Gotthold Ephraim Lessing
Nathan der Weise
Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen
dtv, 2003
Was ist drin?
Lessings Drama über die Toleranz und gegenseitige Achtung der Religionen ist gerade heute – in Zeiten des „Kampfes der Kulturen“ – von hoher Aktualität.
- Drama
- Aufklärung
Worum es geht
Plädoyer für religiöse Toleranz
Die Frage wiegt schwer: Welche der drei großen Weltreligionen ist die beste; Christentum, Islam oder Judentum? Wer - von fundamentalistischen Eiferern abgesehen - könnte diese Frage beantworten, ohne in Argumentationsschwierigkeiten zu geraten? Der weise Jude Nathan in Lessings "dramatischem Gedicht" von 1779 weiß sich zu helfen: Er erzählt dem Sultan Saladin eine Geschichte, die als "Ringparabel" und als Plädoyer für Toleranz und moralisches Handeln bekannt geworden ist. In Lessings klassisch konstruiertem Fünf-Akt-Drama lösen sich die Konflikte am Schluss in eine wahre Umarmungsorgie auf. Nachdem der Christ die Jüdin heiraten will, aber nicht darf, entwirrt Lessing die Fäden mit der Enthüllung einer beispiellosen Familiengeschichte: So gut wie jeder ist mit jedem verwandt - die Großfamilie auf dem Theater will Vorbild sein für die "Menschheitsfamilie" in der Welt. Moralisches Handeln, Vernunft, Menschlichkeit und religiöse Toleranz sind die Eckpfeiler von Lessings Aufklärungsdrama, das schon seit Jahrhunderten und gerade heute wieder seine brennende Aktualität beweist.
Take-aways
- Nathan der Weise ist Lessings bekanntestes Drama: ein engagiertes Plädoyer für Vernunft, Menschlichkeit und Toleranz.
- 1779 geschrieben, kam das Stück erst 1883 auf die Bühne, musste aber schon nach drei Tagen wieder abgesetzt werden.
- Eine Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze hatte Lessing ein Publikationsverbot eingebracht. Er antwortete mit dem Drama, um die Diskussion verdeckt weiterzuführen.
- Das Stück spielt in Jerusalem im 12. Jahrhundert: Der reiche Jude Nathan kehrt von einer Handelsreise zurück und erfährt, dass seine Tochter Recha von einem christlichen Tempelritter vor dem Feuertod gerettet wurde.
- Der Ritter ist kurz zuvor der Todesstrafe entgangen: Sultan Saladin hat ihn begnadigt.
- Saladin steckt in finanziellen Nöten und bittet Nathan zu sich. Er fragt den weisen Mann nach der besten aller Religionen.
- Nathan antwortet mit der "Ringparabel" und zieht daraus den Schluss: Es gibt nicht die eine wahre Religion. Vielmehr müssen Juden, Christen und Muslime stets wetteifern - durch Menschlichkeit.
- Der Tempelritter verliebt sich in Nathans Tochter Recha. Nathan jedoch zögert, ihm die Hand der Tochter zuzusprechen.
- Eine Intrige des christlichen Patriarchen von Jerusalem bringt Nathan in Lebensgefahr.
- Schließlich kommt die Vorgeschichte heraus: Der Tempelritter und Recha sind eigentlich Geschwister; ihr Vater war ein Bruder des Sultans; und Nathan hat das Mädchen aus reiner Nächstenliebe aufgezogen.
- Das Stück ist mehr ein Lese- als ein Bühnendrama.
- Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte Nathan der Weise zu einem häufig gespielten Stück und zur Standardlektüre im Deutschunterricht.
Zusammenfassung
Engel oder Mensch?
Der jüdische Kaufmann Nathan kehrt von einer anstrengenden Handelsreise in seine Heimatstadt Jerusalem zurück. Hier erwartet ihn Daja, die Gesellschafterin seiner Tochter Recha, und offenbart ihm den Grund dafür, dass sie ihn früher nach Hause gerufen hat: Sein Haus hat gebrannt. Recha ist bei dem Brand beinahe ums Leben gekommen, doch sie wurde von einem Tempelritter vor dem Flammentod gerettet. Und genau dieser Ritter, der mit den Kreuzfahrern nach Jerusalem gekommen ist, um gegen die Muslime zu kämpfen, ist als Einziger kurz zuvor vom Sultan Saladin begnadigt worden, weil Saladin eine gewisse Ähnlichkeit des Ritters mit seinem verschollenen Bruder Assad festgestellt hat. Recha betrachtet den weiß gewandeten Tempelritter als ihren rettenden Engel - zumal er nach der Rettung verschwunden ist, ohne dass sie ihm danken konnte. Nathan hält von dieser kindlichen Schwärmerei wenig.
