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Philosophie der symbolischen Formen

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Philosophie der symbolischen Formen

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Was ist drin?

Verstehen, wie wir die Welt verstehen.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Eine Kulturphilosophie der Erkenntnis

Der Titel Philosophie der symbolischen Formen überschreibt nicht nur das Hauptwerk des deutsch-jüdischen Philosophen Ernst Cassirer, er bezeichnet inzwischen sein gesamtes Denken: eine selbstbewusste Kulturphilosophie, die Sprache und Wissenschaft, aber auch Kunst, Religion und Mythos sowohl in systematischer wie in historischer Hinsicht untersucht. Dabei geht es um nicht weniger als eine Neubegründung der Geisteswissenschaften. Nachdem Cassirer den engen Fokus der Erkenntnistheorie auf die exakten Wissenschaften aufgegeben hatte, stand er vor der Aufgabe, alle Formen des Verstehens und Interpretierens zu untersuchen, die die menschliche Kultur hervorgebracht hat. Mit seinem dreibändigen Hauptwerk aus den 1920er-Jahren legte er die Grundlage für dieses Vorhaben. Alle menschliche Erfahrung wird darin als symbolische Tätigkeit interpretiert, die das konkret sinnlich Wahrnehmbare mit Sinn und Bedeutung erfüllt. Ein ambitioniertes, weitsichtiges und ideenreiches Grundlagenwerk der Kulturphilosophie.

Take-aways

  • Philosophie der symbolischen Formen ist das Hauptwerk Ernst Cassirers, mit dem dieser internationale Bekanntheit erlangte.
  • Inhalt: Die Erkenntnistheorie muss über die engen Grenzen der exakten Naturwissenschaften hinausgehen und alle Arten von Welterkenntnis erfassen. Diese können als Pluralität symbolischer Formen geordnet werden: Sprache, Mythos, Kunst, Religion, aber auch Technik oder Moral. Sie vermitteln uns die Welt, indem sie Wahrnehmungen prägen und mit Bedeutungen belegen.
  • Das Werk ist ein Hauptwerk der Kulturphilosophie, die Ernst Cassirer mit begründete.
  • Es besteht aus drei Bänden und erschien von 1923 bis 1929.
  • Cassirer war einer der ersten Philosophen, der Erkenntnisse der Ethnologie und der empirischen Linguistik heranzog.
  • Hierzu regte ihn wohl seine Tätigkeit in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg an, die über ein reiches ethnografisches und linguistisches Archiv verfügte.
  • Mit der Philosophie der symbolischen Formen versuchte er eine methodische Begründung der Geisteswissenschaften.
  • Die symbolischen Formen sind laut Cassirer verschiedenartig, aber gleichwertig.
  • Das Werk wird in vielen akademischen Bereichen bis heute gelesen, von der Sprachphilosophie oder Kunstgeschichte bis zur Systemtheorie oder Theologie.
  • Zitat: „Die Kritik der Vernunft wird (…) zur Kritik der Kultur.“

Zusammenfassung

Kulturtheorie als System geistiger Ausdrucksformen

Die Erkenntnistheorie konzentriert sich seit jeher vor allem auf die exakten Naturwissenschaften und die Mathematik. Die Geisteswissenschaften werden von ihr weitgehend ignoriert. Sie beschäftigen sich nicht mit der Definition von Objekten, sondern mit der subjektiven, geistigen Gestaltung der Welt. Deshalb muss der Fokus der Erkenntnistheorie stark erweitert werden und alle Formen des Verstehens und Begreifens erfassen, klassifizieren und in ein Gesamtsystem einordnen.

