht darin, die Möglichkeit ungenormter Urteile zu bewahren. Dazu muss er sich sowohl von Intellektuellenzirkeln und -klischees distanzieren als auch vom wissenschaftlich-universitären Betrieb. Beide schränken das freie Denken ein, indem sie es vorformen und schematisieren.

Technischer Fort- und Rückschritt

Der technische und organisatorische Fortschritt entpuppt sich als sachliche Regression. So haben sich etwa die Medien völlig von ihrem Inhalt abgekoppelt. Die Konsumenten begehren im Kino oder in der Literatur nur die aktuellsten technischen Tricks und Techniken und kümmern sich nicht darum, dass diese stets denselben altbekannten Kitsch verpacken. Die Zugverbindungen sind modernisiert worden, insofern die Fahrtzeiten zwischen zwei Orten immer kürzer werden – doch der Komfort, der ehemals mit dem Reisen verbundene Luxus, ist völlig untergegangen. Wo einst menschliche Nähe und Behaglichkeit Priorität hatten, etwa im Hotel- und Restaurantwesen, regieren heute  kalte Arbeitsteilung und geschäftige Abfertigung des Kunden, ohne im Geringsten auf ihn einzugehen oder ihm entgegenzukommen. Der Kunde hat sich nach dem Betrieb zu richten. Selbst im technisierten und rein zweckgebundenen Design der Haushaltsgeräte wird der Mensch heute dazu angetrieben, alle Freiheit und Selbstbestimmung des Verhaltens aufzugeben. Die Dinge trainieren den Menschen darauf, sich mechanistisch und unsensibel zu bewegen, sodass er bereits verlernt, „behutsam und doch fest eine Tür zu schließen“.

Das Subjekt als Ausdruck der Gesellschaft

Die so weit skizzierte Krise der individuellen Erfahrung wird oft genug auch von der reaktionären Kritik festgestellt. Nur hält sie das Individuum selbst dafür verantwortlich und übersieht dabei, wie wesentlich Innenleben und Selbsterfahrung des Menschen durch die Gesellschaft bestimmt sind. In den modernen Gesellschaften, besonders den totalitären Staaten, werden die Menschen so stark in die materiellen Produktionsprozesse integriert, dass sie von sich selbst entfremdet werden. Die zunehmende Verbreitung von psychischen Störungen, etwa der Schizophrenie, steht in direktem Zusammenhang mit dieser Auslöschung des Subjekts in der ökonomischen Maschinerie. Dazu gesellt sich die Kulturindustrie, etwa das Kino, das die Menschen dazu bringt, sich an standardisierte Vorbilder in Form der Stars anzupassen. Durch sie wird sogar die Sprache, die alltägliche Rede der Menschen, schematisiert, sodass sich niemand mehr eigentlich unterhält und eigene Erfahrungen oder Gedanken mitteilt, sondern man bloß Floskeln und Allgemeinplätze wiederholt.

Über Kunst

Kunst muss eine Idee des Schönen bewahren und sie gleichzeitig als Unmöglichkeit ausweisen. Solange das Kunstwerk nur vereinzeltes und künstlich hergestelltes Werk ist, bleibt die Wahrheit der Schönheit unverwirklicht. Jedes Kunstwerk zielt auf die einzig wahre Schönheit und strebt somit nicht nur der Vernichtung aller anderen Kunstwerke, sondern sogar der Überwindung seiner selbst entgegen. Damit Schönheit Wirklichkeit wird, muss sich Kunst, als das Scheinhafte schlechthin, selbst zerstören. Sie steckt in einer schweren Krise. Durch das Ende der Subjektivität kann sie Geschichtliches, etwa den Faschismus, nicht mehr darstellen, denn das Unmenschliche und die totale Unfreiheit sind nicht darstellbar – höchstens erkennbar. Eine ähnliche Krise erfasst Realismus und Naturalismus, denn durch den Film werden sie vollständig in ihr Gegenteil verkehrt: Durch seine vollständige Inszenierung und Blicklenkung ist der Film im höchsten Grad unnatürlich, künstlich und deshalb falsch. Gute Kunst dagegen verstört die Erwartungen der Konsumenten, sie drückt ungebundene Instinkte aus, die im Widerspruch und Widerstand zur gesellschaftlichen Realität stehen.

