Platon
Protagoras
Artemis & Winkler, 2008
Was ist drin?
Eine antike Talkrunde über tugendhaftes Verhalten und darüber, ob man es anderen beibringen kann.
- Philosophie
- Griechische Antike
Worum es geht
Ist die Tugend lehrbar?
Diese zentrale Frage des Dialogs Protagoras mag antiquiert anmuten: Die Tugend als solche ist heute eher selten Gesprächsthema. Betrachtet man die einzelnen Passagen des Protagoras jedoch genauer, entdeckt man eine Fülle von Detailfragen, die die Philosophie in den Jahrhunderten nach Platon beschäftigt haben und die z. T. auch heute noch kontrovers diskutiert werden: Treffen wir unsere Entscheidungen aufgrund von Affekten oder aus Vernunftgründen? Gibt es einen angeborenen Sinn für das Gute? Wo soll politische Bildung stattfinden, in der Schule oder im Elternhaus? Welchen Sinn haben Strafen? Vor dem Hintergrund aktueller Bildungsdebatten erweist sich Platons Protagoras als erstaunlich modernes Werk, das auf feste Antworten verzichtet und an ihre Stelle fruchtbare Denkanstöße setzt. Genauso zeitlos wie der Inhalt ist auch die Form: Platon inszeniert das Gespräch zwischen Sokrates und Protagoras als spannende Diskussionsrunde, die durch die individuellen Charakterzüge der Teilnehmer lebendig wird.
Take-aways
- Protagoras zählt zu den bekanntesten Werken des antiken Philosophen Platon.
- Inhalt: Sokrates und sein Gesprächspartner Protagoras diskutieren darüber, was Tugend ist und ob sie gelehrt werden kann. Dabei stellt Sokrates die zentrale These auf, dass Tugend und Wissen bzw. Weisheit ein und dasselbe sind.
- Protagoras ist ein als Dialog verfasstes, meisterhaft inszeniertes philosophisches Lehrstück.
- Wie in den meisten seiner Werke taucht Platon als Figur nicht auf. Er lässt stattdessen seinen Lehrer Sokrates das Gespräch führen.
- Der Text entstand nach Sokrates’ Tod und gibt eine fiktive Szene wieder, die rund 50 Jahre früher spielt.
- Sokrates’ Gesprächspartner, den Sophisten Protagoras, gab es tatsächlich.
- Die beiden führenden philosophischen Schulen jener Zeit, die Sokratik und die Sophistik, standen sich unversöhnlich gegenüber.
- Während die Sophisten als Weisheitslehrer auftraten und sich als solche bezahlen ließen, stellte sich Sokrates bescheiden als ein nach Weisheit Suchender dar.
- Auch im Protagoras finden die Gesprächspartner zu keiner Einigung – am Ende scheinen sie sogar ihre Positionen vertauscht zu haben.
- Zitat: „Was denn aber ein Sophist ist, da würde ich mich doch wundern, wenn du das wüsstest. Wenn du das jedoch nicht weißt, dann weißt du auch nicht, wem du deine Seele übergibst, nicht ob für eine gute oder für eine schlechte Sache.“
Zusammenfassung
Protagoras ist in der Stadt
Der Philosoph Sokrates trifft seinen Freund Hetairos, der ihn spitzbübisch fragt, ob er sich gerade mit dem schönen Alkibiades getroffen habe. Sokrates gibt das zu. Er habe aber auch den weisen Protagoras aus Abdera besucht und sich mit ihm unterhalten. Hetairos bittet den Freund, von der Begegnung zu berichten. Sokrates erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass er Protagoras aufgesucht hat, und beginnt mit einem überraschenden Besuch:
„Was denn aber ein Sophist ist, da würde ich mich doch wundern, wenn du das wüsstest. Wenn du das jedoch nicht weißt, dann weißt du auch nicht, wem du deine Seele übergibst, nicht ob für eine gute oder für eine schlechte Sache.“ (Sokrates zu Hippokrates, S. 19)
Mitten in der Nacht klopft Hippokrates an Sokrates’ Tür. Er ist ganz aufgeregt, da er gerade erfahren hat, dass der berühmte Sophist Protagoras in der Stadt ist. Hippokrates möchte unbedingt ein Schüler des Weisen werden und bittet Sokrates, mit ihm zu Protagoras zu gehen, um ein gutes Wort für ihn einzulegen. Sokrates schlägt vor, erst einmal darüber zu sprechen, was sich Hippokrates von der Ausbildung bei Protagoras erhofft. Er ist erstaunt zu erfahren, dass Hippokrates sich anscheinend nur wenig Gedanken über seine Entscheidung gemacht hat, sich Protagoras anzuvertrauen und von ihm zu lernen. Bei Lebensmitteln und bei Medikamenten, so führt Sokrates aus, würde man sich ja auch gut überlegen, ob man sie zu sich nehmen solle. Bei der Einnahme von Kenntnissen sei umso mehr Vorsicht geboten, als man sie ja, einmal aufgenommen, nicht wieder loswerden könne. Sokrates und Hippokrates machen sich dennoch auf den Weg zu Protagoras, der für die Dauer seines Aufenthalts im Haus des bekannten Bürgers Kallias lebt. Dort haben sich bereits zahlreiche Schüler und Bewunderer des Sophisten versammelt. Sokrates befremdet das unterwürfige Verhalten der Verehrer nicht wenig. Protagoras wird auf die beiden Neuankömmlinge aufmerksam und fragt nach ihren Wünschen.