„(…) stellte sich mir (…) heraus, daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht.“ (Bd. I, S. VII)

Dass Erkenntnis nicht einfach die gegebene Wirklichkeit abbildet, dass sie nicht bloß aus Tatsachen Gesetze ableitet und von diesen wieder auf Grundsätze schließt, ist eine alte Einsicht, die sich schon bei Platon findet und seither immer wieder in Reaktion auf realistische Theorien erneuert wird. Der menschliche Geist registriert nicht bloß passiv Eindrücke, sondern prägt der wahrgenommenen Welt Formen, Bedeutungen und universale Gesetze auf und verleiht ihr damit erst Sinn. Es gibt viele verschiedene Formen solcher geistigen Gestaltung: Sprache, Kunst, Wissenschaft, aber auch Mythos und Religion. Sie alle müssen als Gebiete der Kultur aufgefasst werden. Der Begriff der Kultur impliziert, dass alles Sein an ein Tun, an eine Produktion gebunden ist, und die verschiedenen Erkenntnisformen erkennen ihren Gegenstand eben nur, insofern sie sich auf ihre je eigene Weise auf ihn beziehen, ihn dadurch formen und erkennbar machen.

Das Symbol

Für die wissenschaftliche Erforschung dieser Vielfalt geistiger Formen stellt sich das Problem der Systematisierung: Lassen sich die unterschiedlichen Gebiete der Kultur vergleichen? Gibt es etwas, das sie trotz aller Differenzen teilen? Ja, sie alle lassen sich als Formen des Symbolisierens, als Zeichensysteme beschreiben. Jedes Medium, das der Vermittlung zwischen Geist und Welt dient, ist ein Zeichen. Jedes Zeichen ist selbst sowohl ein sinnliches Phänomen (etwa der stimmliche Laut beim Wort) als auch ein geistiger Inhalt (eine Bedeutung, ein Sinn). Es ermöglicht einerseits die Distanzierung, die Abstraktion vom reinen, konkreten Sinnlichen und andererseits den Ausdruck des Geistes im Sinnlichen.

„Die Kritik der Vernunft wird (…) zur Kritik der Kultur.“ (Bd. I, S. 9)

Doch wie ist es überhaupt möglich, dass ein sinnliches Phänomen eine Bedeutung erhalten kann? Jede Sinneswahrnehmung fügt sich sofort in das Bewusstseinsganze ein, wo sie Sinn erhält. Diese Einheit des Bewusstseins wird durch elementare Beziehungsformen hergestellt: Raum, Zeit, Kausalität und die Differenz zwischen Ding und Eigenschaft. All das sind ursprüngliche Formen der Repräsentation, durch sie stellt sich etwas durch etwas anderes dar. Die unterschiedlichen Elemente ergänzen und erklären sich gegenseitig. Diese „natürliche“ Symbolik, die Anlage zur Repräsentation im Bewusstsein selbst, ist die Bedingung für eine „künstliche“ Symbolik, also den bewussten Zeichengebrauch, etwa in der Sprache.

Die Sprache

Die Geschichte der Philosophie bietet, mit Ausnahme Wilhelm von Humboldts, kaum Protagonisten einer systematischen Untersuchung von Sprache. Viel zu skeptisch stand die Philosophie bislang einer solche Untersuchung gegenüber. Dabei bietet das empirische Material der Sprachwissenschaften einen aufschlussreichen Fundus an Sprachformen – die allerdings in ihrem allgemeinen Zusammenhang betrachtet werden müssen. Dabei lässt sich eine historisch-systematische Entwicklung der symbolischen Form entdecken: In der Phase des mimischen Ausdrucks ist das Zeichen noch stark an den sinnlichen Eindruck dessen geknüpft, was bezeichnet werden soll. So gibt es in der Sprache des Volkes der Ewe zahllose nachbildende Adverbien für verschiedene Formen des Gehens. In der folgenden Phase des analogischen Ausdrucks treten Ding und Zeichen auseinander, um sich dann im eigentlich symbolischen Stadium ganz voneinander zu lösen. Nun erst wird aus dem konkreten Bezeichnen ein allgemeines Bedeuten. Die Sprache ist jetzt in der Lage, alle Sinnlichkeit zu überwinden und zu reinen Strukturen und Relationen zu abstrahieren. Typisch für dieses Entwicklungsstadium ist die Verwendung der Kopula „ist“, um reine Verknüpfungen darzustellen, sowie die Differenzierung in verschiedene Wortarten und Satzteile, die erst im Satzganzen Sinn ergeben.