Bruchstücke der Utopie

Die Liebe ist eine bürgerliche Idee – aber eine, die über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist. Diese Idee meint die unwillkürliche und pure Unmittelbarkeit des Gefühls, die sich also nicht um Berechnung und Kalkül kümmert und damit der gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegensteht. Auch die Kinder entkommen dem Primat des Tauschwerts, der die gesamte Erwachsenenwelt bestimmt. Wenn Kinder spielen, so haben ihre Spielzeuge lediglich Gebrauchswert, das heißt, es handelt sich um Dinge, die ihren Zweck nur im Spiel selbst haben. Für Kinder ist die Welt noch verzaubert, ereignisreich und bunt. Wie die zwecklose Existenz der Tiere deutet das Kinderspiel auf ein mögliches richtiges Leben: eine Praxis, die nicht vom Tauschwert dominiert ist. Diese Ahnung kehrt auch in der Lebensweise des Intellektuellen wieder, der die allgemein anerkannte Trennung zwischen Arbeit und Vergnügen nicht kennt und damit die Aufteilung des Subjekts in voneinander völlig abgespaltene Aufgabenbereiche, die Entfremdung des Subjekts, überwindet. Im Intellektuellen entscheidet sich, ob eine emanzipierte Gesellschaft möglich bleibt.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (S. 43)

Die Losung, alle Menschen seien gleich, entpuppt sich in der Kulturindustrie als Albtraum, meint sie doch das absolute Gleichmachen der Menschen im Sinne ihrer Austauschbarkeit, Vertretbarkeit und individuellen Nichtigkeit. Dagegen sollte in einer emanzipierten Gesellschaft gerade die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Menschen zugelassen und ausgelebt werden dürfen, ohne Angst vor Gewalt und Unterdrückung. Es ist schwer, sich die emanzipierte Gesellschaft konkret vorzustellen, da man dabei stets von der gegenwärtigen falschen Verfassung der Welt ausgeht. Am ehesten kann sie derzeit als Ende der Not und des Hungers gedacht werden. An die Stelle des Zwangs zur ständigen Produktionssteigerung und technologischen Entwicklung würden Muße, Kontemplation und unproduktives Dasein treten.

Die kritische Theorie

Denken gründet immer im Wunsch, im Trieb, in der Wahrnehmung, letztlich in der Empirie und der gesellschaftlich-materiellen Praxis. Erkenntnis und Gedanken sind also das Ergebnis von Erfahrungen, die sich nicht vollständig innerhalb der Sprache abspielen. Deshalb können Gedanken auch nicht vollständig transparent dargestellt und begründet werden. Das widerspricht der gegenwärtigen Vorstellung von akademischer Redlichkeit, die eine minutiöse Herleitung jedes Gedankens verlangt und im Allgemeinen auf bloßes Rechthaben aus ist. Dagegen sollte ein Gedanke so dargestellt werden, dass sich die Frage der Richtigkeit gar nicht erst stellt. Das bedeutet nicht, in den Irrationalismus abzurutschen, sondern den Unterschied zwischen These und Argument aufzuheben: Ein Gedanke sollte seine Begründung so vollständig wie möglich in sich tragen und zu seiner Erklärung so wenig wie möglich auf nachträgliche Konstruktionen angewiesen sein. Daher sollten in einem philosophischen Text alle Sätze gleich wichtig sein.

