Virginia Woolf
Orlando
Fischer Tb, 2004
Was ist drin?
Erst männlich, dann weiblich und mehrere hundert Jahre alt: Orlando ist eine der seltsamsten Romanfiguren überhaupt.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Orlando – ein androgynes Ideal
Mit unbändiger Fabulierlust erzählt Virginia Woolf vom Leben Orlandos, der als Junge zur Welt kommt und als Frau Karriere macht. Mindestens 350 Jahre umspannt dieses Leben, das im 16. Jahrhundert beginnt, im Jahr 1928 (in dem der Roman endet) noch andauert und anhand dessen die Autorin ein schillerndes Sittengemälde der englischen Gesellschaft zeichnet. Humorvoll weiß sie die verschiedenen Begegnungen Orlandos mit historischen Größen, mit Literaten und Philosophen in Szene zu setzen. Der Wendepunkt im Roman vollzieht sich, nachdem Orlando von einer aufdringlichen Herzogin der Hof gemacht wird. Er flieht als Gesandter nach Konstantinopel, wo Unglaubliches geschieht: Orlando verwandelt sich in einer tumultartigen Nacht in eine Frau – und muss sich als solche fortan den Ansprüchen der Umwelt stellen. Geschickt verwebt die Autorin das Leben Orlandos mit gesellschaftskritischen Einwürfen – beispielsweise als der frisch Verwandelten bei ihrer Rückkehr nach London Besitz und Rechte abgesprochen werden. Schließlich findet Orlando den Mann ihres Lebens, der ihr alle Freiheiten lässt, die sie zur Selbstverwirklichung braucht. Virginia Woolf schrieb Orlando als Hommage an ihre langjährige Freundin Vita Sackville-West. Entstanden ist ein feinsinniges Fantasiewerk, das zur Zeit seiner Publikation mit sämtlichen gesellschaftlichen Konventionen und Lesegewohnheiten brach.
Take-aways
- Orlando schildert das 350 Jahre lange Leben Orlandos, der sich vom Jüngling in eine Frau verwandelt.
- Das Buch gehört zu den kanonischen Texten der Frauenbewegung und ist zugleich ein Klassiker der englischen Moderne.
- Als Königin Elisabeth I. den jungen, schönen Orlando erblickt, beordert sie ihn unverzüglich an den englischen Hof und ernennt ihn zum Schatz- und Hofmeister.
- Orlando verliebt sich unsterblich in eine russische Prinzessin, wird jedoch von ihr verlassen und zieht sich auf ein einsames Gut zurück.
- Vor der Zudringlichkeit einer Erzherzogin weiß er sich nur durch die Flucht nach Konstantinopel zu retten.
- Dort lebt er zwei Jahre lang, bis ein Aufstand der Türken gegen den Sultan ausbricht und Orlando sich in einem langen Schlaf in eine Frau verwandelt.
- Das anschließende Zigeunerleben in den Bergen ist eine bewusste Entscheidung gegen die Konventionen am Hof.
- Die unüberbrückbare Kluft zwischen Orlando und den Zigeunern führt sie nach England zurück, wo sie die gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Geschlechtsumwandlung erfahren muss.
- Orlando ist wie ein Schmetterling, schillernd, erotisch und ewig jung. Sie stellt gern die Geschlechterrollen auf den Kopf und spottet über gesellschaftliche Konventionen.
- Auf der Suche nach einem Liebhaber stürzt sie sich ins städtische Vergnügen Londons, doch die oberflächlichen Lustbarkeiten erfüllen sie nicht.
- Am Ende des Viktorianischen Zeitalters findet Orlando endlich einen Gatten, wird Mutter und kann ihr Manuskript, an dem sie schon seit Jahrhunderten arbeitet, veröffentlichen.
- Virginia Woolf, Idol der Frauenbewegung, erzielte mit ihrem märchenhaften Roman erstmals in ihrem Leben einen finanziellen Erfolg.