Von der Lehrbarkeit der Tugend
Sokrates erzählt von Hippokrates’ Vorhaben, sich Protagoras anzuschließen, und bittet diesen, ihnen darzulegen, was er seinen Schülern beibringe. Protagoras erwidert, er lehre seine Schüler, gute Bürger zu werden, die in der Lage seien, ihre Ansichten überzeugend darzulegen und politische Entscheidungen zu treffen. Sokrates überzeugt das nicht: Er glaubt nicht, dass man diese Dinge lehren kann. Als Argument führt er an, dass bei Volksversammlungen nur in denjenigen Fällen Sachverständige eingeladen werden, in denen es um ein bestimmtes Problem geht, das Fachwissen erfordert, z. B. ein Bauvorhaben. Wenn es sich jedoch um allgemeine Entscheidungen zur Verwaltung der Stadt handelt, kann jeder seine Meinung sagen und an der Beratung teilnehmen. Offenbar glaubt also niemand, dass man für diese Entscheidungen eine besondere Ausbildung benötigt. Ein weiteres Argument sieht er in der Tatsache, dass selbst Menschen aus den oberen Schichten es nicht für nötig befinden, ihre Kinder in diesen Dingen ausbilden zu lassen. Beide Aspekte weisen darauf hin, dass die Bürger Tugenden wie die Gerechtigkeit nicht für lehrbar halten. Sokrates bittet Protagoras daher, ihnen zu erklären, warum er trotzdem der Meinung sei, dass das rechte Verhalten lehrbar sei.
Die Sage von Prometheus und Epimetheus
Protagoras antwortet in Form einer Sage: Vor langer Zeit, kurz nachdem die Götter die sterblichen Wesen erschaffen hatten, erhielten Prometheus und Epimetheus den Auftrag, allen Geschöpfen die Fähigkeiten und Eigenschaften zu geben, die sie zum Überleben brauchten. Epimetheus bat Prometheus, diese Verteilung allein durchführen zu dürfen, und machte sich ans Werk. Er verteilte Schnelligkeit, Stärke und alle weiteren Fähigkeiten und Eigenschaften, bis er eine perfekte Harmonie hergestellt hatte. Bei alldem übersah er jedoch den Menschen, sodass für diesen am Ende keine besonderen Fähigkeiten mehr übrig waren. Als Prometheus nun kam, um sich das Werk anzusehen, bemerkte er die Vernachlässigung des Menschen und ersann eine Möglichkeit, ihm doch noch das Überleben zu sichern. Prometheus stahl die Erfindungsgabe des Hephaistos und der Athene sowie das Feuer, um beides den Menschen zu geben. Auf diese Weise konnten diese überleben. Die Menschen stellten jedoch schnell fest, dass sie am besten leben konnten, wenn sie Gemeinwesen bildeten. Diese Versuche endeten allerdings immer wieder im Chaos, da sie nicht gelernt hatten, sich gegenseitig kein Unrecht zuzufügen. Als Zeus davon erfuhr, beschloss er, die Menschen vor der gegenseitigen Ausrottung zu bewahren, indem er ihnen zusätzlich zu Prometheus’ Gaben auch Recht und Sitte schenkte. Die diesbezüglichen Fähigkeiten sollten gleichmäßig unter allen Menschen verteilt werden, da nur so ein Gemeinwesen existieren konnte. Deshalb, so Protagoras, habe jeder Mensch die Fähigkeit, gerecht und besonnen zu handeln.
Erziehung in Familie und Schule
Es hat sich also gezeigt, dass jeder Mensch grundsätzlich die Fähigkeit zum rechten Handeln besitzt. Dass die Tugend dennoch gelehrt werden kann und soll, will Protagoras mit folgendem Argument beweisen: Sieht ein Mensch die Fehler eines anderen als naturgegeben oder schicksalhaft an, kommt ihm nie in den Sinn, den anderen dafür zu bestrafen. Wenn ein Mensch diese Fehler jedoch durch Übung und Lernen hätte vermeiden können, dann sind die Leute in seiner Umgebung zu Recht erzürnt und bestrafen ihn. Zu der zweiten Art von Fehlern zählen gemeinhin Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit. Die Tatsache, dass unrechtes Verhalten bestraft wird, ist also ein Beweis dafür, dass man das rechte Verhalten für lehrbar hält.
