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Mord im Orientexpress

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Mord im Orientexpress

Atlantik,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Wer brach alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit und kam ungestraft davon? Agatha Christie!


Literatur­klassiker

  • Kriminalroman
  • Moderne

Worum es geht

Das Unmögliche möglich machen

Man muss sich das mal vorstellen: Im eingeschneiten Orientexpress mit einem berühmten Detektiv an Bord wird ein weltweit bekannter Kindesentführer brutal erstochen, ohne dass ihn jemand erkannt haben will. Am Ende schließt der Detektiv einfach die Augen und fabuliert eine so abenteuerliche Erklärung zusammen, dass sich jedem Krimiautor unserer Zeit der Magen umdrehen dürfte. „Eh bien“, so könnte Hercule Poirot einwerfen und sich den prächtigen Schnurrbart zwirbeln, „das ist der springende Punkt.“ Seine Schöpferin hat das Unmögliche möglich gemacht. Eine Autorin, die sich selbst als „Wurstmaschine“ bezeichnete, ihre besten Einfälle beim Geschirrspülen hatte und zugleich Bertolt Brecht, Thomas Mann und Konrad Adenauer in ihren Bann zog, der man vorwarf, Typen von der psychologischen Tiefenschärfe einer Spielkarte zu entwerfen, und die doch mehr Bücher verkaufte als Shakespeare. Man braucht keinen detektivischen Spürsinn, um zu erraten, wie ihr das gelang – das Meisterwerk Mord im Orientexpress liefert Indizien genug.

Take-aways

  • Agatha Christies Mord im Orientexpress zählt zu den bekanntesten Fällen des legendären Detektivs Hercule Poirot.
  • Inhalt: Der Luxuszug von Istanbul nach London bleibt mitten in der Nacht in einer Schneewehe stecken. Am nächsten Morgen wird ein Mann ermordet aufgefunden, der sich verblüffenderweise selbst als Kindesentführer und Mörder entpuppt. Detektiv Poirot vermutet den Mörder des Mörders unter den Mitreisenden. Doch die Indizien und Zeugenaussagen ergeben kein schlüssiges Bild. Bis die grauen Zellen des Meisterdetektivs zur Höchstform auflaufen und er den Schuldigen findet: Es sind sämtliche Passagiere!
  • „Whodunit“ – wer war’s? Der Leser darf mitraten und puzzeln, aber Poirot ist ihm immer eine Nasenlänge voraus.
  • Die passionierte Weltenbummlerin Agatha Christie verarbeitete für den Roman eigene Reiseerlebnisse und einen wahren Kriminalfall.
  • Über die Tätersuche hinaus behandelt das Buch die Frage, unter welchen Bedingungen ein Mord moralisch gerechtfertigt ist.
  • Mord im Orientexpress erschien 1934 im Goldenen Zeitalter der Detektivromane, das Christie entscheidend mitprägte.
  • Ihre Rätselkrimis boten in der Zeit zwischen den Weltkriegen eskapistischen Lesespaß für jedermann.
  • Kritiker bemängelten, die Figurenzeichnung sei schablonenhaft und die Plots seien an den Haaren herbeigezogen.
  • Christies Fans stört das nicht: Mit über 2 Milliarden verkauften Büchern ist die „Queen of Crime“ die erfolgreichste Schriftstellerin aller Zeiten.
  • Zitat: „,Der Mörder‘, sagte Monsieur Bouc mit feierlichem Ernst, ,ist unter uns – er sitzt jetzt in diesem Zug.‘“

Zusammenfassung

Ausgebucht

Der Privatdetektiv Hercule Poirot steigt an einem kalten Wintermorgen in Aleppo in den Taurus-Express nach Istanbul, wo er sich vor der Weiterreise nach Europa ein paar Tage lang umsehen möchte. Mit ihm reisen nur zwei Engländer, die junge Gouvernante Mary Debenham und Colonel Arbuthnot, ein Oberst aus Indien. Obwohl die beiden den kleinen Belgier mit seinem ulkigen Schnurrbart nicht für voll nehmen, entgeht dem scharfen Beobachter nicht das kleinste Detail: Offenbar kennen die beiden einander besser, als sie sich nach außen hin anmerken lassen, und die junge Dame wird im Lauf der Reise immer nervöser. Als der Zug wegen einer Panne kurzzeitig zum Stehen kommt, reagiert sie panisch, als hinge ihr Leben davon ab, den Anschluss an den Simplon-Orientexpress in Istanbul nicht zu verpassen.

