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Orientalismus

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Orientalismus

S. Fischer,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Der Araber, ein minderwertiges Wesen? Edward Saids bahnbrechende historische Studie kritisiert das abschätzige Urteil des Westens gegenüber dem Orient.


Literatur­klassiker

  • Politik
  • Moderne

Worum es geht

Ein akademisches Enthüllungsbuch

Orientalismus war ein Schlag ins Gesicht einer jahrhundertealten Forschungsrichtung. Edward Said wies der Orientalistik nach, ihren Forschungsgegenstand fortwährend in Misskredit gebracht zu haben. Alte Vorurteile gegen die Menschen im Orient wurden nie hinterfragt, sondern systematisch wiederholt. So machte sich die Forschung zum Handlanger der westlichen Großmächte und bestätigte sie in dem Glauben, dass der Orient gelenkt, also beherrscht werden müsse. Saids akademisches Enthüllungsbuch hatte durchschlagenden Erfolg, leitete einen tief greifenden Wandel innerhalb der Orientalistik ein und begründete sogar eine neue Studienrichtung, die „postkolonialen Studien“. Said, ein gebürtiger Palästinenser mit US-Professur, galt fortan als wichtige arabische Stimme im Westen. Obwohl Orientalismus zum modernen Klassiker avanciert ist, wird das Buch auch kritisch bewertet. Saids selektiver Umgang mit den Quellen rückt seine Untersuchung in die Nähe zur Polemik und schränkt damit ihre fachliche Glaubwürdigkeit ein. Die Lektüre lohnt sich dennoch: Saids grundlegende Auseinandersetzung schärft den Blick für den Umgang mit fremdartigen Kulturen.

Take-aways

  • In seiner historischen Studie Orientalismus entlarvt Edward Said die Grundlagen der westlichen Orientforschung als Cocktail aus Vorurteilen und Rassismus.
  • Das Buch wurde zum akademischen Skandalerfolg und revolutionierte die Orientalistik.
  • Inhalt: Die Orientalistik dient ihrem Wesen nach der Erforschung und Darstellung des Orients. Tatsächlich aber basieren ihre Texte meist auf überkommenen Vorurteilen, sind von Rassismus geprägt und liefern dem kolonialistischen Westen Argumente, die Kulturen des Ostens als minderwertig zu behandeln.
  • Edward Said, Palästinenser, wurde an US-Eliteuniversitäten ausgebildet.
  • Mithilfe der so genannten Diskursanalyse entdeckt Said tief sitzende Vorurteile bei orientalistischen Autoren.
  • Saids Kritik des kolonialistischen Blicks machte Schule und führte zur Einrichtung des Forschungsfeldes „postkoloniale Studien“.
  • Said argumentiert nicht aus arabischer, sondern aus humanistischer Perspektive. Er tritt allgemein für die Achtung des anderen ein.
  • Said beabsichtigte mit seinem Buch auch, eine neue Politik gegenüber dem Nahen Osten anzuregen.
  • Von Anfang an war Orientalismus heftiger Kritik ausgesetzt. Saids selektive Lektüre einschlägiger Quellen wurde als manipulativ gebrandmarkt.
  • Zitat: „Wenn die Erkenntnisse der Orientalistik einen Sinn haben, so den, daran zu gemahnen, wie sehr das Wissen, und zwar jedes Wissen, zur Erniedrigung verführt.“

Zusammenfassung

Orient – kein unschuldiger Begriff

Der Begriff „Orient“ bezieht sich nicht allein auf eine Weltregion, sondern ist an einen bestimmten Blick gebunden, den Europa auf diese Region wirft. Der Orient ist nicht einfach da, sondern ist – als Region mit einer vermeintlich eigenen Identität – erst von europäischen Autoren geschaffen worden; ein Konstrukt, das auf einen geografischen Sektor übertragen wurde. Es dient dem Okzident als Kontrastbild und trägt damit dazu bei, dass dieser sich genauer definieren kann. Obwohl der Orient also gewissermaßen ein Produkt der europäischen Kultur ist, ist er nicht einfach nur eine Idee, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat: Die autoritäre Haltung der Europäer gegenüber dem Osten hat ihre Spuren hinterlassen und ein Machtgefüge zwischen den beiden Regionen entstehen lassen. Der Orientalismus – worunter hier dieses Machtverhältnis zwischen Westen und Osten verstanden wird – geht auf eine lange Tradition zurück. Als Diskurs und Denkweise hat die Orientalistik dem Westen immer dazu gedient, den Orient zu vereinnahmen und ihn damit zu beherrschen.