„Was heute geschieht, müßte ‚Nach Weltuntergang‘ heißen.“ (S. 61)

Dass der Wert eines Gedankens in seinem tautologischen Grad liegt, also darin, wie genau er das bereits Bekannte wiederholt, ist der weitverbreitete Glaube des Positivismus. Dagegen muss festgehalten werden, dass das Denken und sein Gegenstand nie eins sein können. Denken hat immer etwas Virtuelles, Antizipierendes und geht deshalb über das bloß Gegebene hinaus. Der Wert von kritischer Theorie liegt gerade in Gedanken, die zu bekannten und von der Kulturindustrie schematisierten Ideen quer liegen, davon abweichen und mit ihnen nur schwer erfasst werden können. Doch wie soll die Erkenntnis die Welt betrachten, wenn sie nicht ihre Gegebenheiten bloß wiederholen soll? Aus der Perspektive der Erlösung. Die im gegenwärtigen historischen Krisenzustand notwendige Form der Erkenntnis muss auf die Welt so blicken, als ob sie bereits die erlöste Welt kennen würde. Erst vor dieser Negativfolie kann die Welt in ihren Mängeln und Fehlern erkannt werden. 

Zum Text

Aufbau und Stil

Minima Moralia ist eine Sammlung von 153 Aphorismen, die fortlaufend nummeriert und in drei Kapitel unterteilt sind: Erster Teil 1944, Zweiter Teil 1945 sowie Dritter Teil 1946/47. Jeder dieser drei Teile umfasst etwa 50 Aphorismen und wird durch ein kurzes Motto eingeleitet. Dem Buch ist eine Einleitung mit dem Titel Zueignung vorangestellt, die den Kontext sowie einige wichtige theoretische Voraussetzungen vorstellt. Die einzelnen Aphorismen sind meist sehr kurz gehalten, zwischen einer halben und zwei Seiten lang, und stets mit einer kurzen, kursiv gesetzten Überschrift versehen. Sie stellen eigenständige Fragmente dar, die meistens in keinem direkten inhaltlichen Zusammenhang stehen und letztlich in beliebiger Reihenfolge gelesen werden könnten. Dennoch gibt es zwischen unterschiedlichen Aphorismen immer wieder inhaltliche Überschneidungen, manchmal bilden ein paar aufeinanderfolgende Stücke sogar thematische Blöcke, indem sie dieselben Themen umkreisen, etwa die Psychoanalyse oder Adornos Vorstellung vom Intellektuellen. Stilistisch entsprechen die Texte philosophischen Kurzessays, die meist von alltäglichen Beobachtungen oder konkreten Anlässen ausgehen und in eher allgemeinen, gesellschaftstheoretischen oder anthropologischen Überlegungen enden. Der letzte Satz dieser Miniaturen ist oft als prägnante und zugespitzte Schlussfolgerung und Zusammenfassung des gesamten Fragments formuliert.

Interpretationsansätze

  • Der Titel Minima Moralia ist eine Anspielung auf das Aristoteles zugeschriebene Ethikbuch Magna Moralia. Die negative Umkehrung der Titelgebung zeichnet das Programm der Minima Moralia vor: Anstelle eines groß angelegten Plans für das richtige Leben erwartet den Leser, angesichts der Unmöglichkeit eines richtigen Lebens im falschen, lediglich eine Minimalethik.
  • Was Adorno dementsprechend vorlegt, sind weniger konkrete positive Lebensideale als undogmatische Kultur- und Kapitalismuskritik. Er setzt sich sowohl von der konservativen als auch von der marxistischen Kritik ab und versucht, eine eigenständige und grundsätzliche Gesellschaftskritik zu entwickeln.
  • In der Einleitung stellt sich Adorno in die Tradition Nietzsches. Indem er sein Projekt als „traurige Wissenschaft“ bezeichnet, spielt er auf Nietzsches Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft an und weist sie damit als Vorbild für die Form und Methode seiner eigenen Fragmente aus.
  • Die aphoristische Form und der fragmentarische Inhalt unterstreichen den anti-systematischen Ansatz von Adornos Arbeit. Er versucht nicht, eine umfassende Metaphysik des Menschen und der Geschichte zu erstellen, sondern lediglich, aus konkreten Erfahrungen heraus zu denken.
  • Die von Adorno angewandte Methode wird oft als Mikrologie bezeichnet. Das bedeutet, vom Unmittelbarsten und Subjektiven auszugehen und davon zum Allgemeinen, etwa der Gesellschaft überzugehen.
  • Daran zeigt sich Adornos starker, aber auch kritischer Bezug zu Hegel. Während die Dialektik Hegels stets vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet und Widersprüche in Einheiten aufhebt, strebt Adorno das Gegenteil an: eine Mikrologie sowie das Offenlassen von Widersprüchen und Differenzen.