Die wahre Menschlichkeit
Daja soll versuchen, den Tempelherrn aufzutreiben. Denn ein Mensch, der Gutes tut, meint Nathan, sei doch noch viel mehr wert als ein Engel. Die hinzutretende Recha will sich ihren Wunderglauben aber nicht so leicht nehmen lassen. Nathan betont jedoch, es sei schon ein Wunder, dass der Mann vom Sultan begnadigt wurde. Wunderglaube dürfe nicht zur menschlichen Eitelkeit werden. Denn beten und schwärmen ist einfach und bequem. Gutes tun ist dagegen schwierig - aber in Nathans Augen viel wichtiger.
„Denn, Daja, glaube mir; dem Menschen ist / Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel.“ (Nathan, S. 19)
Ein guter Freund besucht Nathan: der Derwisch Al-Hafi. Dieser offenbart ihm ganz begeistert, dass er nun kein Bettler mehr ist, sondern vom Sultan zum Schatzmeister ernannt wurde. Er bittet Nathan, ihm bei seinem neuen Amt beizustehen und günstige Kredite zu geben. Doch Nathan winkt ab: Als Bettler habe Al-Hafi bei ihm unbegrenzten Kredit gehabt. Für einen Schatzmeister des Saladin gelte dies jedoch nicht mehr. Daraufhin würde Al-Hafi sein neues Amt am liebsten wieder loswerden.
„Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen. / Ihr Stolz ist: Christen seyn; nicht Menschen.“ (Sittah, S. 67)
Daja erklärt Nathan, dass Recha ihren Retter wieder gesehen hat. Der Tempelherr befinde sich noch in der Stadt. Daraufhin beauftragt Nathan Daja damit, den rettenden Engel seiner Tochter nicht aus den Augen zu verlieren.
Ein widerwilliger Retter
Datteln pflückend treibt sich der Tempelherr in der Stadt herum. Da tritt ein Klosterbruder auf ihn zu. Auf die Frage, was er denn wolle, antwortet dieser freimütig, dass ihn der christliche Patriarch von Jerusalem geschickt habe, um den Kreuzritter auszuhorchen und ihn darum zu bitten, die Befestigungsanlagen des Sultans genau zu inspizieren. Doch der Tempelherr betont, dass er kein Spion, sondern Soldat sei. Gegenüber Daja, die den Tempelherrn nach dem Abgang des Klosterbruders mit einer Einladung zum Hause Nathans bestürmt, gebärdet sich der Ritter ungeduldig und ablehnend: Er habe das Mädchen gerettet - sonst nichts. Er werde nicht in das Haus eines Juden gehen und habe Recha sowieso längst vergessen. Er lässt die verdutzte Daja einfach stehen, die den Ritter trotzdem weiter verfolgt.
Die Pläne des Sultans
Sultan Saladin spielt mit seiner Schwester Sittah Schach. Doch er ist nicht ganz bei der Sache, sodass ihn seine Schwester für seine törichten Spielzüge tadeln muss. Saladin möchte gern den Waffenstillstand zwischen den christlichen Kreuzfahrern und seinem Reich in einen dauerhaften Frieden umwandeln. Deshalb plant er eine Doppelhochzeit, welche die beiden Herrscherfamilien zu einer stärkeren zusammenführen soll. Doch leider sind die Christen so dogmatisch, dass sie der religionsübergreifenden Hochzeit nicht zustimmen, denn sie verlangen, dass Bruder Melek und Schwester Sittah erst zum christlichen Glauben übertreten.
Geldnot
Auf Drängen von Sittah bekennt Saladin, dass es um seine Finanzen sehr schlecht steht. In diesem Augenblick erscheint der Schatzmeister Al-Hafi und erkundigt sich, ob das Geld aus Ägypten bereits eingetroffen sei. Saladin stellt die Gegenfrage, ob ihnen nicht der reiche Jude Nathan einen Kredit gewähren werde. Al-Hafi verschweigt, dass er bereits bei Nathan vorgesprochen hat. Er behauptet, dass Nathan dem Sultan nicht weiterhelfen werde. Zwar sei er ein mildtätiger Mann, der jedem Hilfe anbiete - und das sogar ohne Ansehen von Status und Religion -, aber für den Sultan sieht Al-Hafi keine rechten Chancen auf einen Kredit.