Zusammenfassung
Der junge Orlando
Orlando, ein schöner Jüngling aus adligem Haus, ist im Jahr 1586 16-jährig und scheint zu Großem bestimmt. Das erkennt Königin Elisabeth I., als sie dem Gut seines Vaters einen Besuch abstattet und Orlando ihr eine Schale mit Rosenwasser überreicht. Sie ernennt ihn kurzerhand zum Schatz- und Hofmeister, ja verliebt sich gar in ihn. Eines Tages allerdings entdeckt die Königin sein Techtelmechtel mit einer Dienstmagd und wird gefährlich eifersüchtig. Doch Orlando sucht nun einmal lieber die Gesellschaft der einfachen Leute als die der vornehmen Damen am Hof, deren Erzählungen ihn – der längst selber unzählige Tragödien, historische Dramen und eine Vielzahl von Sonetten verfasst hat – entsetzlich langweilen.
„Grün in der Natur ist eine Sache, Grün in der Literatur eine andere. Natur und Buchstäbliches scheinen eine natürliche Abneigung gegeneinander zu hegen; bringt man sie zusammen, reißen sie sich gegenseitig in Stücke. “ (S. 11)
Während des „großen Frosts“, des kältesten Winters, den England je erlebt hat, verliebt sich Orlando unsterblich in eine moskowitische Prinzessin, kurz Sascha genannt. Die Vertrautheit zwischen den beiden wird zum Skandal. Er beschließt, mit Sascha zu fliehen. Doch in der vereinbarten Nacht taucht sie nicht auf, und plötzlich setzt ein heftiger Regen ein, der das ganze Eis auf der Themse zum Schmelzen bringt. Am Ufer schaut Orlando den Fluten nach, die heftig zum Meer hin drängen, und weit draußen sieht er ein Schiff unter russischer Flagge am Horizont segeln.
Der enttäuschte Literat
Nach der Abreise der russischen Prinzessin fällt Orlando am Hof in Ungnade, und er zieht sich auf sein Landgut zurück, wo er in selbst gewählter Einsamkeit lebt. Dort schläft er einmal wie in Trance sieben Tage lang, und als er aufsteht, scheinen Teile seiner Erinnerung ausgelöscht. Orlando wird vom Schreibfieber gepackt, er will die Realität durch Literatur ersetzen. Noch bevor er sein 25. Lebensjahr erreicht, hat er 47 Dramen, Historien, Ritterromane und Poeme geschrieben.
„Das alte Misstrauen, das unterirdisch in ihm am Werke war, hastete offen aus der Verborgenheit hervor. Er wurde von einer Brut von Schlangen gebissen, jede giftiger als die vorherige.“ (über Orlando, S. 42)
Nach Monaten des Ringens um jedes Wort will er die Meinung eines bekannten Schriftstellers einholen. Mr Nicholas Greene nimmt die Einladung Orlandos ein. Zunächst ist der Jüngling enttäuscht vom biederen Aussehen des Dichters. Dann gelingt es ihm kaum, den Redefluss des Literaten zu unterbrechen, der seinen eigenen Stammbaum erläutert, über seine Zipperlein jammert und eine Verschwörung beklagt, die gegen ihn im Gange sei. Schließlich zieht er über sämtliche Schriftstellerkollegen her und betrauert den Verfall der Literatur. Einzig die Antike habe wahre Größen hervorgebracht, damals hätten die Autoren beim Schreiben noch nicht nach dem Honorar geschielt. Orlando ist entsetzt über diese Ausführungen und hätte doch viel lieber über seine eigenen Schriften gesprochen. Mit einer Mischung aus Zuneigung und Verachtung entlässt er den Gast, dem er fortan eine vierteljährliche Rente zahlen will. Doch Mr Greene schreibt statt eines Dankes eine Satire auf Orlando, die sich sehr gut verkauft und eines Tages auch in dessen Hände gelangt. Orlando ist schockiert und fest entschlossen, den Kontakt zu den Menschen abzubrechen.