„Nicht jetzt. Nicht jetzt. Erst wenn alles vorbei ist. Wenn wir es hinter uns haben – dann –“ (Debenham zu Arbuthnot, S. 16)

Im Istanbuler Hotel erwartet Poirot ein Telegramm, das ihn unverzüglich nach London zurückbeordert. Er bittet den Portier, ihm einen Schlafwagenplatz im Orientexpress von Istanbul nach Calais zu reservieren, und begibt sich zum Abendessen ins Restaurant. Poirot macht seinen Freund Monsieur Bouc, den Direktor der Internationalen Schlafwagengesellschaft, auf zwei Männer am Nebentisch aufmerksam: Der Ältere der beiden kommt ihm vor wie ein grausames Tier im Käfig. Er ist überzeugt: Hinter der Fassade des gediegenen Geschäftsmanns versteckt sich das Böse. Kurz vor Poirots Abfahrt stellt sich heraus, dass der Zug an diesem Abend fast völlig ausgebucht ist. Monsieur Bouc kann seinem Freund nur mit Mühe einen Schlafplatz in der zweiten Klasse besorgen. Poirots Abteilgenosse ist der junge Amerikaner, der neben dem Mann mit dem bösen Blick saß. Er ist offenbar verärgert, dass er das Abteil nun nicht mehr für sich allein hat.

Multikulti im Orientexpress

Am Tag darauf isst Poirot mit seinem Freund im Speisewagen zu Mittag. Er schaut sich die versammelten Gäste genauer an: Da wäre einmal die betagte russische Fürstin Dragomiroff – hässlich wie die Nacht. Foscarelli, ein italienischer Geschäftsmann, der leutselig auf den verstockt wirkenden Engländer Masterman und den amerikanischen Handelsvertreter Hardman einredet. Mary Debenham und die schwedische Missionarin Greta Ohlsson, eine langweilige Frau mit Schafsgesicht, lauschen dem Monolog Mrs Hubbards, einer bornierten Amerikanerin mittleren Alters. Außerdem ist da der ungarische Graf Andrenyi mit seiner fremdländisch schönen Frau Gräfin Adrenyi sowie Poirots Abteilgenosse MacQueen und dessen Arbeitgeber Ratchett, der Mann mit dem bösen Blick. Dieser wendet sich nach dem Essen überraschend an den Privatdetektiv und versucht, ihn für 20 000 Dollar zu seinem Schutz zu engagieren: Jemand wolle ihn umbringen. Poirot lehnt ab.

„Um uns herum sitzen Menschen aller Schichten, aller Nationalitäten, jeden Alters. Für drei Tage bilden diese Menschen, lauter Fremde füreinander, eine Gemeinschaft.“ (Monsieur Bouc zu Poirot, S. 26)

Da in Belgrad neue Kurswagen angehängt werden, wird ein Schlafwagenabteil erster Klasse für Poirot frei. Die Stimmung zwischen den Gästen lockert sich ein wenig, und Mrs Hubbard zieht den Detektiv ins Vertrauen: Ihr sechster Sinn sage ihr, dass mit Ratchett etwas nicht stimme. Mitten in der Nacht wird Poirot von einem Schrei im Nachbarabteil geweckt. Jemand klingelt dort nach dem Schaffner, schickt ihn dann aber auf Französisch wieder fort. Poirot schaut auf die Uhr: Es ist 0:37 Uhr. Der Zug steht, und Poirot findet keine Ruhe. Er bittet den Schaffner um ein Glas Wasser und hört sich geduldig dessen Klagen über die Amerikanerin an: Die Frau habe absurderweise behauptet, ein Mann sei in ihrem Abteil gewesen. Dann fällt etwas Schweres gegen Poirots Tür. Er schaut hinaus und sieht rechts im Gang eine Frau in einem roten Kimono verschwinden.