Die Regeln der Menschlichkeit
Recha ist aufgeregt: Sie erwartet Daja zurück und hofft, dass diese den Tempelherrn mitbringt. Insgeheim ist sie in ihn verliebt. Daja erscheint und kündigt an, dass der Tempelherr gleich um die Ecke des Hauses biegen werde. Sie und Recha verstecken sich, während Nathan auf den Tempelherrn zugeht und sich mit schmeichelhaften Worten für die Rettung seiner Tochter bedankt. Der Ritter ist zunächst kühl und abweisend und will mit dem Juden nichts zu tun haben. Die Worte Nathans berühren ihn aber, weil er sich offensichtlich mit den ritterlichen Regeln des Tempelordens gut auskennt. Doch Nathan setzt hinzu, dass dies die Regeln der Menschlichkeit seien - ganz unabhängig von Orden und Religion. Der Tempelherr erkennt in Nathan eine verwandte Seele, die so denkt wie er selbst. Die beiden schließen Freundschaft und reichen sich die Hand.
„Ein Kleid, Ein Schwert, Ein Pferd, - und Einen Gott! / Was brauch' ich mehr? Wenn kanns an dem mir fehlen?“ (Saladin, S. 76)
In diesem Augenblick erscheint Daja und verkündet, dass der Sultan Nathan zu sich rufen lässt. Nathan ist angenehm überrascht: Er ist dem Sultan bisher noch nicht persönlich begegnet. Er bittet den Ritter um Verzeihung und lädt ihn ein, später in sein Haus zu kommen, was dieser gerne annimmt. Beim Abschied nennt er Nathan seinen Namen: Curd von Stauffen. Nathan gerät ins Grübeln: Der Name ist ihm von früher bekannt.
Recha trifft den Tempelherrn
In Nathans Haus erwarten Daja und Recha den Besuch des Tempelherrn. Daja wünscht sich, dass er sie und Recha mit nach Europa nimmt. Als der Tempelherr das Haus betritt, will Recha ihm sofort zu Füßen fallen, um ihm zu danken. Das wehrt der Ritter jedoch ab. Recha ist verstimmt und spottet über den Kodex der Tempelritter, die immer nur helfen und sich als bloßes Werkzeug Gottes sehen - und deswegen ja auch keines Dankes bedürfen. Der Tempelherr ist von Rechas koketter Art und ihrer Schönheit hingerissen. Seine Bewunderung für sie verschlägt ihm die Sprache, sodass er sich schnell eine Ausrede ausdenkt, um das Haus zu verlassen: Er habe sich mit Nathan verabredet und müsse rasch zum vereinbarten Treffpunkt. So schnell er gekommen ist, so schnell ist er auch wieder verschwunden.
Die Ringparabel
Inzwischen ist Nathan beim Sultan eingetroffen. Saladins Schwester Sittah hat ihren Bruder davon überzeugt, dass er Nathan eine Falle stellen soll, um dessen Weisheit zu prüfen. Die Frage, die Saladin Nathan stellt, ist knifflig: Welche der drei Weltreligionen ist die beste? Christentum, Judentum oder Islam? Wohl wissend, dass ihn die falsche Antwort den Kopf kosten kann, antwortet Nathan mit einer Geschichte, der Ringparabel:
„Hinzugefügt, wie frey von Vorurtheilen / Sein Geist; sein Herz wie offen jeder Tugend, / Wie eingestimmt mit jeder Schönheit sey.“ (Sittah über Nathan, S. 84)
Es war einmal ein Mann aus dem Osten, der besaß einen Ring, der mit besonderen Kräften ausgestattet war. Er hatte die Gabe, seinen Träger vor Gott und vor den Menschen beliebt und wohlgefällig zu machen. Der Mann vererbte den Ring an seinen liebsten Sohn und machte ihn damit gleichzeitig zu seinem Nachfolger als Herrscher. Das ging mehrere Generationen so weiter. Doch dann hatte ein Ringbesitzer seine drei Söhne alle gleich gern. Er ließ daraufhin zwei weitere Ringe anfertigen, die dem ersten Ring zum Verwechseln ähnlich sahen, und händigte sie seinen Söhnen aus. Nach dem Tod des Vaters gerieten die drei Söhne in Streit darüber, wer den richtigen Ring besitze. Der Richter, den sie mit der Lösung des Disputs beauftragten, erklärte den echten Ring für verloren, weil ja sonst einer der Brüder in den Augen der anderen beliebter erscheinen müsste. Der Richter gab den Brüdern einen weisen Rat: Jeder solle glauben, er habe den echten Ring und dies durch ein vorbildliches, gottesfürchtiges und menschenfreundliches Leben beweisen.