Mythisches Denken

Als symbolische Form ist der mimische Ausdruck nicht bloß eine Sprach-, sondern eine Lebensform, eine umfassende Art, die Welt zu begreifen: mythisches Denken. Historisch gesehen stellt dieses die früheste bewusste Reflexion der Welt als Ganzes dar und muss somit als erste Form der Erkenntnis angesehen werden. Das ist nicht selbstverständlich, denn Philosophie und Wissenschaft haben sich seit ihrem Beginn immer als Kritik am mythischen Denken verstanden. Dies ist in der Sache zwar richtig, denn die Erkenntnis muss den Mythos letztlich auflösen, aber in der Ausführung falsch, denn sie darf dies nicht durch Ignoranz tun, sondern muss den Mythos vielmehr zu analysieren und zu verstehen versuchen. Für das Verständnis aller symbolischen Formen ist es wichtig, diese Urform des Denkens zu kennen. Leider bietet die Philosophie für diese Arbeit bislang keinen methodischen Leitfaden. Die folgenden Überlegungen können also nur den Beginn einer Arbeit darstellen, die Völkerkunde und Religionswissenschaft weiter ausführen müssen.

„Der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der Religion oder der Kunst ist (…)“ (Bd. I, S. 22)

Was zeichnet den Mythos als spezifische symbolische Form der Erfahrung aus? Er gestaltet die Dinge und formt ihre vielfältigen und vielschichtigen Beziehungsmöglichkeiten. Damit bezieht er sich stets auf das Sein als Ganzes, den Kosmos. Typisch ist seine Unterscheidung zwischen dem Außergewöhnlichen und dem Alltäglichen. Daran wird bereits die wichtige soziale und praktische Dimension des Mythos deutlich: Er organisiert und ordnet die Gesellschaft. Genauso formt er aber auch Raum und Zeit, teilt sie in sakrale oder profane Orte und Zeiten ein. Die Ordnungen unterschiedlicher Bereiche entsprechen einander im Mythos stets. So kann sich etwa die Aufteilung des Raumes auf jene der Jahreszeiten, der Farben oder Berufe, aber auch des Körpers übertragen.

Religion und Kunst

Wie die Philosophie geht auch die Religion aus dem Mythos hervor, indem sie sich kritisch von ihm absetzt. Diese Form der dialektischen Evolution, in der sich jede Form aus einer früheren Form durch eine Absetzbewegung konstituiert, kennzeichnet die allgemeine Entwicklungslogik der symbolischen Formen. Somit bleibt in den späteren Formen immer etwas aus dem je vorangegangenen Stadium erhalten. Im mythischen Denken sind Wörter und Dinge noch nicht unterschieden, weshalb Erstere magische Wirkungen haben und die Realität verändern können. In den Religionen bewahren ausgewählte, heilige Wörter diese mythischen Kräfte. Auch die Parallelen zwischen heidnischen und christlichen Symbolen oder das Bildverbot im alten Judentum und in den Religionen Persiens beweisen: Religion bedient sich der Bilder des Mythos, aber auf kritische Weise. Die Kritik kommt daher, dass die Religion eine neue Ausdrucksform findet, den analogischen Ausdruck, in dem Sinn und Bild auseinandertreten. Insofern der Übergang der Inhalte zwischen Mythos und Religion also fließend ist, liegt ihr eigentlicher Unterschied im Grad des Bewusstseins von der Differenz zwischen Bild und Sache. Sinn gibt es zwar nur in Bildern, doch nun geht er nicht mehr restlos in diesen Bildern auf, sondern wird ein Stück weit unabhängig von ihnen. Die Religionen charakterisiert aus diesem Grund ein tiefer Spalt zwischen Sinnlichkeit und Bildlichkeit.

„Die Erkenntnis wie die Sprache, der Mythos und die Kunst: sie alle verhalten sich nicht wie ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Gegebenen (…) einfach zurückwirft, sondern sie sind (…) die eigentlichen Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge aller Gestaltung.“ (Bd. I, S. 24)

Die Kunst kann als Weiterentwicklung der symbolischen Problematik der Religion verstanden werden, denn sie zeigt einen Ausweg aus dem Riss zwischen Bild und Sinn an. Das Kunstwerk postuliert nämlich, dass sein Sinn nicht außerhalb liegt, sondern nur in der Form des Werkes selbst zu finden ist. Dieser Zugewinn an Reflexionsdistanz in der Abfolge von Mythos, Religion und Kunst ist ein Fortschritt der Geschichte.