Mord nach Mitternacht

Am nächsten Morgen herrscht im Speisewagen helle Aufregung: Der Zug steckt in einer Schneewehe mitten in Jugoslawien fest. Niemand weiß, wann es weitergehen wird. Monsieur Bouc ruft Poirot zu sich und eröffnet ihm, dass Ratchett erstochen in seinem Abteil gefunden wurde. Der Tod, schätzt der mitreisende griechische Arzt Dr. Constantine, müsse zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens eingetreten sein. Und der Mörder, schlussfolgert Monsieur Bouc mit Blick auf die gewaltigen Schneemassen, sitze noch immer im Zug. Nach kurzem Zögern übernimmt Poirot den Fall. McQueen, Ratchetts Sekretär, zeigt sich von dem Vorfall wenig überrascht – schließlich habe sein Arbeitgeber Feinde gehabt und seit einiger Zeit Drohbriefe erhalten.

„Wenn Sie mir die Freimütigkeit verzeihen, Monsieur Ratchett – mir gefällt Ihr Gesicht nicht.“ (Poirot zu Ratchett, S. 33)

Die Untersuchung des Tatorts und der Leiche wirft Fragen auf: Ratchett wurde mit zwölf Stichen ermordet, doch wurde stark und schwach, links- und rechtshändig und zu unterschiedlichen Zeiten zugestochen. In einem Glas riecht der Arzt die Reste eines Betäubungsmittels, außerdem finden sich verkohlte Papierschnipsel, ein feines Taschentuch mit einem aufgestickten H sowie ein Pfeifenreiniger. Ratchetts Taschenuhr hat eine Delle und ist um 1:15 Uhr stehen geblieben. Poirot zeigt sich von den vielen Indizien wenig beeindruckt. Stattdessen bittet er um eine altmodische Hutschachtel mit einem Drahtgeflecht darin. Er fixiert die verkohlten Schnipsel auf dem Draht, bringt diesen mit einem Spirituskocher zum Glühen und macht so die Worte „an die kleine Daisy Armstrong“ lesbar. Poirot kombiniert: Ratchett ist eigentlich Cassetti, ein Entführer, Lösegelderpresser und Mörder der dreijährigen Daisy, Tochter des englischen Colonel Armstrong und Enkelin der großen amerikanischen Schauspielerin Linda Arden. Daisys Mutter Sonia erlitt damals eine Fehlgeburt und starb, der Vater beging Selbstmord und das zu Unrecht des Mordes verdächtigte Kindermädchen warf sich aus dem Fenster. Cassetti wurde gefasst, konnte sich aber mithilfe der erpressten Lösegelder einen Freispruch erkaufen und die USA verlassen.

Zwölf Zeugen

Hercule Poirot lässt einen Fahrgast nach dem anderen zum Verhör im Speisewagen antreten:

  1. Der französische Schlafwagenschaffner Pierre Michel besteht darauf, dass er von seinem Platz aus den gesamten Gang im Blick gehabt habe. Nur einmal, kurz nach ein Uhr, habe er sich im angrenzenden Wagen mit Kollegen über das Schneechaos unterhalten.
  2. MacQueen zeigt sich erfreut, als er die wahre Identität des Toten erfährt. Wie sich herausstellt, hat sein Vater den Armstrong-Fall einst als Staatsanwalt bearbeitet. Doch der Sohn hat ein Alibi: Bis kurz vor zwei Uhr diskutierte er mit Arbuthnot in seinem Abteil.
  3. Ratchetts Diener Masterman gibt sich reserviert und emotionslos. Zahnschmerzen hätten ihn in der vorherigen Nacht wach gehalten: Er erinnere sich nur an das notorische Schnarchen des Italieners in seinem Abteil.
  4. Mrs Hubbard behauptet, der Mörder habe sich nach der Tat durch die Verbindungstür in ihr Abteil geschlichen und sei von dort geflohen. Zum Beweis zieht sie den Knopf einer Schaffneruniform hervor. In der besagten Nacht hat keiner der echten Schlafwagenschaffner einen Knopf verloren.
  5. Greta Ohlsson war offenbar die Letzte, die Ratchett lebend sah – gegen 22:40 Uhr hatte sie sich in der Tür geirrt, als sie Mrs Hubbard um eine Kopfschmerztablette bitten wollte.
  6. Neben McQueen ist Fürstin Dragomiroff die Einzige, die angibt, die Armstrongs persönlich gekannt zu haben. Sonia war ihr Patenkind. Poirot fragt nach deren jüngerer Schwester, doch die Fürstin behauptet, sie aus den Augen verloren zu haben.
  7. Der Graf und die Gräfin Andrenyi haben nach eigener Aussage die ganze Nacht geschlafen. Im Pass der Gräfin, deren Mädchenname Elena Maria Goldenberg lautet, prangt auf dem Vornamen ein dicker Fettfleck.
  8. Colonel Arbuthnot, der einzige Pfeifenraucher der Gruppe, weigert sich, Poirots Fragen nach seinem Verhältnis zu Miss Debenham zu beantworten. Cassetti hat in seinen Augen die gerechte Strafe erhalten – obwohl er ein ordentliches Schwurgericht vorgezogen hätte.
  9. Hardman offenbart sich überraschend als Privatdetektiv, den Ratchett wegen der Drohbriefe engagiert hatte. Der Tote habe ihm seinen Widersacher als kleinen Mann mit dunklem Teint und weibischer Stimme beschrieben.
  10. Foscarelli bestätigt das Alibi seines Abteilgenossen Masterman, obwohl er den englischen Snob eigentlich nicht leiden kann.
  11. Mary Debenhams Antwort auf die Frage nach dem roten Morgenmantel macht Poirot hellhörig: Der gehöre ihr nicht, sagt sie. Als er weiterfragt, antwortet sie, sie wisse nicht, wem er gehöre. Sie habe nur frühmorgens eine Frau in einem roten Kimono gesehen.
  12. Hildegard Schmidt, die deutsche Zofe der Fürstin, berichtet von einem Schaffner, mit dem sie auf dem Gang zusammengestoßen sei. Ihre Beschreibung des Mannes: klein und dunkelhäutig, mit ungewöhnlich hoher Stimme.

Versteckte Botschaften

Poirot, Monsieur Bouc und Dr. Constantine versuchen, Ordnung in die verwirrenden Zeugenaussagen zu bringen, als sie von Mrs Hubbards hysterischem Geschrei unterbrochen werden. Sie hat ein blutverschmiertes Messer in ihrem Waschzeugbeutel gefunden, der an der Klinke der Verbindungstür zu Cassettis Abteil hing. Poirot lässt nun das Gepäck aller Reisenden untersuchen und verwickelt sie dabei in scheinbar belanglose Plaudereien. Wie er vermutet hat, wird die Schaffneruniform in Hildegard Schmidts Koffer gefunden. Er spricht beruhigend auf die verängstigte Frau ein: Dass sie die Uniform nicht in den Koffer gesteckt habe, davon sei er so überzeugt wie von ihren Qualitäten als Köchin. Die Zofe bestätigt lächelnd, dass ihre Herrinnen sie auch für eine gute Köchin gehalten hätten, unterbricht sich aber mitten im Satz erschrocken. Die Sachlage scheint auf der Hand zu liegen: Der Mörder war mit Schmidt zusammengestoßen und musste das Beweismittel loswerden. Also steckte er die Uniform in ihren Koffer. Poirot glaubt, dass sich der Kimono im Gepäck eines der Männer befinden müsse. Und tatsächlich: In seinem eigenen Koffer liegt obenauf ein roter, mit Drachen bestickter Kimono. Ein Fehdehandschuh – und Poirot lässt sich nicht zweimal bitten.