Historischer Hintergrund

Der Zweite Weltkrieg

Nachdem die europäischen Demokratien Großbritannien und Frankreich der aggressiven Expansions- und Einmischungspolitik der faschistischen Achsenmächte Deutschland und Italien während der 1930er-Jahre zurückhaltend und diplomatisch begegnet waren, führte Deutschlands Invasion Polens am 1. September 1939 schließlich zur Kriegserklärung. Während die Alliierten erst mit der Mobilisierung ihrer Streitkräfte beginnen mussten, eroberte die bereits organisierte Wehrmacht im sogenannten Blitzkrieg im Sommer 1940 Dänemark, Norwegen, die Benelux-Staaten und Frankreich. Im Juni 1941 begann sie einen Vernichtungskrieg gegen die UdSSR, der jedoch völlig misslang und nach der symbolträchtigen Niederlage in Stalingrad im Winter 1942/43 in eine Offensive der russischen Armee gegen Deutschland umschlug. Nachdem Ende 1941 die USA in den Krieg eingetreten waren, gelang es den Alliierten im Herbst 1942, die Achsenmächte in Nordafrika zurückzudrängen; im Sommer 1944 landeten sie in Frankreich und überquerten im Oktober die deutsche Grenze. Nach dem Selbstmord Adolf Hitlers am 30. April 1945 kapitulierte Deutschland am 8. Mai 1945 bedingungslos.

Der Zweite Weltkrieg gilt als humanitäre wie kulturelle Katastrophe. In nationalsozialistischen Konzentrationslagern fand bereits seit dem Ende der 1930er-Jahre die systematische Ermordung von ethnischen Minderheiten und politischen Dissidenten sowie vor allem der Völkermord an den Juden statt, der ab 1941 eines der vorrangigen kriegspolitischen Ziele der Nazis war.  

Entstehung

Nachdem das Frankfurter Institut für Sozialforschung, aus dem die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hervorging, 1933 von den Nazis geschlossen worden war, flohen die meisten Institutsmitglieder auf unterschiedlichen Wegen in die USA. Adorno emigrierte 1934 nach Großbritannien und ging von dort 1938 nach New York. Das Institut war zersplittert; seine Mitglieder siedelten sich sowohl an der West- als auch der Ostküste an und arbeiteten vorwiegend an den Universitäten Berkeley, Kalifornien und Columbia, New York. Zwischen 1939 und 1944 verfasste der Leiter des Instituts, Max Horkheimer, mit seinem langjährigen Freund und Mitarbeiter Adorno in Kalifornien Die Dialektik der Aufklärung. Dieses Buch gilt heute als das Hauptwerk der Kritischen Theorie.

Horkheimer musste in der Folge jedoch immer öfter nach New York reisen, um dort ein groß angelegtes Prestigeprojekt voranzutreiben: eine umfangreiche sozialwissenschaftliche Untersuchung des Antisemitismus. Adorno setzte daraufhin die gemeinsam begonnene Arbeit an einer kritischen Kultur- und Gegenwartsanalyse allein fort. Am 14. Februar 1945 überreichte er seinem Freund Horkheimer ein Manuskript mit dem Titel Minima Moralia und der handschriftlichen Widmung: „Fünfzig Aphorismen zum Fünfzigsten Geburtstag.“ Diese Aphorismen bilden den ersten Teil der Buchfassung der Minima Moralia. Den zweiten Teil erhielt Horkheimer zu Weihnachten desselben Jahres, mit der Widmung: „Zur Rückkunft“ – gemeint war Horkheimers Aufenthalt an der Ostküste. Den dritten Teil verfasste Adorno in den Jahren 1946 und 1947.