Das Sein an sich

Bisher wurden die symbolischen Formen als Gestaltungsweisen oder Präsentationsarten des Seins dargestellt. Doch was ist dieses Sein an sich, die wirklich wahre Welt? Vor allem die Naturwissenschaft hat im Lauf ihrer Geschichte den Mythos, die Sprache und die unmittelbare Anschauung überwunden, um sich dem realen, materiellen Grund des Seins anzunähern. Doch gerade die moderne Quantenphysik zeigt auf, wie vage und unterbestimmt diese Unmittelbarkeit bleibt. Man muss feststellen, dass die Frage nach dem wirklich wahren Sein letztlich weder Erkenntnislehre noch Metaphysik, weder Spekulation noch Erfahrung beantworten konnten. Für die Philosophie der symbolischen Formen ergibt sich daraus der Schluss, dass man – wie Kant bereits wusste – nicht jenseits der symbolischen Formen denken kann, dass das Sein immer nur durch die unterschiedlichen Zeichensysteme unserer Kultur zugänglich ist. Daher macht sie sich die Erforschung der Systematik dieser vielen verschiedenen Arten des Weltverständnisses zur zentralen Aufgabe.

Die symbolische Prägnanz

So nützlich es für die Analyse sein mag, von Form und Materie der Wahrnehmung zu sprechen, also zwischen einer geistigen und einer sinnlichen Ebene der Realität zu unterscheiden – in der Alltagserfahrung des Bewusstseins sind die beiden Aspekte immer vereint. Die Unterscheidung ist nur insofern sinnvoll, als damit die relative Unabhängigkeit von Form und Materie betont wird. Materie muss zwar immer eine Form besitzen – diese ist aber variabel. Unser Sehen etwa ist nicht ein immer gleicher, absoluter Zustand, sondern immer durch Kontexte und Sinnwelten beeinflusst. Deshalb nehmen wir selbst eine so einfache Zeichnung wie eine Wellenform völlig anders wahr, wenn wir sie als subjektiven Ausdruck oder als mathematisches Gebilde, als mythisches Zeichen oder ästhetische Figur betrachten. Daran wird klar, dass es keine Differenz zwischen einem vorgängigen materiellen Substrat und einer sekundären geistigen Bearbeitung gibt. Vielmehr ist die Wahrnehmung selbst bereits geistig artikuliert. Die Welt, wie wir sie beobachten können, ist nicht bloß das Ergebnis unserer physiologischen Wahrnehmungsorgane, sondern immer symbolisch eingefärbt und durch einen in der Welt selbst nicht vorhandenen Sinn geformt. Diese Verwobenheit von Form und Materie lässt sich als „symbolische Prägnanz“ bezeichnen.

Drei Stufen der Symbolisierung

Damit wird sowohl der Symbol- wie der Sprachbegriff stark ausgedehnt. Ein Symbol ist letztlich alles, was das Sinnliche mit Sinn füllt. Sprache geht weit über Wörter hinaus und tritt bereits auf der Ebene der unmittelbaren Wahrnehmung auf. Es ist möglich, drei Stufen der Symbolisierung zu bestimmen, die unsere Wahrnehmung einer gegliederten, artikulierten Wirklichkeit ermöglichen: die Ausdrucks-, die Darstellungs- und die Bedeutungsfunktion. Jede dieser Formen markiert auch eine historische Entwicklungsphase und eine besondere Idee des Geistigen.