Poirots kleine graue Zellen

Methodisch geht Poirot ein Szenario nach dem anderen durch. Dann schließt er die Augen und denkt nach. Als er sie eine Viertelstunde später wieder öffnet, hat er eine Theorie. Er macht sich daran, sie durch Experimente zu bestätigen. Er konzentriert sich auf die eigenartige Häufung von Zufällen: Nur der Kurswagen von Istanbul nach Calais ist ausgebucht, alle anderen Waggons sind nahezu leer, wie zu dieser Jahreszeit üblich. Der noch frische Fettfleck im Pass der Gräfin befindet sich ausgerechnet auf dem ersten Buchstaben ihres Vornamens. Statt Elena, so seine Überlegung, könnte sie in Wahrheit Helena heißen, und das Taschentuch mit dem Buchstaben H könnte ihr gehören. Poirot glaubt, dass es sich bei der fremdländischen Schönheit in Wahrheit um Sonia Armstrongs jüngere Schwester handelt. Als Poirot die Gräfin mit diesem Verdacht konfrontiert, gibt sie die Tatsache sofort zu, schwört aber, nichts mit dem Mord zu tun zu haben. Anschließend holt sich die Fürstin Dragomiroff ihr Taschentuch bei Poirot ab: Im kyrillischen Alphabet sieht das N wie ein H aus, und ihr Vorname lautet Natalia.

„,Der Mörder‘, sagte Monsieur Bouc mit feierlichem Ernst, ,ist unter uns – er sitzt jetzt in diesem Zug.‘“ (S. 50)

Im Lauf weiterer Verhöre stürzt ein ganzes Kartenhaus aus Lügen und vorgetäuschten Identitäten in sich zusammen: Mary Debenham war in Wahrheit die Gouvernante, Greta Ohlsson die Krankenschwester, Hildegard Schmidt die Köchin und Foscarelli der Chauffeur im Hause Armstrong. Arbuthnot stellt sich als guter Freund von Colonel Armstrong heraus und Masterman als sein Bursche in der Armee. Pierre Michel trauert um seine verstorbene Tochter Susanne, das zu Unrecht verdächtigte Kindermädchen, ebenso wie Hardman, der in sie verliebt war. Die Rolle ihres Lebens aber spielte Daisys Großmutter Linda Arden – als komische Mrs Hubbard.

Die Rache der zwölf Geschworenen

Poirot ruft nun alle Reisenden in den Speisewagen und präsentiert ihnen die erste von zwei Lösungen: Der fremde Täter stieg in Belgrad oder Vincovci als Schaffner verkleidet in den Zug, stieß in blinder Wut mehrfach auf das Opfer ein und verließ den Tatort an der gleichen Haltestelle wieder. So oder ähnlich hätte sich das Verbrechen darstellen sollen, doch zwei unerwartete Dinge geschahen: Poirot tauchte auf, und der Zug blieb im Schnee stecken.

„,Na, man kann doch nicht hergehen und Blutrache üben und sich gegenseitig abstechen, wie auf Korsika oder bei der Mafia‘, meinte der Oberst. ,Sagen Sie, was Sie wollen, aber ein Schwurgericht ist eine saubere Sache.‘“ (S. 128)

Selbstverständlich glaubt der Belgier nicht an die erste Lösung, was ihn unverzüglich zur zweiten führt: Der nächtliche Schrei, der französische Satz, McQueens wiederholter Hinweis, dass Ratchett keine Fremdsprachen spreche, die beschädigte Uhr, die Frau im Kimono, der verkleidete Schaffner – all das war nichts anderes als eine eigens für ihn inszenierte Komödie. Sie sollte von der wahren Tatzeit ablenken, als niemand mehr ein Alibi hatte. Kurz vor zwei Uhr schlichen sich die zwölf Verschwörer einer nach dem anderen in die Kabine und stießen auf den zuvor betäubten Cassetti ein; sie vollstreckten so das Todesurteil, dem er in den USA entkommen war. Linda Arden bestätigt die Version und gratuliert Poirot zu seiner Meisterleistung. Sie sieht sich und ihre Mittäter aber moralisch im Recht und bietet an, die alleinige Verantwortung für die Tat zu übernehmen. Doch Monsieur Bouc zeigt sich von der ersten Lösung überzeugt und will sie so der jugoslawischen Polizei präsentieren. Hercule Poirot zieht sich zufrieden zurück.