Flucht nach Konstantinopel
Nun konzentriert sich Orlando ganz auf die Renovation seines Gutes. Er veranstaltet eine Festlichkeit nach der anderen und erwirbt sich auf diese Weise unzählige Titel und einen guten Ruf, hat aber in nur sechs Jahren sein halbes Vermögen verbraucht. Eines Tages sucht ihn eine rumänische Erzherzogin auf, die ihn unbedingt kennenlernen möchte, weil sie sein Bildnis gesehen und sich auf der Stelle in ihn verliebt hat. Orlando weiß sich der Zudringlichkeit dieser Edelfrau nicht anders zu entziehen, als sich von König Charles als Gesandter nach Konstantinopel schicken zu lassen.
„Die Erinnerung ist die Näherin, und eine kapriziöse noch dazu. Die Erinnerung führt ihre Nadel ein und aus, auf und nieder, hierhin und dorthin.“ (S. 55)
Orlando spielt dort im öffentlichen Leben eine bedeutende Rolle. Er genießt die Zeit im Süden sehr, der exotische Charme der Stadt nimmt ihn vollkommen gefangen. In der Blüte seines Lebens erhält Orlando die Herzogswürde verliehen. Zu diesem Anlass veranstaltet er ein rauschvolles Fest. Um Mitternacht bricht plötzlich ein Tumult aus – der Aufstand der Türken gegen den Sultan. Während Orlando erneut in einen tagelangen Schlaf verfällt, dauert der Aufstand an. Alle Ausländer werden getötet, Orlando aber wird, da er ausgestreckt auf seinem Bett liegt, für tot gehalten und verschont.
Aus Mann wird Frau
Als er endlich aus seinem Schlaf erwacht, findet Orlando sich splitternackt vor: als Frau. In ihrer Gestalt vereinigen sich männliche Kraft und weibliche Anmut; Orlando hat zwar das Geschlecht geändert, nicht aber die Identität. Das Gesicht ist das gleiche geblieben, und Orlandos Erinnerung reicht auf alles zurück, was bisher vorgefallen ist. Das Leben geht weiter: Orlando sieht ihre Papiere durch, nimmt Pistole und Smaragde an sich und verlässt den Hof mit einem Zigeuner und einem Esel. Sie schließt sich den Zigeunern an und lebt mit ihnen in den Bergen von Brussa.
„Es war besser, unbekannt zu bleiben und einen Gewölbebogen zu hinterlassen, einen Gartenschuppen, eine Mauer, an der Pfirsiche reifen, als wie ein Meteor zu glühen und keinen Staub zurückzulassen.“ (S. 74)
Eines Abends erzählt Orlando stolz von ihrem Zuhause, von den 365 Schlafzimmern, ihrem alten Stammbaum und ihrer Herzogswürde. Die Zigeuner können darüber nur lächeln: Orlandos englische Genealogie verblasst neben der ihren, die bis in die Zeit der ägyptischen Pharaonen zurückreicht. Und was den Herzog anbelangt, meinen die Zigeuner, so seien solche Edelleute nichts als Räuber. Solche grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten haben in der Menschheitsgeschichte schon zu Revolution, Mord und Totschlag geführt; Orlando zeigen sie immerhin, dass sie nicht länger bei den Zigeunern bleiben will.
Verlust von Recht und Besitz
Auf der Rückfahrt an Bord eines englischen Handelsschiffes wird sich Orlando – erstmals in Röcken gekleidet – ihrer Geschlechtsumwandlung voll bewusst. Vom Kapitän lässt sie sich verwöhnen und fragt sich, was schöner sei: vom anderen Geschlecht verfolgt zu werden oder die Annäherungen zu fliehen? Am eigenen Leib spürt sie nun, wie die Wünsche und Vorstellungen eines Mannes die Frau bestimmen. Dennoch findet sie sich von Tag zu Tag besser mit ihrer Rolle ab: Sie muss nicht mehr länger siegen und beherrschen, sondern darf unwissend sein, sich lieben lassen und es sich gemütlich machen.