  • Im Ausdruck offenbart sich eine Erscheinung durch ihre bloße sinnliche Präsenz als beseelt. Dies ist die unmittelbarste und erste Ebene, auf der das Bewusstsein – noch vor aller begrifflichen Interpretation – die Wirklichkeit wahrnimmt. Psychisches und Physisches, Subjekt und Objekt, Bild und Sache, Zeichen und Bezeichnetes sind auf dieser Ebene noch nicht getrennte Kategorien, sondern zwei Momente einer lebendigen Einheit. Die Frage nach dem Ding- und Kausalitätsverhältnis zwischen beiden, die die gesamte Geschichte des Denkens begleitet, tritt erst im nächsten Stadium auf.
  • Eine Darstellung besteht immer aus zwei verschiedenen Elementen: etwas hier und jetzt anwesendes Besonderes und eine abwesende, ideelle Allgemeinheit oder Wesenheit, zu der das Besondere gehört. Die Funktion des Darstellens ist die eigentliche Domäne der Sprache. Entscheidend hierfür ist der Prozess der „Merkmalsetzung“: Ein sinnliches Detail wird als Eigenschaft eines Ganzen markiert und damit zu dessen Zeichen. Alles Wiedererkennen setzt diese Repräsentation voraus. Sie garantiert die Identität von Begriffen, aber auch die Konstanz der Welt. Denn sie erschafft eine Art objektiver Zeit, die über die ständig verlöschenden Augenblicke reiner Erlebniszeit hinausgeht. Eine wichtige Aufgabe von Sprache ist demnach die Beschreibung objektiver Sachverhalte; sie bleibt ständig an die konkrete Anschauung zurückverwiesen.
  • Das Stadium der Bedeutung ist erreicht, wenn die Sprache alle Rückbezüge zur sinnlichen Anschauung aufgibt und eigentlich symbolisch wird. Das Symbol muss nun keine Ähnlichkeit mit der sinnlichen Welt mehr aufweisen, sondern kann als eigenständige geistige Produktion gesehen werden. An diesem Punkt erst kann sich die eigentliche wissenschaftliche Erkenntnis der Welt entwickeln und ihre abstrakten Strukturen darstellen.

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Aufbau und Stil

Der Umfang von Ernst Cassirers Hauptwerk beeindruckt ebenso, wie er abschreckt: Über drei Bände entfaltet sich die Begründung einer neuen philosophischen Erkenntnistheorie, noch dazu in der akademischen Sprache der 1930er-Jahre. Dabei ist Cassirers Großprojekt durchaus klar und nachvollziehbar aufgebaut – und weniger schwer zu lesen, als es womöglich scheint. Im ersten Band, „Die Sprache“, findet sich neben einer allgemeinen Bestandsaufnahme und Einführung in das Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen auch gleich die Analyse ihrer exemplarischsten Form, der Sprache. Der zweite Band, „Das mythische Denken“, stellt am Beispiel der Entwicklung von Philosophie, Kunst und Religion aus dem Mythos weitere symbolische Formen vor. Dabei werden Cassirers theoretische Überlegungen durch eine Fülle von Beispielen aus vergangenen Zeiten und fernen Kulturen anschaulich und spannend. Im dritten Band schließlich, „Phänomenologie der Erkenntnis“, untersucht Cassirer die naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt, aber auch unsere subjektive Alltagserfahrung. In allen drei Bänden unternimmt Cassirer historische Exkursionen, stellt detailliert Denker und Positionen dar und bewertet sie vor dem Hintergrund seines eigenen Ansatzes. Dabei wird beim Leser wenig Vorkenntnis vorausgesetzt, Cassirer leitet auch den mit Philosophie oder Physik wenig Bewanderten relativ problemlos durch das mitunter schwierige Fahrwasser – diese Exkurse verlangen dem Leser aber dennoch Geduld und einen langen Atem ab.