Zum Text

Aufbau und Stil

Mord im Orientexpress nimmt den Leser mit auf eine exotische Reise. Nach Art des klassischen „Whodunit“-Krimis („Who’s done it?“ – Wer war’s?) fordert Agatha Christie ihre Leser auf, sich aktiv an der Lösung des Falls zu beteiligen. Mithilfe von Perspektivwechseln, geschickt gestreuten Andeutungen und falschen Fährten („Red Herrings“) macht sie die Leser zu Hobbydetektiven: Was, wenn sich die nebensächliche Bemerkung als bedeutsam und die bedeutungsschwere Aussage als nebensächlich herausstellen sollte? Oder wenn die Romanfiguren hinter ihren stereotypen Charakteren ein dunkles Geheimnis verbergen? Je verwirrender die Lage, desto häufiger ertappt man sich beim Zurückblättern und Wiederlesen, in der Hoffnung, dass ein vergessenes Detail oder der abgedruckte Belegungsplan des Zuges den Schlüssel zur Lösung des Rätsels liefern könnte. Doch die Autorin denkt nicht daran, den Spannungsbogen vorzeitig erschlaffen zu lassen. Stattdessen rückt sie nur häppchenweise mit den Hinweisen heraus, immer darauf bedacht, dass niemand Poirot zuvorkommt. Am Ende gönnt man dem eitlen Belgier seinen Triumph – schließlich hat er seine mitreisenden Lehnstuhldetektive wieder einmal bestens unterhalten.

Interpretationsansätze

  • Dem Roman liegt ein archaisches Verständnis von Recht und Gerechtigkeit zugrunde: Ist ein Mord an einem Mörder moralisch gerechtfertigt, wenn ein Verbrechen aufgrund eines korrupten Justizapparats ungesühnt bleibt? Im Roman wird diese Frage bejaht, und zwar umso mehr, als nicht ein Einzelner Selbstjustiz übt, sondern die Verantwortung für das Todesurteil wie in einem angelsächsischen Schwurgericht auf zwölf Köpfe verteilt wird.
  • Die Fahrgäste stehen stellvertretend für den Schmelztiegel Amerika. Cassetti verkörpert den bösen, entfesselten Raubtierkapitalismus der Neuen Welt. Er hält jeden Menschen für käuflich – bis er mithilfe vermeintlich altmodischer Prinzipien wie Berufsehre, Loyalität und starken Familienbanden zur Strecke gebracht wird.
  • Agatha Christie führt ihre Leser durch Vorurteile in die Irre: Der hitzige Italiener – ein typischer Messerstecher? Die kühle Britin – plausible Urheberin des perfekten Verbrechens? Die laute Amerikanerin – zu naiv für die Tat? Am Ende stellt Christie nicht nur nationale Klischees auf den Kopf, sondern auch die Regeln des Genres, wonach lediglich eine Person – meist die am wenigsten Verdächtige – den Mord begehen darf.
  • Nicht angetastet werden die Stereotype der Klassenzugehörigkeit: Die Vertreter der höheren Gesellschaft sind bis zum Ende diszipliniert und standhaft, während die ehemaligen Bediensteten der Armstrongs durchweg in Tränen ausbrechen. Die starren Hierarchien bleiben trotz der solidarisch verübten Tat bestehen.
  • Der grenzüberschreitende Orientexpress galt als Sinnbild des Friedens, als Manifestation des Fortschritts und eines zusammenwachsenden Europas. Dass der Zug im Roman ausgerechnet im Balkan abrupt zum Stehen kommt und zum Schauplatz eines Gewaltverbrechens wird, erinnert an den Ersten Weltkrieg, der ebendort seinen Anfang nahm und die europäische Vision infrage stellte.
  • Vor allem liefert der Zug jedoch eine malerische und exotische Kulisse für den genretypischen geschlossenen Raum: Der Leser darf mit einsteigen und sich an dem Puzzle versuchen – in der Gewissheit, dass sich alle Puzzleteile im Zug befinden.

