Roland Barthes
Mythen des Alltags
Suhrkamp, 2016
Was ist drin?
Der Mythos ist nicht kleinzukriegen – lässt sich aber mit Witz und Ironie unterwandern.
- Philosophie
- Moderne
Worum es geht
Anleitung zur Mythenjagd
Einer der berühmtesten Mythen in Roland Barthesʼ Klassiker handelt vom Wrestling: „Dem Publikum ist völlig egal, ob beim Kampf getrickst wird oder nicht, und es hat Recht“, schrieb er 1957. „Wichtig ist ihm nicht, was es glaubt, sondern was es sieht.“ Ein französischer Semiologe als Prophet des postfaktischen Zeitalters? Sicher ist: Die Mythen haben sich seit den Anfängen der Massenkultur verändert. Doch sie bleiben ein Stützpfeiler unserer Gesellschaft: Was wäre die Finanzindustrie ohne den Glauben an die wundersame Geldvermehrung? Was die Fifa ohne die Idee vom Völker verbindenden Fußball? Und was Amerika ohne den amerikanischen Traum? Nicht der Mythos an sich, sondern sein Hang zur Erstarrung, Besitzstandswahrung und Alternativlosigkeit ist das Problem. Als „spezifisches Symptom aller Faschismen“ bezeichnet Barthes die Tendenz, eine mythologische Wahrheit ganz für sich zu beanspruchen und Kultur als Krankheit darzustellen. Mit scharfem Witz wappnet er seine Leser gegen die Nebelkerzen der Postfaktiker und ermuntert sie, jeden Tag von Neuem auf Mythenjagd zu gehen.
Take-aways
- Roland Barthesʼ Mythen des Alltags gilt als Pionierwerk der Kultur- und Medienkritik.
- Inhalt: In 53 Streifzügen durch die französische Alltagskultur nimmt Barthes Phänomene aufs Korn, hinter denen sich mystifizierte Botschaften verstecken – ob Racine, Reiseführer oder Radsport. Anschließend erklärt er Funktion und Wirkung des modernen Mythos: Dieser verwandelt menschengemachte Tatsachen in unveränderliche Natur, mit dem Ziel, den kleinbürgerlichen Status quo zu bewahren.
- Barthes wandte 1957 als Erster die strukturalistische Zeichenlehre auf die noch junge Massenkultur an.
- Frankreich erlebte in dieser Zeit ein Wirtschaftswunder und einen Konsumboom – aber auch den Zerfall seines Kolonialreichs und den Aufstieg der Rechtspopulisten.
- Barthes entzifferte Mythen, um deren kleinbürgerliche Ideologie zu entlarven.
- Der Mythos ebnet laut Barthes Widersprüche ein und inszeniert eine eindeutige Welt.
- Mit seiner oft glossenhaften Herangehensweise wollte Barthes den strengen Wissenschaftsbetrieb unterwandern, von dem er sich ausgeschlossen fühlte.
- Später betätigte er sich unter anderem als Modekritiker und semiologischer Berater für Werbeagenturen.
- Heute gilt er als wichtiger moderner Denker, der uns gelehrt hat, die Welt neu zu lesen.
- Zitat: „Der Mythos verbirgt nichts und stellt nichts zur Schau; er deformiert. Der Mythos lügt nicht und gesteht nichts; er verbiegt.“
Zusammenfassung
Mythische Dinge und Stoffe
Der Mythos als solcher ist eine Botschaft, und diese kann auch in Objekten enthalten sein. Zum Beispiel im Citroën DS, der liebevoll „Déesse“ (Göttin) genannt wird. Wenn Bewunderer mit der Hand über die glänzenden Kotflügel der Göttin streichen, scheint sie geradezu magische Kräfte zu besitzen. Automobile sind in dieser Hinsicht die Kathedralen der Neuzeit. Ein anderes Beispiel ist das Material Plastik: Dessen Magie und zugleich Banalität liegt in seiner Wandlungsfähigkeit. Der Wert bestimmt sich einzig aus dem Gebrauch. Doch anders als früher streben die modernen Alchimisten nicht danach, die Natur zu imitieren, sondern danach, sie durch einen Kunststoff komplett zu ersetzen. Plastifiziertes Spielzeug soll Kinder die Benutzung der Welt lehren, ohne sie auf den abwegigen Gedanken zu bringen, sie könnten kreativ Einfluss auf sie nehmen. Vielmehr geht es darum, die kleinbürgerliche Existenz der Eltern perfekt nachzuahmen, um so in die künftige Rolle als Eigentümer hineinzuwachsen.