„Der Orientalismus entsprach stets mehr der ihn gebärenden Kultur als seinem vermeintlichen, ja ebenfalls vom Westen hervorgebrachten Gegenstand (...)“ (S. 33)

Aus historischen Gründen steht hier der Orientalismus in Frankreich, Großbritannien und den USA im Mittelpunkt der Untersuchung. Diese beschränkt sich außerdem, um nicht auszuufern, auf die arabische Welt und den Islam – dies u. a., weil der Autor sich selbst als Orientale versteht: Er geht den Spuren nach, die der Orientalismus im eigenen Bewusstsein hinterlassen hat. Als Palästinenser in den USA lebt er in einer von Vorurteilen geprägten Umgebung. Das Buch soll dazu beitragen, das problematische Begriffspaar „Orient“ und „Okzident“ künftig zu überwinden.

Eine Kultur mit Charakterschwäche?

Bereits im frühen 20. Jahrhundert hatte sich im Westen vermeintliches Wissen über den Orient und die Orientalen verfestigt, das kaum mehr hinterfragt wurde. Es diente u. a. dazu, den fortdauernden Kolonialismus und die Zweiteilung der Welt zu rechtfertigen: in Völker, die herrschen durften, und andere, die es zu beherrschen galt. Der Orientalismus lieferte den Kolonialmächten die Grundlage für ihre Politik. Einer seiner Pfeiler war schon früh die Behauptung einer grundsätzlich unterschiedlichen Persönlichkeitsstruktur von Orientalen und Europäern. Demnach sind Orientalen unorganisiert, antriebslos, tendenziell hinterhältig und nur begrenzt zu höherer Vernunft und logischem Denken befähigt. Angesichts dieser Vorurteile ging man davon aus, dass die nationalistischen Bewegungen in verschiedenen Kolonien dem Naturell ihrer Bewohner wesensfremd waren. Die Orientalen – so die Theorie – bedürften gerade deshalb der Fremdherrschaft, denn mit ihrer Charakterschwäche brächten sie kein ordentliches Staatswesen zustande.

„(...) genau darin liegt das intellektuelle Hauptproblem des Orientalismus. Kann man, allein dem äußeren Anschein folgend, die Menschheit in streng voneinander geschiedene Kulturen, Stränge, Traditionen, Gesellschaften, ja sogar Völker unterteilen und trotzdem Humanist bleiben?“ (S. 60)

Das orientalistische „Wissen“ hat sich zwar vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mehrfach modernisiert, doch sein fragwürdiges Fundament wurde nicht angetastet. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des Kolonialismus fällen Politiker noch immer Pauschalurteile über „die arabische Welt“ oder über Kulturen, denen angeblich die Eignung zum logischen Denken fehlt.

Der Traum vom Orient

Die Orientalistik als wissenschaftliche Disziplin entstand bereits im frühen 14. Jahrhundert, aber bis Mitte des 18. Jahrhunderts waren Orientalisten vor allem Bibelkundler, Islamspezialisten oder Sprachforscher. Dann begann das Interesse am Orient zu wachsen, im 19. Jahrhundert nahm es sogar Züge einer Mode an. Bei aller Neugier wurden jedoch immer wieder alte Vorurteile erneuert, die teilweise noch auf Grenzziehungen der alten Griechen zwischen Europa und dem mysteriösen Osten zurückgingen. Ein wiederkehrendes Muster in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten war der Bezug zu dem bereits Bekannten, was dazu führte, dass der Islam lange als eine pervertierte Form des Christentums angesehen wurde. Diese verzerrte Perspektive ließ vieles, was genuin Orientalisch war, wie die schlechte Kopie eines europäischen Originals erscheinen und machte ein wahrhaftiges Verständnis des Orients unmöglich. Die Orientalistik unternahm zwar im Verlauf der Jahrhunderte enorme Anstrengungen zur Systematisierung ihres Wissens, unterzog dabei aber die eigene Herangehensweise an ihren Gegenstand nie einer grundlegenden Kritik.