Interpretationsansätze

  • Cassirer setzt Kants kritische Philosophie fort und entwirft eine Philosophie der Erkenntnis, die weder dem Empirismus noch dem Idealismus folgt und die alle Formen des menschlichen Verstehens einschließt.
  • Mit der Pluralität der symbolischen Formen überführt er die traditionelle Erkenntnistheorie in eine Kulturphilosophie. Cassirer war einer der Ersten, der diese heute fest etablierte Richtung der Philosophie einschlug.
  • Obwohl sie in einer Fortschritts- und Entwicklungslogik auseinander hervorgehen, betont Cassirer doch auch die Eigenständigkeit der symbolischen Formen. Alle symbolischen Formen sind nach seiner Theorie gleichberechtigt, sie lassen sich nicht vergleichen oder hierarchisieren.
  • Von ungebrochener Aktualität ist Cassirers Anti-Essenzialismus. Dieser geht auf seine Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 zurück und besagt, dass die Gegenstände naturwissenschaftlichen und mathematischen Denkens nicht Dinge sind, sondern Relationen.
  • Cassirers relationale Vorstellung von Sprache nimmt die linguistische Wende vorweg, die ab den 1960er-Jahren die Geisteswissenschaften zu dominieren begann und gemäß der alles Denken im Medium der Sprache stattfindet.
  • In seinem Spätwerk interpretiert Cassirer die Philosophie der symbolischen Formen in ihren anthropologischen Dimensionen. Dabei schlägt er sie als Möglichkeit einer Bestimmung des Menschen vor, die über den Biologismus hinausgeht.
  • Darin ist, wie auch im Anti-Essenzialismus und im Relativismus der symbolischen Formen, eine implizite politische Positionierung Cassirers gegenüber dem Gedankengut des Faschismus zu sehen. Der Nationalsozialismus etwa propagierte unter anderem Vorstellungen von biologischen Substanzen und nationalen Substraten.

Historischer Hintergrund

Die „Goldenen“ 1920er-Jahre in Deutschland

Der Erste Weltkrieg ließ Deutschland in einem desolaten Zustand zurück. Kriegsbedingte Traumata, Armut und Arbeitslosigkeit machten der Bevölkerung ebenso zu schaffen wie die fragile politische Situation und die immer schneller anwachsende Inflation. Ab 1924 begann allerdings eine Phase der Normalisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die USA gaben im Dawes- und später im Young-Plan den Reparationsforderungen an Deutschland einen realistischen Rahmen, wodurch sich die deutsche Wirtschaft erholte und sogar in eine Konjunkturphase eintreten konnte. Dadurch gewann die junge Demokratie der Weimarer Republik nach anfänglichen Wirren an Stabilität. Neue Medien wie Fernsehen, Radio und Tonträger begründeten die auf Konsum und Freizeitgenuss ausgerichtete Massenkultur des 20. Jahrhunderts. Kunst und Wissenschaft erlebten in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre eine Blüte, die sich durch Vielfalt, Ideenreichtum und Innovation auszeichnete.

Diese Phase der Prosperität und Stabilität, später „die Goldenen Zwanziger“ genannt, währte allerdings nicht lange. Der Börsencrash und die folgende Weltwirtschaftskrise von 1929 brachten die Demokratie ins Wanken. Die Politik konnte die schweren Folgen der Wirtschaftskrise nicht abfedern, verlor Rückhalt in der Bevölkerung und war vom schnellen Aufstieg der militanten NSDAP überfordert.

Entstehung

Ernst Cassirer wurde 1919 als Professor für Philosophie an die gerade gegründete Universität Hamburg berufen. Seine vorangegangene Arbeit im Bereich der Erkenntnistheorie hatte ihn zu der Einsicht geführt, dass in der Philosophie auch nichtnaturwissenschaftliche Formen der Erkenntnis stärker berücksichtigt werden sollten – zumal das wissenschaftliche Ideal der Mathematik und Physik ohnehin kaum als methodische Grundlage für die Geisteswissenschaften anwendbar war. Cassirer hatte bereits erste Ansätze zur Erweiterung des philosophischen Erkenntnisbegriffs in Richtung Mythos oder Religion unternommen. Doch erst in Hamburg fand er das notwendige Material vor, um diese Ansätze systematisch ausarbeiten zu können: in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, die über ein reiches und gut erschlossenes ethnografisches und linguistisches Archiv verfügte, mit einem Schwerpunkt auf antiker Mythologie. Cassirers Mitarbeit in dieser Bibliothek sowie sein intensiver Austausch mit ihrem Gründer Aby Warburg hatten maßgeblichen Anteil an der Entstehung der Philosophie der symbolischen Formen. Damit war Cassirer einer der ersten Philosophen, der empirische Sprach- und Kulturforschung in sein Denken einband.