„Die ganze Welt kann plastifiziert werden, auch das Leben selbst, denn angeblich beginnt man bereits, Aorten aus Plastik herzustellen.“ (S. 225)
Ein wichtiges Medium zum Transport von Konsummythen ist die Reklame. Sie schreibt profanen Dingen wie Waschmittel und Hautcremes magische Qualitäten zu. Ein Kleidungsstoff, dessen mysteriöse Abgründe uns gar nicht bewusst waren, wird einer „Tiefenreinigung“ unterzogen. Und die neuen Feuchtigkeitscremes entfalten mit ihren Vitalstoffen Tiefenwirkung, indem eigentlich unversöhnliche Substanzen wie Fett und Wasser eine wundersame Verbindung eingehen: Damit das allzu flüchtige Wasser faltige Gesichter glätten kann, wird es vom Nähr- und Schmiermittel Fett in tiefere Schichten geleitet.
Mythen der Frau
Laut der Zeitschrift Elle sollen Frauen Romane schreiben und Kinder kriegen. Frauen scheinen innerhalb ihrer Sphäre alle Freiheiten zu genießen – solange sie ihre Abhängigkeit vom Mann anerkennen. Ähnlich ist es mit der Kummerkastenrubrik in vielen Illustrierten: Hier sind die Rat suchenden Frauen stets als weibliche, nicht als gesellschaftliche Wesen präsent. Statt über ihre soziale Lage definieren sich die Jungfrauen, Ehefrauen oder Witwen über ihr Verhältnis zum Mann. Sie werden zu Parasiten herabgestuft. Der Rat, den man ihnen gibt, zielt darauf ab, es sich nicht mit dem Wirtselement Mann zu verderben.
Mythen des Sports
Das Radrennen Tour de France enthält sämtliche Elemente des homerischen Epos: Die Helden, deren Namen auf archaische Weise ihre ethnische Zugehörigkeit verraten, sind keine Individuen, sondern Typen. Sie kämpfen mit großer Geste und mit der Kraft von Halbgöttern gegen mörderische Steigungen und monströse Naturgewalten und bestehen grausame Prüfungen. Der Mythos der Tour ist realistisch und utopisch zugleich: In ihm leuchtet für einen kurzen Moment eine Welt auf, in der der Mensch jenseits aller ökonomischen Zwänge und Motive mit sich, seiner Gemeinschaft und dem Universum im Reinen ist.
„Glaubt man der Frauenzeitschrift Elle, die jüngst auf einem Foto 70 Romanautorinnen versammelte, so gehören Schriftstellerinnen zu einer merkwürdigen zoologischen Gattung: Sie bekommen abwechselnd Romane und Kinder.“ (S. 71)
Das Wrestling funktioniert hingegen wie ein antikes Schauspiel. Vor den Augen des verzückten Publikums wird gestöhnt, gelitten und triumphiert. Es geht nicht um einen spannenden Kampfverlauf, denn die Rollen stehen von vornherein fest. Die Physis des Catchers bestimmt wie im antiken Theater die Persona – ob er ein Schwein ist oder ein Held. Wichtig ist, dass der Schurke für seine Niedertracht bezahlt. Das Publikum lechzt nach Rache. Für einen kurzen Moment wähnt es sich in einer Welt ohne Widersprüche und Deutungsprobleme. Es ist eine gerechte Welt.