„Der Wechsel des Geschlechts, wenn er auch die Zukunft der beiden änderte, tat nicht das Geringste, ihre Identität zu ändern.“ (über Orlando, S. 99)
Von der englischen Obrigkeit wird Orlando bei ihrer Ankunft in London hart angefasst. Verschiedene Gerichtsverfahren werden gegen sie angestrengt: Zum einen sei sie tot und habe deshalb kein Eigentum mehr. Zudem sei sie eine Frau, was auf dasselbe hinauslaufe. Und drittens habe sie noch in ihrer Zeit als Mann eine Zigeunerin geehelicht, deren drei Söhne nun nach Orlandos offiziellem Tod Anspruch auf den Besitz erheben würden. Nur von ihrer Dienerschaft wird sie herzlich empfangen, die Bediensteten finden sich erstaunlich schnell mit der Geschlechtsumwandlung ab.
„(...) sie war Mann; sie war Frau; sie kannte die Geheimnisse, teilte die Schwächen beider. Es war ein höchst verwirrender und verworrener Zustand, in dem sie sich befand.“ (über Orlando, S. 114)
Das Leben in England erscheint Orlando schrecklich fad. Noch schlimmer wird es, als die Erzherzogin auftaucht, wegen der Orlando einst geflohen ist. Diese behauptet nun, in Wahrheit immer ein Mann gewesen zu sein und sich damals nur wegen Orlando als Frau verkleidet zu haben. Sie – er – macht Orlando flammende Heiratsanträge. Nur leider ist er ein rechter Schwerenöter, sodass Orlando 1712 fluchtartig das Gut verlässt, um in London Abenteuer und einen Liebhaber zu suchen.
Verwirrspiele in London
Orlando taucht in das gesellschaftliche Leben Londons ein, doch schon nach wenigen unbefriedigenden Monaten und Liebhabern will sie diesem Lebenswandel abschwören. Eines Abends wird sie in den Salon der Lady R. geladen. Die gesellschaftlichen Berühmtheiten enttäuschen sie mit nichtigem Geschwätz, bis der Dichter Mr Pope mit seinen ketzerischen Aussagen die Runde sprengt. Dies imponiert Orlando, und sie lädt Pope zu sich aufs Land ein. Bald geben sich die Autoren Orlandos Türklinke in die Hand, doch sie muss sich eingestehen, dass sie das wahre Leben noch immer nicht gefunden hat.
„So gibt es vieles, was die Ansicht unterstützt, dass es die Kleider sind, die uns tragen, und nicht wir sie; wir mögen sie dazu bringen, die Form von Arm oder Brust anzunehmen, sie aber formen unsere Herzen, unseren Verstand, unsere Zungen nach ihrem Belieben.“ (S. 134)
Um der Langeweile zu entkommen, schlüpft Orlando eines Nachts in einen Samtanzug und wird prompt von einer Dirne mit auf ihr Zimmer genommen. Erst dort gibt sich Orlando als Frau zu erkennen. Nell, die Dirne, legt ihr aufgesetztes weibliches Gebaren ab und erzählt ihre Geschichte. Immer mehr von Nells Freundinnen stoßen dazu, und Orlando stellt verwundert fest, wie wohltuend natürlich und direkt dieses Geplapper ist im Vergleich zu den herablassenden und geheimnistuerischen Worten der edlen Herren. Orlando wechselt immer öfter die Kleider und inszeniert ein Verwirrspiel um ihre Identität. Sie erfreut sich der Liebe beider Geschlechter, die sie um viele Erfahrungen reicher macht.
Das Viktorianische Zeitalter
Wie vormals der Frost kommt nun eine große Feuchtigkeit über das Land, das ganze Leben verlagert sich von außen nach innen, eine Zeit voller Heimlichkeiten und Heucheleien bricht an. Die Offenheit zwischen Mann und Frau wird von einer neuen Ernsthaftigkeit abgelöst, die Orlando überrascht. Alle Beziehungen müssen nun besiegelt werden, Mann und Frau sind wie zusammengeklebt, und der Wert einer Frau wird allein an ihrer Fruchtbarkeit bemessen. Den Zeichen der Zeit gehorchend, sucht auch Orlando einen Gemahl. Dabei ist ungewiss, ob sie sich wirklich nach einer Schulter sehnt, an die sie sich anlehnen kann, oder ob ihr Bemühen den gesellschaftlichen Konventionen geschuldet ist.