Historischer Hintergrund

Das Goldene Zeitalter der Spürhunde

Edgar Allan Poe hob 1841 mit C. August Dupin den ersten Meisterdetektiv aus der Taufe. Arthur Conan Doyle stattete 40 Jahre später Sherlock Holmes mit Schottenkaromantel und Lupe aus. Doch es waren Britinnen wie Agatha Christie und Dorothy L. Sayers, die den spitzfindigen Detektiven in den 1920er- und 1930er-Jahren einen Karriereschub verschafften: Mehr als 17 Millionen Menschen waren im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen, Kaiser waren gestürzt worden und Revolutionen ins Land gegangen, in den Bars und an den Börsen grassierte schon wieder die Dekadenz – doch in den gemütlichen Landhäusern und Luxushotels der Kriminalromane war die Welt noch in Ordnung: Die goldenen Taschenuhren der gehobenen Gesellschaft schienen im Viktorianischen Zeitalter stehen geblieben zu sein.

Ähnlich wie die Frauenkörper im 19. Jahrhundert steckte die Gattung in einem engen Regelkorsett: Danach geschieht ein geheimnisvoller Mord an einem möglichst abgeschlossenen Ort, logische Erwägungen führen zum Ermittlungserfolg, und getötet wird stets aus persönlichen Motiven. Sex- und Gewaltdarstellungen, internationale und politische Verwicklungen oder gesellschaftliche Missstände sind tabu. Kein Wunder, dass das Goldene Zeitalter des unpolitischen Verbrechens mit Beginn des Zweiten Weltkriegs zu Ende ging. Dennoch leben viele der damals geprägten Strickmuster in den komplexeren Kriminalromanen der Gegenwart fort.

Entstehung

Agatha Christie war frisch geschieden, als sie 1928 zum ersten Mal mit dem Simplon-Orientexpress nach Bagdad fuhr – eine Reise, die ihr Leben verändern sollte. Sie verliebte sich gleich mehrfach: in ihren zweiten Ehemann, einen jungen Archäologen, in die Geheimnisse des Nahen Ostens und nicht zuletzt ins Unterwegssein: „Das Reiseleben hat das Wesen eines Traumes. Es ist von Personen bevölkert, die man nie zuvor gesehen hat und in aller Wahrscheinlichkeit auch nie wiedersehen wird.“ Christie lernte Menschen kennen wie die pausenlos schnatternde Amerikanerin, mit der sie im Dezember 1931 aufgrund heftiger Regenfälle 24 Stunden lang im Orientexpress festsaß, und der sie mit Mrs Hubbard in ihrem Roman ein Denkmal setzte.

Die Autorin verarbeitete aber nicht nur eigene Erfahrungen, sondern auch die großen Schlagzeilen ihrer Zeit: Im Februar des historisch kalten Winters 1929 blieb der Orientexpress in der Türkei knapp sechs Tage lang im Schnee stecken. Drei Jahre später wurde der Sohn des amerikanischen Flugpioniers Charles Lindbergh entführt und trotz der Zahlung eines Lösegelds von 50 000 Dollar ermordet. Ein zu Unrecht beschuldigtes Dienstmädchen beging Selbstmord. Als Christie sich 1933 mit dem Stoff beschäftigte, war der Entführer noch nicht gefasst – ein Umstand, der dem fiktiven Rachemotiv möglicherweise Vorschub leistete. Christie war eine Befürworterin der Todesstrafe und sah Mörder als „Übel für die Gesellschaft“, die keine Schonung verdienten. Vielmehr gelte es, „die Unschuldigen zu schützen“. Nach einer kurzen Schaffensperiode („Ich sehe keinen Grund, warum ein Monat nicht ausreichen sollte, um ein Buch zu schreiben“) erschien Mord im Orientexpress am 1. Januar 1934 in London.