„Ich weiß, wie gute Menschen denken; weiß / Daß alle Länder gute Menschen tragen.“ (Nathan, S. 94)
Saladin ist von der Geschichte tief beeindruckt. Er versteht die Parallele zu seiner Frage nach der besten Religion: Die Lebensführung der Gläubigen soll darüber Auskunft geben, welche Religion die beste ist. Saladin kann darüber kein Urteil abgeben und es auch nicht von Nathan erwarten. Er bietet dem Juden seine Freundschaft und dieser bietet ihm im Gegenzug Kredite für seine marode Staatskasse an. Nathan berichtet auch von der Heldentat des Tempelherrn und Saladin freut sich darüber, dass seine gute Tat - die Begnadigung des Ritters - zu einer weiteren guten Tat geführt hat.
Rechas Herkunft
Der Tempelherr ist sich inzwischen über seine Gefühle für Recha klar geworden. Auch wenn sein christliches Ordensgelübde ihn davon abhält, meint er nicht mehr ohne das Mädchen leben zu können. Er gesteht Nathan seine Liebe zu Recha. Dieser ist jedoch seltsam zurückhaltend, was den Tempelherrn sichtlich verärgert. Von Daja erfährt er wenig später, dass nicht nur sie, Daja, sondern auch Recha eine Christin ist, die Nathan nur als Ziehkind aufgezogen hat - und zwar im jüdischen Glauben. Darüber ist der Tempelherr wenig erfreut: Wie kann Nathan es wagen, das Mädchen gegen ihre "wahre Natur" zu erziehen? Daraufhin geht der Ritter zum Patriarchen, um in Erfahrung zu bringen, ob es statthaft sei, dass ein Jude ein christliches Mädchen erzieht. Der Patriarch ist vehement dagegen. Die Verleitung zur Apostasie, also zum Abfall vom Glauben, werde mit dem Scheiterhaufen bestraft.
Nathans Geheimnis
Sultan Saladin ruft den Tempelherrn zu sich und bittet ihn, in seinen Dienst zu treten. Da ihm der Sultan vollkommene religiöse Freiheit verspricht, willigt der Tempelherr ein. Als das Gespräch auf Nathan kommt, wird der Ritter sehr kalt und frostig. Er argwöhnt, dass Nathan alle Christen in Juden verwandeln will und sich deshalb gegen eine Verbindung des Ritters mit Recha sträubt. Für diese Unterstellungen wird er von Saladin gerügt. Der Sultan verspricht, für die Zusammenführung der Liebenden zu sorgen. Als der Tempelherr den Palast verlassen hat, tritt Sittah hinzu: Sie hat den Ritter beobachtet und in seinen Zügen - genau wie Saladin - das Gesicht ihres Bruders Assad erkannt. Beide vermuten, dass er gar ein Sohn Assads sein könnte.
„Wenn hat, und wo die fromme Raserey, / Den bessern Gott zu haben, diesen bessern / Der ganzen Welt als besten aufzudringen, / In ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr / Gezeigt als hier, als itzt?“ (Tempelherr, S. 95)
Unterdessen hat es den Klosterbruder zu Nathan verschlagen. Er hat vom Patriarchen den Auftrag bekommen, herauszufinden, welcher Jude ein Christenmädchen aufzieht. Natürlich weiß der Klosterbruder längst, dass es sich um Nathan und Recha handelt. Denn er selbst hat das Mädchen vor 18 Jahren als Säugling Nathans Obhut anvertraut, weil ihre Mutter verstorben und ihr Vater, Wolf von Filnek, dem Krieg zum Opfer gefallen war. Für Nathan war dies wie ein Geschenk des Himmels, denn Tage zuvor hatten Christen seine gesamte Familie getötet. Nathan wünscht nun Klarheit über die Verwandtschaftsverhältnisse Rechas, darum schickt er den Klosterbruder zurück, um ein Gebetbuch zu holen, das dieser dem toten Wolf von Filnek abgenommen hat: Darin hat der Ritter seine Angehörigen vermerkt.