„So unterschiedlich die Geschlechter auch sind, so überkreuzen sie sich doch. In jedem menschlichen Wesen gibt es ein Schwanken von einem Geschlecht zum anderen, und oft sind es nur die Kleider, die das männliche oder weibliche Aussehen aufrechterhalten, während darunter das Geschlecht das genaue Gegenteil dessen ist, als was es oben erscheint.“ (S. 134)
Bei einem Waldausflug verletzt sich Orlando am Knöchel und wird von einem Reiter gerettet: Marmaduke Bonthrop Shelmerdine. Die beiden verlieben sich auf den ersten Blick und verloben sich sogleich. Shelmerdine ist Soldat und Orientreisender. Tagelang erzählt er Orlando die Geschichte einer gescheiterten Umseglung des Kap Hoorn, die er erneut in Angriff nehmen will. Inzwischen erfährt Orlando, dass sie endlich die Gerichtsverfahren, die sich nun schon seit Jahrzehnten hinziehen, gewonnen hat. Offiziell wird ihr nun bestätigt, dass sie eine Frau sei, und einer Heirat steht nichts mehr im Weg.
„,Madam‘, rief der Mann, auf den Boden springend, ‚Sie sind verletzt!‘ – ‚Ich bin tot, Sir‘, antwortete sie. – Ein paar Minuten später waren sie verlobt.“ (über Shelmerdine und Orlando, S. 176)
Wie noch nie in ihrem Leben drängt es Orlando, ihr Langpoem Der Eich-Baum zu veröffentlichen, das sie seit ewigen Zeiten umarbeitet. Zum ersten Mal fährt sie mit dem Zug nach London, wo bereits die Moderne eingekehrt ist: Menschenüberfüllte Bürgersteige, Omnibusse, Kutschen und Fuhrwerke sind ineinander verkeilt. Plötzlich begegnet ihr Mr Greene, der inzwischen Professor der Literatur ist und in den Ritterstand erhoben wurde. Er gilt als einflussreichster Literaturkritiker der Viktorianischen Ära. Orlando ist unschlüssig, ob sie ihm ihr Manuskript überreichen soll, da er sie einst so gekränkt hat. Mr Greene hat sich in der Tat nicht geändert, seine Ansichten sind dieselben geblieben. Mitten im Gespräch platzt auf einmal ein Knopf an Orlandos Gewand, und ihr Manuskript fällt heraus. Wie schon einmal vor 300 Jahren nimmt Mr Greene den Text an sich – und sein Urteil fällt positiv aus. Das Werk müsse unbedingt veröffentlicht werden, er wolle sich höchstpersönlich dafür einsetzen.
Die Relativität von Zeit und Identität
Das würdevolle, stattliche und prachtvolle Viktorianische Zeitalter geht zu Ende, König Edward besteigt den Thron. Orlando schenkt einem Sohn das Leben, während ihr Mann noch immer die Weltmeere besegelt und nur gelegentliche telegrafische Mitteilungen den Kontakt zwischen den Eheleuten aufrechterhalten. Beim Gang durch London fällt Orlando auf, dass die Menschen sie aus den Tiefen der Vergangenheit anschauen und dass sie die Gegenwart nur wie einen Schutzschild tragen. Die Zeit scheint über Orlando hinweggegangen zu sein, denn in allem sieht sie lediglich die Widerspiegelung der Vergangenheit.