Die Diktatur des gesunden Menschenverstands
Im Zentrum der kleinbürgerlichen Mythologie steht das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Zwischenmenschliche Beziehungen werden unter Berufung auf den gesunden Menschenverstand sorgfältig abgewogen, berechnet und beglichen. Dessen größter Feind ist die Dialektik abgehobener Intellektueller, die angeblich jeden Kontakt zur Wirklichkeit – sprich zur Lebenswelt der kleinen Leute – verloren haben. Die Verherrlichung von Identität, die Ablehnung von Verschiedenem, die Berufung auf eine unverrückbare Natur der Dinge und die Bewahrung einer erstarrten Welt stehen im Zentrum dieser Philosophie.
„Was das Publikum verlangt, ist das Bild der Leidenschaft, nicht die Leidenschaft selbst. Ein Wahrheitsproblem gibt es beim Catchen so wenig wie beim Theater.“ (S. 19)
Die intellektualitätsfeindlichen Kleinbürger projizieren ihre eigene Schwäche auf die Gegenseite, bezeichnen als dummes Geschwafel, was sie nicht verstehen, und als obskur, wofür sie blind sind. Grundsätzlich nehmen sie andere nur als ein mehr oder weniger gelungenes Abbild ihrer selbst wahr. Denker sind für sie schwachbrüstige Faulpelze, unfähig und unwillig zu harter, körperlicher Arbeit. Zwei Rassen werden einander gegenübergestellt: die starken, patriotischen und gerissenen Gallier der Provinz auf der einen – und die matten, dekadenten, verkopften Vaterlandsverräter in Paris auf der anderen Seite.
Mythen der Kunst
Die Manie, qualitative Werte quantitativ messen zu wollen, hat auch das moderne Theater erfasst – womit es sich kaum noch vom bürgerlichen unterscheidet. Auf der Bühne wird geschwitzt, gespuckt und geheult, als ließe sich Leidenschaft in Litern abgesonderter Körpersäfte ermitteln. Dabei handelt es sich um bloßen Formalismus, der letztlich die Höhe des Eintrittspreises rechtfertigen soll. Die bürgerliche Gesellschaft kennt daneben viele Methoden, sich ihre Künstler gefügig zu machen. Eine davon ist die Verherrlichung des Schriftstellers in den Ferien. Einerseits gewährt man ihm die proletarische Errungenschaft des bezahlten Urlaubs. Andererseits soll er gefälligst arbeiten. Seine Kunst wird mithilfe des Banalen mystifiziert, indem man ihn Weichkäse essend im Pyjama präsentiert. Denn was könnte er, der so nonchalant das Noble mit dem Nichtigen vereint, anderes sein als ein Gott?
„Wir wissen jetzt, was für das Kleinbürgertum Wirklichkeit ist: nicht einmal das Sichtbare, sondern nur das Zählbare.“ (S. 112)
Der Fall des vermeintlichen Literaturwunderkinds Minou Drouet gilt vielen als kriminalistisches Geheimnis: Kann die Achtjährige die ihr zugeschriebenen Gedichte selbst verfasst haben? Oder steckt doch die böse Stiefmutter dahinter? Es ist unmöglich, diese Frage zu entscheiden, wenn nicht klar ist, was Dichtung und Kindheit überhaupt bedeuten. Da ist einerseits der Glaube an das kindliche Genie, die Gleichsetzung von Talent mit einer göttlichen Gabe. Andererseits spielt die kapitalistische Idee der Zeitersparnis eine Rolle: Genies schaffen nach dieser Lesart mit acht, was die meisten erst als Erwachsene erreichen. Wieder andere begrüßen die vielen Metaphern in ihrer Dichtung und halten Minous nervöses Geplapper deshalb für Kunst. Auf der Strecke bleibt das Mädchen selbst: Die Mythen über Poesie und Kindheit machen sie zur Gefangenen der bürgerlichen Ordnung.