Eine große Verwandtschaft
Der Tempelherr entschuldigt sich gegenüber Nathan dafür, dass er ihn beim Patriarchen verraten hat, und bestürmt Nathan mit dem Gesuch, seine Tochter heiraten zu dürfen. Gemeinsam begeben sie sich zu Saladin, der Recha in seinen Palast geladen hat. Diese hat bereits von Daja erfahren, dass Nathan gar nicht ihr Vater ist. Sie ist bestürzt, wünscht sich aber dennoch keinen anderen Vater als ihn. Saladin ermuntert Recha, sich lieber nach einem Ehemann umzusehen. In diesem Moment betreten der Tempelherr und Nathan den Raum. Nathan enthüllt nun allen die Verwandtschaftsverhältnisse, die er mit Hilfe des Gebetbuches rekonstruieren konnte: Der Tempelherr wurde von seinem Onkel erzogen. Von ihm hat er seinen Namen Curd von Stauffen. Sein wirklicher Vater war Wolf von Filnek und er selbst heißt eigentlich Leu von Filnek. Das macht ihn zu Rechas Bruder, die in Wahrheit Blanda von Filnek heißt. Bei Wolf von Filnek wiederum handelt es sich um niemand anders als Assad, jenen verschollenen Bruder Saladins, der eine Christin geheiratet hat. Zum Beweis übergibt Nathan dem Sultan das Gebetbuch, in dem Saladin die Handschrift Assads erkennt. Die neue, große Familie fällt sich wechselseitig in die Arme.
Zum Text
Aufbau und Stil
Lessing hat seinem Fünfakter einen ganz klassischen Aufbau verliehen: Exposition (Einführung), Steigerung und Entwicklung, Klimax und Peripetie (Höhe- und Wendepunkt), retardierendes Moment (Verzögerung) und Auflösung. Jeder Akt besteht aus unterschiedlich vielen Szenen. Was später Friedrich Schiller missfiel, zeichnet das Stück eigentlich besonders aus: Es ist weder Tragödie noch Komödie, sondern ein "dramatisches Gedicht", das aber nicht unbedingt für die Bühne geschrieben wurde. Lessing stellte den Lehrcharakter in den Vordergrund und verzichtete dafür auf typisch dramatische Elemente, die z. B. für eine Tragödie wichtig gewesen wären. Im Zentrum des Stückes (und zwar wortwörtlich im Zentrum: in der siebten Szene des dritten Aktes) steht die Ringparabel mit ihrer liberalen und humanistischen Botschaft über religiöse Toleranz und moralisches Handeln. Lessing verwendete ausschließlich den reimlosen Blankvers (jambischer Fünfheber). Diese Versform kam in Deutschland derart gut an, dass sie sogar den bis dahin gebräuchlichen Alexandriner (jambischer Sechsheber) verdrängte.
Interpretationsansätze
- Die Figur des Nathan hat Lessing nach dem Vorbild des von ihm verehrten jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn gestaltet. Mit dieser Gestalt des "guten Juden" trat Lessing auch vielen antisemitischen Vorurteilen entgegen.
- Die wahre Religion im Stück ist die Vernunft: Sie mahnt Nathan, sich nach dem Verlust seiner Familie nicht in blinden, fundamentalistischen Christenhass hineinzuflüchten. Und sie mahnt alle Personen im Stück, die Gegensätze der Religionen zu überwinden.
- Mit Hilfe der Ringparabel verneint Nathan (und damit Lessing) den Absolutheitsanspruch einer Religion oder Weltanschauung und stellt einzig das tolerante, moralische und humane Handeln in den Vordergrund.
- Die Schlussszene zeigt Lessings bedingungslosen Glauben an den Humanismus: So wie sich die Figuren des Stücks überraschend als Verwandte wiederfinden, sollen sich auch die Menschen verschiedener Religionen und Kulturen zu einer "Menschheitsfamilie" vereinen. Die Menschlichkeit ist das einende Band, das alles Trennende überwindet.