„Denn es ist durch die kluge Sparsamkeit der Natur so weit gekommen, dass unser moderner Geist fast ganz auf die Sprache verzichten kann; die gewöhnlichsten Ausdrücke genügen, da kein Ausdruck genügt; daher ist die gewöhnlichste Unterhaltung oft die poetischste, und die poetischste ist genau das, was sich nicht niederschreiben lässt.“ (S. 178)
Die Veröffentlichung ihres Manuskripts, das mehrfach ausgezeichnet wird, ist ein Höhepunkt in Orlandos Leben. Und doch empfindet sie den literarischen Ruhm als relativ und all das Gerede als der Literatur höchst unangemessen. Frustriert legt sie sich unter einem Eichbaum nieder und will ihr Poem dort begraben. Doch selbst dazu ist sie zu enttäuscht und lässt es zerfleddert am Boden liegen. Viel lieber versenkt sie sich in den Anblick der Wolken, gebannt von den Eindrücken ihres langen Lebens, die jetzt als Visionen nochmals auftauchen – bis schließlich aus einem vorüberfliegenden Flugzeug ihr Ehemann auf die Erde springt. Es ist Donnerstag, der 11. Oktober 1928.
Zum Text
Aufbau und Stil
Orlando, diese „literarische Eskapade“, wie Virginia Woolf selbst sagte, ist eine fiktional angelegte Biografie von Vita Sackville-West, einer langjährigen Freundin der Autorin. Das Material des Romans entstammt größtenteils einem Buch der Freundin über ihren eigenen Stammbaum. Virginia Woolf wollte das Genre der Biografie einerseits ironisch imitieren und andererseits mit dessen Regeln brechen. So weist die Erzählung, als deren Urheber sich ein selbstverliebter „Biograf“ zu erkennen gibt, biografietypische Elemente wie ein Vorwort und ein Personenregister auf und ist sogar mit Porträts bebildert. Gleichzeitig enthält das Werk aber auch fantastische Passagen, Übertreibungen und Zeitsprünge, die die konventionellen Vorgaben von Zeit und Raum sprengen. Die quasi alterslosen, immer wieder in neuer, aktualisierter Gestalt auftauchenden Figuren und verschiedene Leitmotive machen den roten Faden der Erzählung aus, die mehrere Jahrhunderte abdeckt. So sucht Orlando in Zeiten der Verzweiflung stets einen Eichbaum auf, und das Schreiben am Langpoem Der Eich-Baum überdauert die Zeitalter. Allerlei Exaltiertheiten sowie die brillante Imitation verschiedener Sprachstile ergänzen diese Parodie einer Biografie zu einem pittoresken Sittengemälde der englischen Gesellschaft seit dem Elisabethanischen Zeitalter.
Interpretationsansätze
- Das Hinterfragen von Geschlechterrollen ist eines der zentralen Themen des Romans. Die Autorin spielt bewusst mit den Geschlechterstereotypen „männlich“ und „weiblich“. Diese Zuteilungen erweisen sich als kulturell bedingt, als historisch variabel und daher durchaus veränderbar.
- In Orlando, einem kritischen Sittengemälde einer repressiven Zeit, erscheint die Androgynität als Lebenskonzept (androgyn = zwittrig). Sie bietet einen Ausweg aus den gesellschaftlich bedingten Geschlechterdifferenzen: Nur ein androgyner Typ wie Orlando schafft es, die Differenzen spielerisch in sich zu vereinen. Die Autorin zielt auf die Überwindung geschlechtsspezifischer Hindernisse und auf die Erweiterung des Bewusstseins aufgrund der Emanzipation der Geschlechter.
- Da Orlando als Frau jegliche Rechte und jeglicher Besitz abgesprochen werden, ist die Kritik an der Diskriminierung der Frau im Roman offenkundig. Virginia Woolf ist denn auch eine der Ikonen des Feminismus.
- Die unglaubliche Lebensspanne Orlandos ermöglicht es der Autorin, nach Art eines historischen Romans auf raffinierte Weise die gesamte englische Literatur- und Geistesgeschichte zu rekapitulieren. Die zeitgenössischen viktorianischen Moralvorstellungen werden mithilfe der Figur Orlando ironisch dargestellt.
- Orlando ist auch ein Künstlerroman, denn die Hauptfigur schreibt ununterbrochen. Ebenso wie Virginia Woolf reflektiert Orlando das Verhältnis von Realität und Sprache und lotet die Grenzen der Sprache aus.