„Ein Orientale lebt im Orient, in orientalischem Müßiggang, orientalischem Despotismus, orientalischer Sinnlichkeit, ist erfüllt von orientalischem Fatalismus. So unterschiedliche Schriftsteller wie Marx, Disraeli, Burton und Nerval konnten sich anhaltend in derlei Allgemeinplätzen ergehen, ohne sie zu hinterfragen (...)“ (S. 124)

Napoleon war einer derjenigen, die mit einem entsprechend schiefen Blick gegen Osten auszogen. Der Plan zum Ägyptenfeldzug 1798 wurde entscheidend durch fixe Ideen über den Orient angestoßen. Napoleon glaubte, mit Europas wissenschaftlichem Rüstzeug der daniederliegenden ägyptischen Kultur positive Impulse geben zu können. Die Besetzung des Landes würde diesem folglich eher aufhelfen, als dass es dadurch unterworfen werde. Die Vereinnahmung Ägyptens zog eine gewaltige Enzyklopädie, eine Beschreibung Ägyptens nach sich, die erneut orientalistische Vorurteile untermauerte. Als späte Konsequenz des napoleonischen Zivilisierungsprojekts kann sogar die Errichtung des Suezkanals gelten, mit dem der Westen die Distanz zum Orient abermals eindampfte – natürlich wie immer in seinem Sinne.

Angelesene Urteile statt gelebter Erfahrung

Eine große Schwäche des Orientalismus war stets das ungesunde Übergewicht von angelesener gegenüber erlebter Materie. Nicht zuletzt deshalb setzte sich der von Vorurteilen geprägte Diskurs auf Dauer gegen die tatsächliche Erfahrung durch und sorgte für eine gelenkte Wahrnehmung. Der Orientboom im 19. Jahrhundert führte denn auch zu Fällen herber Enttäuschung: Ein romantisch gefärbtes Orientbild zerbrach auf Reisen plötzlich am Alltag. In die Krise geriet die Orientalistik freilich erst, als sein Forschungsgebiet sich auf die Kolonialreiche erstreckte und politische Machtkämpfe, Unabhängigkeitsbewegungen und neuartige Blockbildungen den Forschungsgegenstand aus den Angeln hoben. Trotzdem versuchten viele Orientalisten weiterhin, auch die jüngsten Entwicklungen und Konstellationen in die alten Schubladen zu zwängen.

„Zum Beispiel gelten Araber als Kamel reitende, terroristische, hakennasige, käufliche Wüstlinge, deren unverdienter Reichtum einen Affront für jede wahre Zivilisation bedeutet. Dahinter verbirgt sich immer die Annahme, dass der westliche Verbraucher, obwohl er doch nur eine Minderheit bildet, eigentlich ein Anrecht auf den Großteil der Weltrohstoffe hätte. Warum? Weil er im Unterschied zum Orientalen ein richtiger Mensch ist.“ (S. 130 f.)

Die Orientalistik erneuerte sich im 18. und 19. Jahrhundert, u. a. durch Fortschritte der wissenschaftlichen Aufklärung. Länder jenseits der islamischen Einflusszone wurden erforscht. Historiker regten zum Vergleich verschiedener Zivilisationen und ihrer Geschichte an. Andere Denker forderten sogar, dass man sich in fremde Völker einfühlte, um deren Eigenarten besser zu begreifen. Außerdem gewannen anthropologische Typenlehren und Klassifikationssysteme an Einfluss. Alle diese Tendenzen waren zugleich Bausteine einer schrittweisen Säkularisierung: Das Christentum als Maßstab allen Urteilens verlor an Boden. Die Orientalisten untereinander verhielten sich allerdings nicht selten wie eine religiöse Bruderschaft, deren Mitglieder fast schöpfergleich entlegene Kulturen aus der Dunkelheit ins Licht führen wollten.

Gesehen wurde, was zu beweisen war

Bei zwei zentralen Wegbereitern des modernen Orientalismus, Silvestre de Sacy und Ernest Renan, war die religiöse Vorprägung entscheidend für die Art ihres wissenschaftlichen Engagements. Beide beeinflussten mit grundlegenden Arbeiten den Blick gegen Osten und beide gingen wie selbstverständlich von einer Minderwertigkeit der orientalischen Kulturen aus. Während de Sacys didaktische Werke suggerierten, der Orient sei jenseits des von ihm Mitgeteilten weitgehend uninteressant, versuchte Renan philologisch nachzuweisen, dass die semitischen Sprachen – ebenso wie die dazugehörigen Kulturen – in ihrer Entwicklung stecken geblieben seien. Selbst die Empfindungsfähigkeit der Semiten sei im Verhältnis zu indogermanischen Völkern unterentwickelt.