- Den Sultan Saladin hat Lessing nach einem realen Vorbild gestaltet. Der historische Sultan Saladin schloss 1192 mit König Richard I. von England Frieden, nachdem dieser mit dem dritten Kreuzzug zur Rückeroberung Jerusalems gescheitert war. Ähnlich wie Lessing ihn darstellt, gilt Saladin in der muslimischen Geschichtsschreibung als Musterbeispiel fürstlicher Tugenden.
- Der Patriarch von Jerusalem wird von Lessing negativ gezeichnet. Er gestaltete den kirchlichen Machtpolitiker nach dem Vorbild des Hamburger Hauptpastors Goeze, mit dem er zuvor öffentlich einen theologischen Streit ausgetragen hatte.
Historischer Hintergrund
Die Aufklärung
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Hilfe eines anderen zu bedienen (...) Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" So schrieb Immanuel Kant in seiner programmatischen Schrift Was ist Aufklärung? (1784). Zu diesem Zeitpunkt hatte diese Bewegung bereits weite Teile Europas ergriffen. Philosophen wie René Descartes, Staatstheoretiker wie Thomas Hobbes und Naturwissenschaftler wie Isaac Newton legten die Fundamente für eine Geisteshaltung, die die menschliche Vernunft betonte und infolgedessen die mystischen und religiösen Erkenntnistheorien der Vergangenheit bekämpfte. Viele Aufklärer gerieten in Auseinandersetzungen mit der Kirche, deren Dogmatismus und Machtmissbrauch sie kritisierten. Dabei lehnten sie nicht unbedingt die Religion an sich ab. Auf die Aufklärung geht beispielsweise der Deismus zurück: Deisten glauben an Gott als Schöpfer der Welt, der sich jedoch seit dem Schöpfungsakt nicht mehr in die Geschehnisse der Welt einmische.
Das Gängelband der gottgegebenen Ordnung wurde auch im Hinblick auf den Staat gelockert. Aus Frankreich, namentlich von Voltaire, stammte die Idee des aufgeklärten Absolutismus, der das "Gottesgnadentum" eines absolutistischen Herrschers ablehnte. Friedrich II. von Preußen etwa empfand sich als "erster Diener des Staates" und sah sich dem Gemeinwohl verpflichtet. Der aufgeklärte Absolutismus wurde eine wichtige Vorform der Demokratie. Die in der Epoche der Aufklärung formulierten Menschenrechte und Forderungen nach Gleichberechtigung führten sowohl zur Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (1776) als auch zur Französischen Revolution (1789).
Lessing wird als Vollender und Überwinder der Literatur der Aufklärung bezeichnet. Einerseits war er so vom Geist dieser Epoche beseelt, dass er alle Register zog, um den Idealen der Vernunft und der Toleranz Geltung zu verschaffen. Andererseits ebnete er mit seiner Ablehnung der französisch-klassizistischen Regeln der Dichtkunst einer literarischen Gegenbewegung der Aufklärung den Weg: dem Sturm und Drang.
Entstehung
Nathan der Weise ist in vielerlei Hinsicht ein Höhepunkt von Lessings Schaffen: Hier nahm er das in Die Juden (1749) vorformulierte Thema des Antisemitismus wieder auf und setzte seinen früheren Plan, ein Drama über den Vergleich der Weltreligionen zu schreiben, in die Tat um. Eine wichtige literarische Quelle bildete eine Episode aus Giovanni Boccaccios Novellensammlung Decamerone (1472). In einer dieser Novellen entfaltet sich vor den Zuhörern bereits die Ringparabel. Lessing machte sie zum Zentrum seiner eigenen Geschichte. Mit Hilfe der Ringparabel gelang es ihm, das Zensuredikt zu umgehen, das ihm kurz zuvor jedwede Fachpublikation über die Religion untersagt hatte. Lessing war nämlich in heftige Auseinandersetzungen mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze geraten, weil er seit 1774 religionskritische Schriften des Orientalisten Hermann Samuel Reimarus unter dem Titel Fragmente eines Ungenannten herausgegeben hatte. Lessing setzte sich für die Vernunftlehre ein und wollte mit der Herausgabe einen kritischen Dialog über die Religion und ihre Wahrheiten ermöglichen. Goeze würgte diesen im so genannten "Fragmentestreit" kurzerhand ab. Nach dem Zensuredikt wollte Lessing seine Position aber nicht aufgeben - er suchte nur eine literarische Verkleidung. Im November 1778 begann er mit der Arbeit am Nathan, der im Mai 1779 erschien.