- Das Werk ist außerdem ein Entwicklungsroman: Er schildert das Leben eines unreifen Jünglings und dessen Verwandlung in eine Frau, die erst dann erfolgreich ist, als sie die weiblichen und männlichen Aspekte in sich zu vereinen lernt.
Historischer Hintergrund
Die Bloomsburys
Mit dem Tod von Königin Viktoria im Jahr 1901 näherte sich Großbritannien nicht nur seinem Ende als Kolonialmacht, eine Generation von Freidenkern zog auch einen Strich unter diese – in ihren Augen – Ära kultureller Verflachung und engstirniger Moralvorstellungen. Allen voran ist hier die Bloomsbury-Gruppe zu nennen, gegründet von Virginia Woolfs Bruder Thoby Stephen. Dieser Kreis von miteinander befreundeten Intellektuellen traf sich seit 1905 regelmäßig im Londoner Stadtviertel Bloomsbury, dem bevorzugten Quartier einer künstlerischen und literarischen Avantgarde, die sich weder einer Ideologie noch konventionellen moralischen Prinzipien verpflichtet fühlte. So wurden auch gesellschaftspolitische Anliegen diskutiert; neben Künstlern und Literaten war beispielsweise auch der Nationalökonom John Maynard Keynes Mitglied des Zirkels. Besonders die stereotype Zuordnung der Geschlechterrollen wurde infrage gestellt, stattdessen engagierte man sich für Selbstbestimmung und die Akzeptanz verschiedener Lebensformen. Bloomsbury war die schrille Opposition zum viktorianischen Zeitgeist, wie er bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hineinwirkte.
Entstehung
Nach der Vollendung ihres Romans Zum Leuchtturm im Jahr 1927 war Virginia Woolf, wie oft nach Phasen intensiver Arbeit, am Ende ihrer Kräfte. Sie brauchte eine Ruhepause – und begann gleichwohl mit ihrer Arbeit an Orlando, als Erholung sozusagen. „Ich habe dieses Buch schneller als irgendein anderes geschrieben: & es ist ein einziger Witz; & doch heiter & schnell lesbar, glaube ich; Ferien eines Schriftstellers“, schrieb sie in einem Brief. Das Verfassen dieser fiktionalen Biografie fiel in die Zeit der leidenschaftlichen Beziehung zwischen Virginia und Vita Sackville-West; die Autorin wollte ihrer Freundin ein literarisches Denkmal setzen. Die Genealogie Orlandos ist an ein Buch von Vita Sackville-West angelehnt, in dem diese ihren eigenen Familienstammbaum auflistet. So überrascht es auch nicht, dass etliche Details zwischen Vitas und Orlandos Leben übereinstimmen: Eine russische Jugendliebe gab es auch in Vitas Leben, die Erzherzogin hat wirklich existiert, und Vitas Schloss war das Vorbild für Orlandos Residenz. Virginia Woolf hatte bei Vita um Erlaubnis gebeten, ihr Leben und ihren Charakter zum Vorbild nehmen zu dürfen, wofür diese begeistert ihre Zustimmung gab. Mit dem Text, der auch die Biografie als Gattung revolutionieren sollte, konnte sich Virginia Woolf ihre Freundin gewissermaßen „aneignen“, was im wirklichen Leben aufgrund der zahlreichen Affären Vitas unmöglich gewesen wäre.
Die Anliegen der Frauen sind ein wichtiges Thema in Virginia Woolfs Schreiben. Sie erfuhr die dunkle Seite der viktorianischen Geisteshaltung am eigenen Leib: die Heuchelei der so genannten Oberschicht und die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts bis hin zum sexuellen Missbrauch durch ihre beiden Halbbrüder. Beeinflusst wurde Virginia Woolf auch von Henri Bergsons Vorstellung von der Zeit, die mal schneller und mal langsamer fließe und nur durch unmittelbare Erfahrung und Intuition, also nicht rein wissenschaftlich, erfassbar sei. Außerdem schließt sie an Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit an: Die objektiv messbare Zeit wird dort dem subjektiven Zeitempfinden gegenübergestellt.