„Der moderne Orientalist hielt sich für einen Helden, der den Orient aus einer von ihm persönlich diagnostizierten Dunkelheit, Entrücktheit und Fremdartigkeit errettete.“ (S. 146)

Immer wieder entstanden oder festigten sich Stereotypen, wenn europäische Wissenschaftler meinten, die Fülle des Materials in bündige Thesen oder einfache Darstellungen packen zu müssen. Diese gestutzten Orientmodelle kamen dem Horizont und den Interessen der herrschenden Kultur sehr entgegen. Neben denjenigen Orientalisten, deren Werke sich vor allem der Auswertung früherer Quellen verdankten, gab es aber auch solche, die wirklich vor Ort unterwegs waren. Doch selbst sie strukturierten ihr Material vor allem nach den Erfordernissen der eigenen Disziplin und weniger nach denen des Gegenstands. Wichtiger als die wahrheitsgemäße Erfassung des Orients war die Positionierung des eigenen Werks innerhalb einer Orientalistik, deren institutionelle Macht durch neu gegründete Forschungsgesellschaften beständig wuchs.

Orientalisten im Dienst des Imperiums

Obwohl sich britische und französische Orientalisten in ihren Grundannahmen einig waren, hatten ihre Arbeiten unterschiedlichen Stellenwert – denn lange verfügte nur Großbritannien über bedeutende Kolonien im Orient. Erst der verlorene Krieg 1870/71 gegen Preußen führte auch in Frankreich zu einem Expansionsfieber. Um dieses ideologisch zu unterfüttern, lieferten die nationalen Orientalisten abermals passende Argumente. Als es nach dem Ersten Weltkrieg darum ging, die Türkei zwischen England und Frankreich aufzuteilen, konnten die Forscher beider Länder gleichberechtigt Rat geben.

„Bald trat der Orient als solcher hinter dem zurück, was der Orientalist daraus machte, und derart von ihm ins pädagogische Tableau gebannt, verlor er zunehmend seinen Realitätsbezug.“ (S. 153)

Die westlichen Kolonialherren gingen wie selbstverständlich davon aus, dass sie als Weiße besser zum Lernen und zum Fortschritt befähigt waren als jene unorganisierten, denkfaulen und dahindämmernden Orientvölker, die durch die Fremdregierung erstmals eine effektive Verwaltung zu spüren bekamen. Ähnlich arrogant und rassistisch argumentierte oft der wissenschaftliche Orientalismus, indem er mehrere Völker über einen Kamm scherte. Zu den erfolgreichsten Orientalisten gehörten jene, die am konkreten Menschen und dessen Lebenswelt kühn vorbeidachten und stattdessen „kulturelle Urformen“ und unverrückbare Wesenheiten definierten. So galt bizarrerweise: Je weiter der Blick von der Wirklichkeit abhob, desto konsequenter schien der Forscher den Dingen auf den Grund zu gehen.

„Wer in der Orientalistik ein lebendiges Bild der orientalischen Lebenswelt oder Gesellschaft sucht (...), der sucht vergebens.“ (S. 205)

Allerdings hatte sich der Orientalismus zunehmend in der Wirklichkeit zu bewähren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte er sich immer mehr von einer philologischen Wissenschaft zu einem Teilbereich der praktischen Politologie. Die Großmächte verlangten nach tauglicher Expertise über mögliche Risiken und Nebenwirkungen ihres kolonialen Engagements. Dabei fiel es den Orientalisten oft genauso schwer wie den Politikern, sich einer rapide ändernden Realität anzupassen. Erstaunlich lange verwendeten die Fachkräfte ihren Ehrgeiz darauf, lieb gewonnene Stereotype zu verteidigen. Noch die aktuellsten Arbeiten aus dem Bereich der Orient- oder Islamstudien leiden an einer gewissen gedanklichen Rückständigkeit.

Die USA gehen anders vor – aber nicht klüger

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging nicht nur der Kolonialismus seinem Ende entgegen, auch der Orientalismus hatte in seiner bisherigen Form ausgedient. Die amerikanische Vorherrschaft löste Frankreich und Großbritannien ab. Umgehend sorgte das Verhältnis der USA zu Israel einerseits und die Abhängigkeit der Vereinigten Staaten vom Erdöl andererseits für eine vielfältige Beschäftigung mit dem arabischen Raum. Diese reichte bis in die populäre Filmkultur, wo der Muslim allerdings in aller Regel negativ dargestellt wurde. Das Studiengebiet des Orientalismus ging in den USA bald in den Sozialwissenschaften auf. Die waren zwar kaum von Europas historischem Ballast beschwert, reproduzierten aber dennoch die von dort bekannte Geringschätzung des Fremden.