Wirkungsgeschichte
Nach der Veröffentlichung des Stücks gab es sowohl negative als auch positive Stimmen. Von manchen wurde Nathan als "plattes Judenstück" verunglimpft. Der Kritiker der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung äußerte in einer ersten Rezension seine Bedenken, ob das Stück auch auf der Bühne wirkungsvoll sein könnte. Und tatsächlich spielte die erste Produktion 1783 in Berlin ab dem dritten Tag vor leerem Haus. Dennoch wurde das Stück Ende 1801 von Friedrich Schiller in Weimar inszeniert. Und dies trotz seiner Ablehnung der äußeren Form des "dramatischen Gedichts". Schiller meinte: "Im Nathan dem Weisen (...) hat die frostige Natur des Stoffs das ganze Kunstwerk erkältet." Johann Wolfgang Goethe lobte den sittlichen und moralischen Gehalt des Stückes, rügte gleichwohl seine Form, die auch ihm fürs Theater ungeeignet erschien.
Von den Nationalsozialisten verboten, avancierte Nathan der Weise nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem regelrechten "Wiedergutmachungsstück" und wurde zur festen und verbindlichen Schullektüre. Jan Philipp Reemtsma, der 1997 den Lessingpreis der Stadt Hamburg erhielt, wies in seiner Dankesrede darauf hin, dass Nathan ein Vorbild für den Umgang mit anderen Religionen sei und weiteres Leid im Umgang mit anderen Kulturen verhindern könne. Neuere Inszenierungen betonen denn auch die religiöse und kulturelle Toleranz, die aus dem Stück spricht - und die heute angesichts kultureller Differenzen aktueller denn je erscheint.
Über den Autor
Gotthold Ephraim Lessing wird am 22. Januar 1729 als Sohn eines Pfarrers im sächsischen Kamenz geboren. Er studiert Theologie, Medizin und Philosophie in Leipzig und Wittenberg. Bereits in seiner Jugend verfasst er Dramen: Sein erstes Stück Der junge Gelehrte wird 1748 uraufgeführt. Von 1748 bis 1755 ist er Mitarbeiter der Berlinischen Privilegierten Zeitung. Er entscheidet sich dafür, freier Schriftsteller zu werden. In Wittenberg beendet Lessing sein Studium mit der Magisterwürde, danach betätigt er sich in Berlin als Theater- und Literaturkritiker. Es entstehen mehrere Dramen, darunter die Lustspiele Der Freigeist und Die Juden (beide 1749) sowie das erste bürgerliche Trauerspiel Miss Sara Sampson (1755). Von 1755 bis 1758 lebt Lessing wieder in Leipzig. Zusammen mit Johann Gottfried Winkler macht er sich zu einer Bildungsreise durch Europa auf, die jedoch bei Beginn des Siebenjährigen Krieges abgebrochen werden muss. 1758 kehrt Lessing nach Berlin zurück und gründet dort 1759 zusammen mit dem Philosophen Moses Mendelssohn und dem Schriftsteller Friedrich Nicolai die Zeitschrift Briefe, die neueste Literatur betreffend. Lessing selbst veröffentlicht darin mehrere Essays, in denen er u. a. den französischen Klassizismus kritisiert und William Shakespeare als Vorbild für deutsche Dramatiker hervorhebt. Von 1760 bis 1765 fungiert er als Sekretär des Generals Tauentzien in Breslau. 1767 erscheint das Erfolgsstück Minna von Barnhelm. Im gleichen Jahr folgt Lessing der Einladung, als Dramaturg am Deutschen Nationaltheater in Hamburg zu arbeiten. Hier verfasst er sein Grundsatzwerk der Schauspielkunst, die Hamburgische Dramaturgie. Doch bereits ein Jahr später scheitert das Projekt Nationaltheater. Ab 1770 ist Lessing Bibliothekar der herzoglichen Bibliothek in Braunschweig. Es erscheinen seine Dramen Emilia Galotti (1772) und Nathan der Weise (1779). 1776 heiratet er Eva König. Ihr gemeinsames Kind wird an Weihnachten 1777 geboren, stirbt aber schon einen Tag später; die Mutter folgt ihm wenige Tage später nach. Am 15. Februar 1781 stirbt Lessing in Braunschweig.
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