Wirkungsgeschichte
Virginia Woolf ging es nie um feministische Positionen allein, sondern stets um die Durchsetzung humanistischer Grundsätze, nie um die Unterdrückung des einen oder anderen, sondern um Emanzipation beider Geschlechter. Dennoch wird Orlando oft als feministischer Roman gedeutet, und er gilt als wichtiges Grundlagenwerk für die feministische Forschung. Häufig wird er herangezogen, um für ein weibliches Selbstbewusstsein zu plädieren. Orlando bezieht sich sehr stark auf das Leben Vita Sackville-Wests, und die Leser in England waren mit den Mitgliedern der Oberschicht genug vertraut, um sofort die Parallelen zu erkennen. Darin liegt auch der finanzielle Erfolg des Romans begründet, denn für alle, die sich für die Details des englischen Adels interessierten, gehörte dieses Werk zur Pflichtlektüre.
Sally Potter verfilmte den Roman 1992 und führte die Handlung über 1928 hinaus in die Gegenwart. Tilda Swinton wurde als Idealbesetzung der androgynen Titelrolle hochgelobt. Der deutsche Romancier Wolf Wondratschek stellte den Roman in der Zeit als Jahrhundertbuch vor: „Orlando ist ein unwiederholbarer Glücks- und Einzelfall.“
Über die Autorin
Virginia Woolf wird am 25. Januar 1882 in London als Adeline Virginia Stephen geboren. Die junge Virginia besucht keine Schule, sondern wird zu Hause von ihrem Vater unterrichtet und hat Zugang zu dessen umfangreicher Bibliothek. In dieser Zeit reift in ihr der Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Doch zunächst führen einige Todesfälle in ihrer Familie dazu, dass Virginia mehrere Nervenzusammenbrüche erleidet: Als sie 13 ist, stirbt die Mutter, zwei Jahre darauf die Halbschwester und neun Jahre später der Vater. 1906 stirbt ihr ältester Bruder Thoby an Typhus. Virginia bleibt im von Thoby gegründeten Bloomsbury-Zirkel aktiv und beginnt, Kritiken für Zeitschriften und Zeitungen zu schreiben. Nachdem der Schriftsteller Leonard Woolf ihr Anfang 1912 einen Heiratsantrag gemacht hat, erkrankt sie erneut psychisch. Vier Monate später nimmt sie den Antrag an, versucht aber schon kurz nach der Heirat, sich das Leben zu nehmen. Ihre Ehe beschreibt sie dennoch als glücklich. Leonard erweist sich als intellektuell ebenbürtiger, rücksichtsvoller Ehemann, der für ihre gelegentlichen Affären mit Frauen Verständnis aufbringt. 1915 erscheint Woolfs erster Roman Die Fahrt hinaus (The Voyage Out). Zwei Jahre später gründet das Ehepaar einen eigenen Verlag, Hogarth Press. Woolf verabschiedet sich ganz von konventionellen literarischen Formen und experimentiert in Jacobs Zimmer (Jacob’s Room, 1922) und Mrs Dalloway (1925) mit der Technik des inneren Monologs. Den humorvollen Roman Orlando von 1928 widmet sie ihrer Geliebten Vita Sackville-West. Der 1929 erschienene Aufsatz Ein eigenes Zimmer (A Room of One’s Own), in dem sie sich mit den Arbeitsverhältnissen von Schriftstellerinnen beschäftigt, wird später zu einem Klassiker der Frauenbewegung. Trotz immer wiederkehrender schwerer Depressionen arbeitet sie weiter an ihrem umfangreichen Werk. Am 28. März 1941 ertränkt sie sich im Fluss Ouse in Sussex. In ihrem Abschiedsbrief an Leonard schreibt sie: „Alles, außer der Gewissheit deiner Güte, hat mich verlassen. Ich kann dein Leben nicht länger ruinieren. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir gewesen sind.“
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