Mythen des Kolonialismus
Ein junges Ehepaar will das Leben angeblicher Kannibalen in Afrika erforschen und nimmt sein kleines Baby Bichon mit. Diese im Paris Match erzählte Geschichte ist ein Paradebeispiel für den Negermythos: Der kleine Bichon „zähmt“ mit blonden Locken und unschuldigem Lächeln die Menschenfresser. Durch die Augen des Kindes betrachtet der Leser Afrikaner wie Handpuppen in einem Kasperletheater, bar jeglicher Individualität und Autonomie.
„Tatsächlich ist jeder Vorbehalt gegenüber Bildung eine terroristische Position.“ (S. 45)
Die französische Nordafrikapolitik bedient sich einer manipulativen Sprache, um ähnliche Ziele zu erreichen: Mit dem Begriff „Bevölkerung“ etwa werden verschiedene Gruppen und Minderheiten zu einem geschichtslosen Haufen; Worte wie „Ehre“, „Mission“ oder „Schicksal“ sind Leerstellenworte, die einen scheinbar unveränderlichen Naturzustand suggerieren. Unterstützt wird diese Verschleierungstaktik, indem die Sprache systematisch substantiviert wird und Verben bestenfalls eine vage Zukunft beschreiben.
Der Mythos von der Menschheitsfamilie
Eine Fotoausstellung in Paris zeigt den Menschen in all seiner exotischen Vielfalt – mit unterschiedlichen Hautfarben, Riten und Glaubensformen –, nur um diese sogleich auf die Idee einer „menschlichen Natur“ zu reduzieren und aller Geschichtlichkeit zu berauben. Geburt, Arbeit und Tod, so die Botschaft, sind überall gleich. Dies ist ein bequemer Mythos: Warum sollten wir über unterschiedliche Kindersterblichkeit oder unwürdige Arbeitsbedingungen in fernen Ländern nachdenken, wenn wir doch alle Teil einer Menschheitsfamilie sind?
„Literatur beginnt (…) erst im Angesicht des Unnennbaren, der Wahrnehmung eines Anderswo, das der Sprache, die nach ihm sucht, fremd ist.“ (S. 207)
Der Exotismus in einem italienischen Dokumentarfilm über den Fernen Osten folgt dem gleichen universalistischen Mythos: Buddhisten praktizieren demnach lediglich eine etwas andere Form des Katholizismus. Der aufs Meer hinausfahrende Fischer wird vor kitschigem Abendrot nicht als Arbeiter, sondern als Teil der ewigen Menschheitsnatur idealisiert. In diesen Mythos reihen sich auch die Flüchtlingstrecks ein, die zu Beginn des Films gezeigt werden – als Ausdruck eines vermeintlich unveränderlichen fernöstlichen Wesens.
Die Entstehung des Mythos
In Wahrheit ist der Mythos immer historisch und niemals natürlich. Nichts wird zwangsläufig zum Mythos, und niemals währt dieser ewig. Die Botschaft des Mythos kann verbal oder visuell, mittels Film, Schauspiel, Werbung, Literatur oder Fotografie transportiert werden. Sein zeichentheoretisches System lässt sich anhand eines Rosenstraußes verdeutlichen. Ein solcher Strauß kann als Zeichen von Leidenschaft gesehen werden. In diesem Zeichen verschmelzen die zunächst unabhängigen Elemente „Rose“ (Bezeichnendes) und „Leidenschaft“ (Bezeichnetes) zu einem neuen Ganzen. Der Mythos geht einen Schritt weiter: Er verwandelt das Zeichen in einen simplen Zeichenträger mit übergestülpter Bedeutung. Ein Beispiel hierfür ist das Bild eines jungen Negers in französischer Uniform, der einer imaginären Trikolore den militärischen Gruß erweist. Aus dem bloßen Zeichen – salutierender dunkelhäutiger Junge – wird eine Bedeutung: die Rechtfertigung des französischen Kolonialreichs. Ein Schwarzer, der seinen vermeintlichen Unterdrückern die Ehre erweist – das erklärt sich scheinbar von selbst.