Wirkungsgeschichte

Die meisten Rezensenten waren voll des Lobes: Agatha Christie sei es gelungen, einen unwahrscheinlichen Plot realistisch erscheinen zu lassen und dabei bis zur letzten Seite die Spannung aufrechtzuerhalten. Andere teilten kräftig aus: „Das ist die Sorte, vor der selbst der schärfste Verstand kapituliert“, höhnte der amerikanische Krimiautor Raymond Chandler 1944 in seiner Streitschrift Mord ist keine Kunst. Der Literaturkritiker Edmund Wilson geißelte Christies Werke als rührselig und banal, bevölkert von gekünstelten, eindimensionalen Figuren und deshalb „buchstäblich unlesbar“. Er verglich die Fans des Genres mit Süchtigen, die ständig nach Ausflüchten zur Rechtfertigung ihres Lasters suchten. Umso mehr muss es ihn gewurmt haben, als auch große Literaten diesem Laster frönten: Angeblich ließen sich Thomas Mann und Bertolt Brecht gern von der „Queen of Crime“ unterhalten.

Etwas anderes hat die Bestsellerautorin nie beabsichtigt. Agatha Christies Auflagenzahlen werden nur von der Bibel übertroffen, und ihr Vermögen wurde zum Zeitpunkt ihres Todes auf eine halbe Milliarde Pfund geschätzt. Romane wie Mord im Orientexpress, den sie selbst zu ihren zehn besten zählte, sind längst in der Popkultur angekommen: Erstmals 1974 von Sidney Lumet mit internationaler Starbesetzung verfilmt, reicht der Kanon der Adaptionen von Sketchshow-Persiflagen und Muppet-Show-Parodien über nostalgische Motto-Zugreisen (Mord inklusive) bis hin zu Computerspielen für angehende Meisterdetektive.

Über die Autorin

Agatha Christie wird am 15. September 1890 im britischen Torquay als jüngstes Kind einer wohlhabenden Familie geboren. Da sie Privatunterricht erhält, hat sie wenig Kontakt zu anderen Kindern. Sie flüchtet sich in imaginäre Rollenspiele und beginnt zu schreiben. Während des Ersten Weltkriegs arbeitet sie als Krankenschwester und Apothekenhelferin, eine Stellung, die sie später zu vielen fiktiven Giftmorden inspirieren wird. 1914 heiratet sie den Leutnant Archibald Christie; fünf Jahre später kommt Tochter Rosalind zur Welt. 1920 folgt das literarische Debüt: Hercule Poirot hat in Das fehlende Glied in der Kette (The Mysterious Affair at Styles) seinen ersten Fall. Ihren Durchbruch als Kriminalautorin erlebt sie mit dem 1926 veröffentlichten Alibi (The Murder of Roger Ackroyd). Es ist ein Jahr der privaten Tragödien: Zuerst stirbt die geliebte Mutter, dann gesteht ihr Mann ihr seine Affäre mit einer anderen. Christie erleidet einen Nervenzusammenbruch. Sie trägt sich in einem Hotel unter dem Namen der Geliebten ihres Mannes ein und verschwindet für elf Tage von der Bildfläche. 1930, auf einer Reise in den Nahen Osten, verliebt sich die nunmehr Geschiedene in den 14 Jahre jüngeren Archäologen Max Mallowan. Die beiden heiraten, und noch im selben Jahr beweist die alte Jungfer Miss Marple in Mord im Pfarrhaus (The Murder at the Vicarage) erstmals ihre Schnüfflerqualitäten. In den Folgejahren begleitet Christie ihren Mann bei Ausgrabungen im Irak und in Syrien, eine Erfahrung, die sie in Mord in Mesopotamien (Murder in Mesopotamia, 1936) und Der Tod auf dem Nil (Death on the Nile, 1937) verarbeitet. Neben 66 Kriminalromanen, zahllosen Kurzgeschichten und Gedichten schreibt sie unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs autobiografisch geprägte Liebesromane. Die öffentlichkeitsscheue „Queen of Crime“ bricht alle Rekorde: Mit über 2 Milliarden verkauften Büchern ist sie die kommerziell erfolgreichste und meistübersetzte Schriftstellerin der Welt. Ihr Bühnenstück Die Mausefalle (The Mousetrap, 1954) läuft seit 1952 täglich in einem Londoner Theater. 1971 adelt Königin Elisabeth sie zur „Dame of the British Empire“. Agatha Christie stirbt 85-jährig am 12. Januar 1976.

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