„Thesen über die Rückständigkeit, Degeneriertheit und Abartigkeit des Orientalen gingen Anfang des 19. Jahrhunderts meist mit Ideen über die biologischen Grundlagen von Rassenunterschieden einher.“ (S. 236 f.)

Abermals trifft man in diesen Schriften auf die verschlagenen, triebgesteuerten und der islamischen Irrlehre verfallenen Araber, die in ihrem massenhaften Auftreten bedrohlich, aber aufgrund ihrer strukturellen Unfähigkeit zu strategischer Intelligenz letztlich ungefährlich sind. Die entsprechenden Vorurteile werden nun oft milder formuliert, sind jedoch eindeutig auf diese Kernvorstellungen zurückzuführen. Dabei ist es ein besonders unglücklicher Begleitumstand, dass der gewandelte Imperialismus der USA die arabische Welt praktisch rekolonialisiert hat. Die akademische Forschung zum islamischen Orient konzentriert sich in den USA, während sie vor Ort kaum anspruchsvoll betrieben werden kann. Kommt dazu, dass die jüngste Generation von Arabern in ihrer zunehmenden Konsumorientierung eindeutig US-Mustern folgt. Viele Araber beginnen, sich selbst fast so zu sehen, wie Hollywood sie mit Vorliebe darstellt.

„Neben anderen Völkern, die verschiedentlich als rückständig, entartet, unzivilisiert und retardiert galten, sah man auch die Orientalen oft durch die Brille des biologischen Determinismus und der moralisch-politischen Unterweisung. Insofern standen sie auf einer Stufe etwa mit Delinquenten, Geisteskranken, Frauen oder Armen (...)“ (S. 237)

Gibt es eine Alternative zum Orientalismus? Vorerst muss es bei der Hoffnung bleiben, dass sich die Forschung schrittweise von alten Vorurteilen trennen kann. Im Prinzip hat sie das Zeug dazu. Von der Geschichte des Orientalismus wird dann womöglich nur eine Mahnung bleiben: wie sehr das Wissen zur Erniedrigung verführt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Saids Orientalismus folgt formal dem Muster, das man von einer historischen Studie dieses Typs erwartet: In einer Einleitung umreißt der Autor zunächst sein Thema und seine Herangehensweise, anschließend verfolgt er die Entwicklung des Orientalismus von den Anfängen bis in die Gegenwart. Dieses Gerüst erweist sich allerdings als locker: Regelmäßig wechselt Said den zeitlichen Rahmen, springt von einem Jahrhundert ins andere, spricht mal nur über eine kurze Phase, dann wieder über zwei oder drei Jahrhunderte gleichzeitig. Ähnlich verfährt er im Hinblick auf Orient und Okzident. Mal nimmt er den gesamten Orient in den Blick, dann nur einen kleinen Teil, mal untersucht er die französischen Reiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts, dann wieder spricht er ganz allgemein über die Sicht des Westens. Said versucht sein Thema aus immer neuen Blickwinkeln zu betrachten. Dabei fällt es im Einzelnen nicht schwer, seiner Argumentation zu folgen, denn er schreibt weitgehend klar. Problematischer sind Passagen von versteckter oder offener Ironie. Sie lassen die akademische Untersuchung mitunter polemisch wirken.