Naturalisierte Geschichte
Der Mythos ist parasitär: Er bemächtigt sich des Sinns, zehrt von ihm, lässt ihn verdorren und verformt ihn. Er nimmt dem Negersoldaten seine individuelle Geschichte und entfremdet ihn – ohne ihn jedoch zu vernichten, denn damit würde auch der Mythos sterben. Vor allem aber ist der Mythos, anders als das sprachliche Zeichen, motiviert: Im Fall des salutierenden Negersoldaten besteht das Motiv darin, die menschengemachte Tatsache des Kolonialismus zu entfernen. Der Mythos verklärt den französischen Imperialismus zu einem ewigen Naturgesetz. Seine Aufgabe ist es, Geschichte in Natur zu verwandeln und Zufall in Ewigkeit. Das Reale wird seiner Bedeutung beraubt und die Rede entpolitisiert.
„Im Grunde hat der Neger kein vollwertiges autonomes Leben. Er ist ein bizarres Objekt, dem nicht mehr als eine parasitäre Funktion zukommt, nämlich durch seine vage bedrohliche Seltsamkeit, den Weißen zur Unterhaltung zu dienen: Afrika ist ein Kasperletheater, das ein bisschen gefährlich ist.“ (S. 84)
Natürlich gibt es unterschiedliche Rezeptionsmöglichkeiten: Der zynische Mythenproduzent, zum Beispiel ein Zeitschriftenredakteur, macht den Negersoldaten zu einem Symbol für die französische Kolonialmacht und schafft so den Mythos. Der kritische Mythologe demaskiert das Bild als Alibi und zerstört den Mythos. Der Mythenkonsument erkennt in dem salutierenden Soldaten das eigentliche Wesen des französischen Imperialismus, da dieser in den Naturzustand übergegangen zu sein scheint. Werte werden für ihn zu Tatsachen.
Der Mythos als Bewahrer des Status quo
Der Mythos ist für die bürgerliche Gesellschaft überlebenswichtig – zumal für die heutige Bourgeoisie, die sich darüber definiert, nicht so genannt werden zu wollen. Groß- und Kleinbürgertum haben sich miteinander verbündet. Der Begriff „Bourgeoisie“ hat sich in dem der Nation aufgelöst. Die bürgerliche Konsumkultur wird als natürlich wahrgenommen und kaum hinterfragt. Zwar rebelliert die Avantgarde mitunter dagegen, doch wird dieser Protest nie politisch, schließlich sind ihre Vertreter selbst Teil der Bourgeoisie oder von ihr abhängig.
„Überall in der Nation praktiziert, werden die bürgerlichen Normen als die selbstverständlichen Gesetze einer natürlichen Ordnung erlebt.“ (S. 292)
Wo Sprache die Veränderung von Wirklichkeit zum Ziel hat, anstatt diese als Bild zu verewigen, wird sie politisch. Eine revolutionäre Sprache kann deshalb nicht mythisch sein. Die Revolution wird jedoch ihrerseits zum linken Mythos, sobald man sie entpolitisiert und von der Handlung in einen Naturzustand übergehen lässt. Ein Beispiel hierfür war lange Zeit der Mythos Stalin. Auf den Alltag in der bürgerlichen Gesellschaft hat der linke Mythos jedoch keinen Einfluss. Statistisch betrachtet entfaltet sich der Mythos vor allem rechts in seiner vollen Pracht. Er vereinnahmt Moralvorstellungen, Verhaltensnormen, Haushaltsgebräuche und die Kunst. Sein Ziel ist es, die bürgerliche Ideologie zu bewahren. Der Mythos will die Menschen daran hindern, die Welt zu verändern und neu zu erfinden.