Wirkungsgeschichte

1950 kehrte das Institut für Sozialforschung wieder nach Frankfurt am Main zurück. Horkheimer wurde zum Leiter der philosophischen Fakultät an der Universität Frankfurt gewählt und Adorno begann seinen Aufstieg zu einem der bekanntesten Intellektuellen der deutschen Nachkriegszeit. Als wesentlicher Schritt auf diesem Weg gilt heute die Veröffentlichung von Minima Moralia, Adornos erster Buchveröffentlichung seit seiner Rückkehr nach Deutschland. Die drei Teile des Buches wurden durch eine Einleitung und einen kurzen Anhang eingerahmt und mit einer Widmung „Für Max als Dank und Versprechen“ versehen. Das Buch erschien 1951 im Suhrkamp-Verlag, der ein Jahr zuvor neu gegründet worden war, in einer Auflage von 3000 Stück.

Minima Moralia verkaufte sich – für ein philosophisches Werk – sehr gut. Der Journalist Ulrich Raulff nannte es im Rückblick 2003 sogar ein „philosophisches Volksbuch“. Das öffentliche Echo war ausgesprochen groß: So gut wie alle großen deutschsprachigen Zeitungen und Radiosendungen widmeten sich dem Werk und beurteilten es überwiegend positiv; unter Intellektuellen und Künstlern wurde Minima Moralia enthusiastisch aufgenommen. Einige Autoren bezogen sich seither darauf, so weist Botho Straußʼ Essays Paare, Passanten von 1981 auffällige stilistische und formale Ähnlichkeiten zu Minima Moralia auf. Der Humorist Robert Gernhardt veröffentlichte 1987, Adorno karikierend, Es gibt kein richtiges Leben im valschen. 2003 veröffentlichten Andreas Bernard und Ulrich Raulff eine Retrospektive unter dem Titel Minima Moralia neu gelesen, in der namhafte Kritiker und Philosophen wie Jürgen Habermas oder Elisabeth Lenk einzelne Aphorismen kommentierten. Bereits 1965 hatte Habermas, Adornos Assistent und Lieblingsschüler, Minima Moralia zum Hauptwerk Adornos erklärt.

Über den Autor

Theodor W. Adorno wird am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren. Bereits im Gymnasium beginnt er sich für die Philosophie Immanuel Kants zu interessieren. Entsprechend studiert er von 1921 bis 1924 Philosophie, Psychologie und Musikwissenschaft in Frankfurt. Hier trifft er auch auf Walter Benjamin und Max Horkheimer. Neben seinem Interesse für die Philosophie ist er ein begeisterter Musiker, Komponist und Musikkritiker. Nachdem Adorno 1924 mit einer Arbeit über Edmund Husserl promoviert hat, zieht er 1925 für ein Jahr nach Wien, um bei Alban Berg Komposition zu studieren. 1931 reicht er seine Habilitation über Kierkegaard ein. Im selben Jahr beginnt die Zusammenarbeit mit Horkheimer, der Adorno an das Institut für Sozialforschung in Frankfurt holt. 1933 schließen die Nazis das Institut, Adorno erhält aufgrund seiner jüdischen Abstammung ein Lehrverbot und entschließt sich, Deutschland zu verlassen. 1934 geht er zunächst nach Oxford in England und setzt sein Husserl-Studium fort. Im Frühjahr 1938 schließlich reist Adorno mit seiner Frau Margarete „Gretel“ Karplus nach New York, um am dort neu aufgebauten Institut für Sozialforschung zu arbeiten. Nach seinem Umzug nach Kalifornien verfasst er zusammen mit Horkheimer die Dialektik der Aufklärung, das Hauptwerk der Frankfurter Schule. 1949 kehrt er nach Frankfurt zurück, wo er 1956 ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie am Institut für Sozialforschung wird und das Institut ab 1958 leitet. 1961 tritt Adorno im sogenannten Positivismusstreit als Gegner von Karl Popper auf. Durch seine Vorlesungen und philosophische Werke wie Minima Moralia (1951), Negative Dialektik (1966) und Ästhetische Theorie (1969) wird Adorno zu einem der bekanntesten Intellektuellen der deutschen Nachkriegszeit. Er stirbt am 6. August 1969 in Visp in der Schweiz.

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