Interpretationsansätze

  • Edward Said bürstet die jahrhundertealte Tradition der Orientforschung gegen den Strich. Sein Buch beleuchtet die Wahrheit hinter den Worten. Er entdeckt in Büchern, Aufsätzen und Reden westlicher Orientforscher einen harten Kern von Vorurteilen, der dem erklärten Ziel der Zunft zuwiderläuft: Die Orientalistik sollte ihren Gegenstand erhellen und aufschließen, hält aber an abschätzigen Stereotypen fest.
  • Methodisch benutzt Said das Verfahren der Diskursanalyse, wie sie vom französischen Philosophen Michel Foucault entwickelt wurde: Er versucht zu zeigen, inwieweit übergeordnete Machtverhältnisse verantwortlich sind für die Art und Weise, wie Menschen einer Einflusssphäre über Menschen anderer Einflusssphären urteilen. Die Sprache ist demnach nicht unschuldig oder neutral: Sie reproduziert – mitunter gegen den Willen der Sprecher – herrschende Machtstrukturen.
  • Der Philologe Said benutzt sein Handwerkszeug in politischer Mission. Im Detail analysiert er Texte wie ein Philologe, der seinem Material durch genaues Hinsehen neue Lesarten abgewinnt. Diese Interpretationen werden dann aber in einen politischen Zusammenhang überführt. Die Neubewertung der westlichen Orientforschung soll in einem zweiten Schritt zur Neuorientierung der westlichen Orientpolitik führen.
  • Saids Vorgehen ist nicht unproblematisch: Er nimmt sich Freiheiten heraus, die einem Literaturwissenschaftler zustehen mögen, die aber im Rahmen einer historisch-politischen Analyse zu weit gehen. Manche Schlussfolgerungen basieren auf Unterstellungen oder verdanken sich einer einseitigen Auswahl von Texten.
  • Orientalismus ist auch ein Text der Selbstvergewisserung: Edward Said, der als Palästinenser geboren wurde, seine intellektuelle Ausbildung allerdings in den USA erhielt, erkämpft sich mit dem Buch eine Position jenseits jener Diskurse, die ihn als Araber von vornherein mit bestimmten Attributen belegen wollen.
  • Said argumentiert nicht aus arabischer oder gar muslimischer Perspektive, sondern im Sinne eines universellen Humanismus, dem die Achtung des anderen bei aller kulturellen Differenz am Herzen liegt.

Historischer Hintergrund

Nahostkonflikt und Ölkrise

Im Jahr 1973 bekamen die Bürger der USA die Folgen des fortdauernden Nahostkonflikts deutlich zu spüren. Israel war am 6. Oktober im Jom-Kippur-Krieg von syrischen und ägyptischen Truppen angegriffen worden. Im folgenden Konflikt unterstützten die USA die israelische Regierung durch Waffenlieferungen. Nach der auf internationalen Druck erfolgten Beendigung des Krieges binnen drei Wochen entschlossen sich die Öl exportierenden arabischen Länder zu einem Lieferboykott gegen die USA. Obwohl dieser kaum ein halbes Jahr durchgehalten wurde, hatte die Maßnahme doch weit reichende Folgen, denn die parallele Drosselung der Ölfördermengen führte in den USA zu einem Preisschock und zu drastischen Rationierungsmaßnahmen. Das Ansehen der Araber, die schon vorher ein schlechtes Image hatten, verschlechterte sich weiter. Zum einen lebten traditionelle Klischees im Bewusstsein der Bevölkerung fort, zum anderen schienen die arabischen Diktaturen ein Gegenmodell zum liberal-demokratischen Amerika zu verkörpern.

Zudem pflegten die USA bereits seit den 60er Jahren eine besondere Beziehung zu Israel. Dies hatte zur Folge, dass die Entwicklung des Nahostkonflikts in der amerikanischen Öffentlichkeit selten ausgewogen und unparteiisch dargestellt wurde. Von der Situation in den palästinensischen Flüchtlingslagern oder der UN-Resolution über die Gründung eines palästinensischen Staates war selten die Rede. Gleichzeitig schürten Terroraktionen palästinensischer Gruppen stets aufs Neue das generelle Misstrauen gegen die Araber.

Entstehung

Als sich Edward Said Mitte der 70er Jahre an die Niederschrift von Orientalismus machte, war er bereits seit mehr als zehn Jahren Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der New Yorker Columbia University. Er war ein angesehenes Mitglied der akademischen Gemeinschaft – und fühlte sich als Intellektueller doch heimatlos. Aufgrund seiner arabisch-palästinensischen Herkunft und Identität lag sein kulturelles Fundament eindeutig außerhalb des gewohnten US-amerikanischen Spektrums. Er musste seine merkwürdige Außenseiterposition – westlich gebildet, östlich verwurzelt – nicht nur anderen gegenüber ständig erläutern, sondern hatte auch Probleme mit der eigenen Situierung zwischen zwei Kulturen. Insofern stellte seine Auseinandersetzung mit dem Blick des Westens auf den Osten auch ein Stück intellektueller Archäologie dar. Sie konnte helfen, jene Denkmuster zu sezieren, die er selbst als diffamierend empfand, obwohl sie zugleich Teil des eigenen Bildungswegs waren.