Zum Text
Aufbau und Stil
Mythen des Alltags besteht aus zwei Teilen: Zunächst deckt Barthes in 53 meist kurzen, feuilletonistischen Artikeln die Mythen hinter bekannten Alltagsphänomenen seiner Zeit auf – vom patriotischen Subtext der Nahrungsmittel Beefsteak, Pommes Frites, Wein und Milch über den bizarren Auftritt eines amerikanischen Predigers in Paris bis hin zur „afrikanischen Grammatik“, jenen Sprachkonventionen, die den Algerienkrieg rechtfertigen sollten. Der Autor vermittelt dabei den Eindruck eines Flaneurs, der eine Kulturlandschaft im Wandel durchstreift. Er pflückt mit leichter Hand die tollsten Stilblüten aus Illustrierten, demontiert Reklametafeln und verwüstet die akkuraten Vorgärten des französischen Kleinbürgertums. Im zweiten Teil des Buches liefert er das theoretische Grundgerüst für seine Arbeit, indem er die strukturalistische Zeichenlehre von Ferdinand de Saussure adaptiert und auf die Phänomene der entstehenden Massenkultur anwendet. Dabei geht er auch darauf ein, dass der ironisch-distanzierte Blick des Mythologen teuer erkauft ist: „Die Tour de France oder den guten französischen Wein entziffern heißt sich von denen entfernen, die sich damit ablenken, die sich dafür begeistern.“ Für die Leser ist das ein Glück, denn selten war Enttäuschung ein derartiges Vergnügen wie bei Roland Barthes.
Interpretationsansätze
- Die von Barthes beschriebenen Mythen des Alltags – ob in der Werbung, in der Mode oder im Film – sind für die moderne Gesellschaft, was die homerischen Epen für die Antike waren: Sie vermitteln Werte, schaffen Identitäten und zementieren Weltbilder. Mittel und Zweck ist die Naturalisierung alles Menschengemachten. Die Komplexität menschlicher Beziehungen wird reduziert, Widersprüche werden eingeebnet. Der Mythos stülpt dem Menschen so eine falsche Natur über.
- Aufgabe des Mythologen ist es laut Barthes, die Zeichen der Alltagswelt in ihre Einzelteile zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Erst die Entzifferung der allgegenwärtigen Mythen versetzt uns in die Lage, Kultur- und Ideologiekritik zu üben, die Dummheit der Macht zu entlarven und ihr nicht selbst auf den Leim zu gehen. Ziel sei „eine Versöhnung zwischen dem Wirklichen und dem Menschen“.
- Barthes sieht allen Essenzialismus als Täuschung – zum Beispiel den Glauben, dass es ein typisch französisches, weibliches oder kindliches Wesen gebe. Alle Kategorien sind seiner Ansicht nach sozial konstruiert. Der Mythos bedient sich unter anderem der Tautologie („Theater ist Theater“), der Projektion des eigenen Selbst auf Dritte und der Verklärung des gesunden Menschenverstands, um künstliche Identitäten zu schaffen.
- Der Mythos ist immer noch politisch wirksam: Er verwandelt ideologische Strategien in ökonomische Notwendigkeiten, Einzelinteressen in nationale Schicksalsfragen und Meinungsschwäche in den goldenen Mittelweg. Der Lieblingsfeind von Barthes, das kritiklos Mythen konsumierende Kleinbürgertum, scheint sich überlebt zu haben. Doch der Mythos hat nichts von seiner Wirkmacht verloren.
- Der Autor macht Semiologie (Zeichentheorie) alltagstauglich, indem er sie aus dem Elfenbeinturm herausholt und auf massenkulturelle Phänomene anwendet. Anders als viele seiner Kollegen hat Roland Barthes die Wissenschaft sowohl praktiziert als auch kommentiert. Ihm ging es um die „Lust am Text“. Er gilt deshalb vielen als Urvater der journalistischen Glosse und der Kulturwissenschaften.