Der erste Teil des Projekts war im Frühjahr 1923 abgeschlossen. Der zweite Band erschien 1925. Der dritte Band war bereits 1927 fertig, wurde aber erst zwei Jahre später veröffentlicht, da Cassirer noch ein Abschlusskapitel plante, mit dem er sich innerhalb der zeitgenössischen Philosophielandschaft verorten wollte. Schließlich strich er dieses Kapitel jedoch wieder und veröffentlichte es als eigenständiges Werk. Parallel zum dreibändigen Hauptwerk Cassirers entstand eine Vielzahl von kürzeren ideengeschichtlichen Arbeiten, von denen etwa Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) und Die Philosophie der Aufklärung (1932) als wichtige Erweiterungen und Erläuterungen der Philosophie der symbolischen Formen gelten.

Wirkungsgeschichte

Die inhaltliche Spannweite und innovative Ambition der Philosophie der symbolischen Formen verschaffte Cassirer weit über Deutschland hinaus Anerkennung. Doch wie bei vielen deutsch-jüdischen Intellektuellen wurde auch Cassirers Wirkung zunächst durch den Nationalsozialismus nachhaltig gehemmt. Erst in den späten 1980er-Jahren erwachte die philosophische Auseinandersetzung mit Cassirer neu – und erlebte einen bis heute anhaltenden Boom. Im Zentrum dieser Forschung steht die Frage, wie die vielen unterschiedlichen Facetten, Abschnitte und Schwerpunkte des Cassirerʼschen Denkens zu einem Ganzen zusammengefügt werden können.

Explizite Anschlüsse an Cassirer findet man im Werk von Susanne K. Langer, die etwa die biologischen Grundlagen von Cassirers Theorien untersucht, oder von Nelson Goodman, der der welterschließenden Funktion von Zeichen nachgeht. Cassirer wird heute als Vorläufer der zeitgenössischen Kulturphilosophie, aber auch der Differenzphilosophie betrachtet. Im Zusammenhang mit der linguistischen Wende gilt er als Wegbereiter der modernen Sprachphilosophie sowie als Vorläufer des Strukturalismus. Auch außerhalb der Philosophie erwies sich Cassirers Denken als sehr wirksam. So erschloss etwa Erwin Panofsky Cassirer für die Kunstgeschichte; aber auch die Systemtheorie oder die Theologie haben aus dem reichen Ideenfundus der Philosophie der symbolischen Formen geschöpft.

Über den Autor

Ernst Cassirer wird am 28. Juli 1874 in Breslau als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Breslau, heute in Polen, gehörte damals zur deutschen Provinz Schlesien. Zunächst studiert Cassirer Rechtswissenschaft, deutsche Literatur und Philosophie in Berlin, wechselt aber 1896 nach Marburg, um sich dort Hermann Cohen und dem Neukantianismus der Marburger Schule anzuschließen. 1899 promoviert er bei Cohen über die Erkenntnistheorie Descartesʼ, 1906 habilitiert er sich in Berlin über zeitgenössische deutsche Erkenntnistheorie. Mit der bis heute stark rezipierten Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff etabliert er sich 1910 in der erkenntnistheoretischen Debatte in Deutschland. 1902 heiratet er seine Cousine Toni Bondy, das Paar bekommt drei Kinder. Cassirer arbeitet als Privatdozent in Berlin, bis er 1919 als Professor für Philosophie an die Universität Hamburg gerufen wird. In der Folge wendet er sich der Kulturphilosophie zu, verfasst und publiziert während der 1920er-Jahre sein Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erkennt Cassirer schnell die Bedrohlichkeit dieser politischen Entwicklung in Deutschland und flieht noch im März 1933 nach England. Nach zwei Jahren als Gastprofessor in Oxford wechselt er 1939 an die Universität Göteborg. Er nimmt die schwedische Staatsbürgerschaft an und gibt die deutsche auf. 1941 emigriert er in die USA, lehrt zunächst in Yale, ab 1944 an der Columbia University. In dieser Zeit wendet er sich der Anthropologie zu (Was ist der Mensch?, 1944), entwickelt eine eigene Sozialphilosophie (Vom Mythus des Staates, postum 1946) und versucht, sein Hauptwerk in diesem neuen Horizont weiterzuentwickeln. Am 13. April 1945 stirbt er unerwartet an einem Herzanfall.

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