Said hielt zunächst einige Jahre Vorlesungen zum Thema, dann machte er sich an die Niederschrift des Buches. Die einseitige Wahrnehmung des Nahostkonflikts in den USA, die ihn beim Sechstagekrieg 1967 entsetzt hatte, befeuerte das Buchprojekt zusätzlich. 1974, als die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) einen offiziellen Beobachterstatus in der UN-Vollversammlung erhielt, lernte Said deren Präsidenten Jassir Arafat kennen; 1977 wurde er selbst Mitglied im Palästinensischen Nationalrat, dem Legislativkomitee der PLO. Parallel dazu beendete er die Arbeit an Orientalismus. Das Werk hatte er vor allem während eines Gastaufenthalts an der kalifornischen Stanford University 1975/76 niedergeschrieben.

Wirkungsgeschichte

Das Buch wurde schon bald nach seiner Veröffentlichung 1978 zu einem durchschlagendem Erfolg. Es bedeutete einen tiefen Einschnitt für die westlichen Orientstudien und sorgte dafür, dass die Berufsbezeichnung „Orientalist“ mit der Zeit nicht mehr neutral benutzt werden konnte: Sie hatte sich durch Saids kritische Bestandsaufnahme in einen abwertenden Begriff verwandelt. Orientalismus erntete Ruhm weit über sein akademisches Feld hinaus. Saids Entlarvung des kolonialistischen Blicks mithilfe der diskursanalytischen Methode machte Schule. Sein Werk führte zur Gründung eines neuen Forschungsfeldes, der postkolonialen Studien.

Innerhalb der Orientalistik besetzten Anhänger von Saids Thesen nach und nach wichtige Positionen. Der Autor selbst wurde durch sein Buch zu einer öffentlichen Figur, galt umgehend als das intellektuelle Sprachrohr der Palästinenser in den USA und als herausragende Kapazität im Hinblick auf arabische und islamische Fragen.

Zugleich war sein Buch von Anfang an scharfer Kritik ausgesetzt. Zunächst kam sie aus konservativen Kreisen der Orientalistik, die eine derart radikale Umwertung ihrer Disziplin nicht hinnehmen wollten. Mit der Zeit verstärkte sich eine grundsätzlichere und besser begründete Kritik. Insbesondere Saids sehr selektive Quellenlektüre hat eine Reihe akademischer Gegenstudien provoziert, die den Nachruhm des Buches deutlich geschmälert haben. Der Rang von Orientalismus als klassischem Text des Postkolonialismus ist aber unbestritten.

Über den Autor

Edward Said wird am 1. November 1935 in Jerusalem geboren. Sein Vater ist ein palästinensischer Geschäftsmann mit US-Pass, seine Mutter eine Halblibanesin, beide sind Christen. Said wächst zunächst zwischen Jerusalem und Kairo auf, bis die Familie 1947 endgültig nach Kairo zieht. 1951 muss er die Schule als Störenfried verlassen und wird zur weiteren Ausbildung in die USA geschickt. Er studiert an den Eliteuniversitäten Princeton und Harvard und wird 1963 Professor für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft an New Yorks Columbia University – eine Position, die er bis zu seinem Tod innehat. Mit seinem Buch Orientalism (Orientalismus) begründet er 1978 seinen akademischen Ruhm. Ein Jahr zuvor ist er als unabhängiges Mitglied in den Nationalrat der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) eingetreten. Fortan gilt Said als herausragender intellektueller Vertreter palästinensischer Interessen in den USA. Er veröffentlicht sowohl Bücher zur Nahostpolitik als auch literaturwissenschaftliche und musiktheoretische Werke und publiziert regelmäßig in wichtigen internationalen Zeitschriften. Said ist außerdem ein beachtlicher Pianist. 1999 gründet er zusammen mit dem Dirigenten Daniel Barenboim das West-Eastern Divan Orchestra, in dem Juden und Palästinenser gemeinsam musizieren. 1991 verlässt er den Palästinensischen Nationalrat wieder. Mit PLO-Führer Jassir Arafat überwirft er sich wegen unterschiedlicher Auffassungen zum Friedensprozess. Im Jahr 2000 wird er fotografiert, als er während einer Protestkundgebung im Südlibanon einen Stein gegen israelische Grenzanlagen schleudert. Said gerät deswegen in die Kritik. Im September 2003 stirbt er in New York an Leukämie.

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