Historischer Hintergrund
Wirtschaftswunder und nationaler Niedergang
Die 1950er-Jahre waren in Frankreich wie vielerorts in Westeuropa vom Wirtschaftswunder geprägt. Nach den Entbehrungen der Kriegszeit winkte ein bisschen Wohlstand für alle: Mixer, Staubsauger und Waschmaschinen sparten Zeit im Haushalt, ein Sommerurlaub am Meer und selbst ein kleines Auto wurden für viele erschwinglich. Es schlug die große Stunde der Werbung und der Massenmedien: In Zeiten eines grenzenlosen Fortschrittsglaubens war es ein Kinderspiel, die Wunder der schönen, neuen Konsumwelt an den Mann zu bringen.
Doch der wirtschaftliche Aufschwung wurde von politischen Krisen überschattet: 1954 begann mit dem Verlust von Französisch-Indochina die Auflösung des französischen Kolonialreichs – ein Prozess, der sich in Afrika fortsetzte und 1962 mit der Niederlage Frankreichs im Algerienkrieg endete. Die Mehrheit der Franzosen, darunter auch viele Vertreter der politischen Linken, empfanden den Verlust nationaler Größe als Tragödie. Zudem erwies sich die Vierte Französische Republik (1946–1958) als extrem instabil. In zwölf Jahren waren 21 verschiedene Premierminister im Amt – eine offene Flanke für populistische Bewegungen. 1955 gründete Pierre Poujade mit der UDCA (Union de défense des commerçants et artisans, zu Deutsch: Union zur Verteidigung der Händler und Handwerker) eine rassistische und antiintellektuelle Protestpartei gegen die Modernisierungspolitik, von der sich immer mehr Franzosen abgehängt fühlten. Ein Jahr später erlangte die Partei 11,6 Prozent der Stimmen und entsandte 52 Abgeordnete in die Nationalversammlung. Der damals jüngste von ihnen ist heute ein alter Bekannter: Jean-Marie Le Pen, der Gründer des rechtsextremen Front National.
Entstehung
Roland Barthes war ein scharfer Beobachter der kulturellen und politischen Umbrüche seiner Zeit: Er hatte in Frankreich, Rumänien und Ägypten als Lehrer und Lektor gearbeitet, als er 1954 mit einer Artikelserie für die französische Literaturzeitschrift Les Lettres nouvelles begann. Bis 1956 schrieb er unter der Rubrik „Mythos des Monats“ 53 Glossen über Phänomene der Alltagskultur, die er in Tageszeitungen und Frauenzeitschriften – Elle bezeichnete er als „wahres mythologisches Schatzkästlein“ –, im Kino, in der Werbung oder in Kaufhäusern aufspürte.
Barthes nannte sich selbst einmal einen „Mythenjäger“: Er ging regelmäßig auf die Pirsch und hielt seine Eindrücke, Erkenntnisse und Assoziationen im Lauf seines Lebens auf 17 000 Karteikarten fest, ohne jemals ausdrücklich den Aufbau einer Denkschule anzustreben. Denn von der akademischen Elite fühlte er sich ausgeschlossen: Während er im Kampf gegen die Tuberkulose Jahre in Sanatorien verbrachte, dabei Marx, Gide und Brecht las und Gedankenfetzen notierte, machten seine Kollegen Karriere. Seine Homosexualität, zu der er sich erst spät bekannte, verstärkte das Gefühl von Entfremdung und Zerrissenheit. Mit den unorthodoxen Mythen des Alltags wollte der Außenseiter nicht nur kleinbürgerliche Lebenslügen entlarven, sondern auch die Mechanismen der traditionellen Wissensproduktion unterwandern. Dennoch versuchte Barthes, seinen Beobachtungen in Anlehnung an Ferdinand de Saussures Zeichenlehre einen methodischen Überbau zu verschaffen, bevor die gesammelten Glossen 1957 in Buchform erschienen.
Wirkungsgeschichte
Manche Leser waren damals überzeugt, dass der knapp 60-seitige Theorieteil das Hauptstück des Buches sei. So erschien 1964 die deutsche Übersetzung mit dem Hinweis des Verlags, man habe „einige kürzere Texte des ersten Teils“ (will heißen: drei Viertel des gesamten Textvolumens) weggelassen, weil sich dem deutschen Leser die Betrachtungen zur französischen Alltagskultur nicht erschlossen hätten. Erst 2010 wurden die Mythen des Alltags in ihrer Gesamtheit auf Deutsch veröffentlicht. Die Kritik rieb sich angesichts ihrer Aktualität die Augen: Barthesʼ beißende Analysen des Poujadismus, so die einhellige Meinung, ließen sich eins zu eins auf die dumpfe Rhetorik heutiger Populisten übertragen.
Sein Versuch einer politischen Theorie des Mythos scheint dagegen etwas aus der Zeit gefallen. „Die Mythen des Kleinbürgertums sind umgeschlagen in den Mythos vom Kleinbürgertum“, urteilte der Romanist Ottmar Ette. In späteren Jahren begegnete Barthes den bürgerlichen Mythen zudem mit einer Geschmeidigkeit, die so gar nicht zum klassenkämpferischen Duktus seines Frühwerks passen wollte – als Modeexperte für Marie Claire etwa oder als semiologischer Berater für Werbeagenturen. Auf jeden Fall inspirierte er nicht nur Poststrukturalisten wie Michel Foucault, Jacques Lacan und Jacques Derrida. Vielmehr kann sein Werk bis heute als Aufforderung gelesen werden, verborgene Botschaften dort zu suchen, wo man sie am wenigsten vermutet. Oder wie es im Klappentext einer aktuellen Biografie heißt: „Roland Barthes hat die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Lesen gelehrt.“
Über den Autor
Roland Barthes wird am 12. November 1915 in Cherbourg in der Normandie geboren. Er ist noch kein Jahr alt, als sein Vater, ein Marineoffizier, bei einer Schlacht in der Nordsee stirbt. Mutter Henriette, Tochter des berühmten Afrikaforschers und Kolonialbeamten Louis-Gustave Binger, zieht mit ihm zunächst zur Familie ihres Mannes in den Südwesten Frankreichs und später nach Paris. Die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen. Henriettes Eltern sind wohlhabend, doch nach der unehelichen Geburt von Rolands Halbbruder Michel 1927 verweigern sie jegliche finanzielle Unterstützung. Henriette arbeitet als Buchbinderin, um ihre Söhne zu ernähren. Zwischen 1935 und 1943 studiert Roland Barthes an der Sorbonne Literatur, Grammatik und Philologie. Aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung verbringt er mehrere Jahre in Sanatorien und wird vom Militärdienst befreit. Die Krankheit steht einer traditionellen akademischen Karriere im Weg: Mehrmals versucht er zu promovieren – ohne Erfolg. 1947 geht er als Bibliothekar nach Bukarest und 1949 als Dozent an die ägyptische Universität von Alexandria, wo er den Linguisten Algirdas Greimas kennenlernt und eine Beziehung mit ihm beginnt. Barthesʼ Debüt Am Nullpunkt der Literatur (Le Degré zéro de lʼécriture, 1953) gilt bald als Manifest einer radikal neuen Textkritik. Sie richtet sich auch gegen den etablierten Wissenschaftsbetrieb, von dem Barthes sich ausgeschlossen fühlt. In den Mythen des Alltags (Mythologies) baut er 1957 die angewandte Zeichentheorie weiter aus. Ab 1960 unterrichtet er an der École pratique des hautes études. Erst 1976 wird er auf Betreiben Michel Foucaults an den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Semiologie der Literatur am renommierten Collège de France berufen. 1977 erscheint mit Fragmente einer Sprache der Liebe (Fragments dʼun discours amoureux) sein erfolgreichstes Buch. Im selben Jahr stürzt ihn der Tod der Mutter in tiefe Depressionen. Sein Vorhaben, einen Roman zu schreiben, verwirklicht er nicht mehr. Roland Barthes stirbt am 26. März 1980 im Alter von 64 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls.
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