„Das, was er lernen wird, ist vernünftiges Planen hinsichtlich seiner eigenen Angelegenheiten, damit er sein Haus aufs Beste verwalten kann, und auch hinsichtlich der Probleme der Stadt, damit er besonders befähigt ist, politisch zu handeln und zu sprechen.“ (Protagoras über Hippokrates, S. 45)
In Sokrates’ Feststellung, kaum ein Vater lasse seinen Sohn im rechten Verhalten ausbilden, sieht Protagoras kein Anzeichen dafür, dass dieselben Männer nicht an eine Lehrbarkeit des rechten Verhaltens glauben. Protagoras ist überzeugt, dass diese Ausbildung in der gesamten Kindheit und Jugend stattfindet, indem die Kinder immer wieder innerhalb der Familie und in der Schule zurechtgewiesen und zum rechten Verhalten hingeführt werden. Und nach der Schulzeit müssen sie sich, wenn sie in der Gemeinschaft der Bürger einen guten Ruf genießen wollen, weiter mit der Frage nach dem rechten Verhalten und mit den Gesetzen der Gemeinschaft beschäftigen. Der Mensch wird also sein Leben lang zum rechten Verhalten erzogen. Nun gibt es allerdings Personen, die in diesen Fragen etwas besser geschult sind als andere. Ein solcher sei er, Protagoras, selbst, und sein Angebot bestünde darin, seine Schüler auf dem Weg, anständige Menschen zu werden, zu fördern und zu begleiten.
Diskussion über die Begrifflichkeiten
Sokrates zeigt sich beeindruckt von der langen und geschliffenen Rede seines Gesprächspartners und gibt vor, überzeugt worden zu sein. Dann fallen ihm jedoch noch einige Detailfragen ein, die er geklärt haben möchte. Auf Sokrates’ Fragen hin stellt sich heraus, dass Protagoras glaubt, nicht jeder Mensch besitze alle Teile des rechten Verhaltens. Dabei muss es sich also um unterschiedliche Tugenden handeln. Weiter wird angenommen, dass Gerechtigkeit bedeutet, gerecht zu handeln, Gottesfurcht bedeutet, gottesfürchtig zu handeln usw. Daraus folgt allerdings, wenn man bei der Annahme bleibt, alle diese Tugenden seien voneinander verschieden, dass Gottesfurcht eben nicht gerechtes Handeln heißt. Sokrates führt diesen Schluss noch ein Stück weiter und übersetzt Gottesfurcht mit „nicht gerecht sein“. Das widerspricht jedoch dem gesunden Menschenverstand. Also müssen Gottesfurcht und Gerechtigkeit doch einander ähnlich sein. Protagoras lenkt ein: Natürlich können Dinge in mancher Hinsicht verschieden und in anderer wieder ähnlich sein, ohne dass sie genau gleich oder vollkommen verschieden sind. Sokrates belässt es dabei und wendet sich einem anderen begrifflichen Problem zu – dem der Gegensätze. Auch in diesem Teil der Diskussion gelingt es ihm, sein Gegenüber in Widersprüche zu verwickeln, was diesem natürlich gar nicht gefällt.
Über die Regeln der Diskussion
Nach einer längeren Ausführung Protagoras’ zum Thema Nützlichkeit meldet sich Sokrates wieder zu Wort. Er möchte neue Regeln für die Diskussion festlegen. Er erklärt, dass er langen Reden nicht gut folgen könne, und bittet Protagoras deshalb, sich möglichst kurz zu fassen. Dieser will sich darauf aber nicht einlassen. Sokrates stellt ihn daraufhin vor die Wahl: Entweder fasst sich Protagoras kurz oder er verlässt die Runde. Auf Drängen der Zuhörer gibt sich Protagoras schließlich geschlagen. Es wird vereinbart, dass er im Folgenden Fragen stellen darf, auf die Sokrates kurz und knapp antwortet. Wenn Protagoras die Fragen ausgehen, will Sokrates wieder die Rolle des Fragestellers einnehmen.
Gedichtinterpretation
Protagoras wendet sich einem Gebiet zu, das er für außerordentlich wichtig hält: der Poesie. Er zitiert eine Passage aus einem Gedicht von Simonides, das von der Schwierigkeit des rechten Verhaltens handelt. Protagoras geht es dabei vor allem um zwei Stellen, die sich seiner Ansicht nach widersprechen: Die eine lautet: „Ein guter Mensch zu werden ist wahrhaft schwierig“, an der anderen Stelle behauptet Simonides, dass die bekannte Aussage „Schwierig ist’s, edel zu sein“ falsch sei. Offenbar habe der Poet die vorherige Aussage vergessen und sich damit in Widersprüche verstrickt.
„Weil aber Epimetheus nicht ganz so weise war, merkte er nicht, dass er sämtliche Fähigkeiten für die vernunftlosen Tiere aufgebracht hatte. So blieb ihm schließlich das Menschengeschlecht ohne jede Ausstattung übrig, und er wusste nicht, was er damit anfangen sollte.“ (Protagoras, S. 53)
Sokrates weiß darauf zunächst nichts zu antworten, holt dann jedoch zu einer Interpretation der beiden Passagen aus, die die Widersprüche auflösen soll. Er führt aus, dass man zum Verständnis des Gedichts zwischen Sein und Werden unterscheiden müsse. Wenn man dies tue, werde klar, was Simonides gemeint habe: dass es viel schwieriger sei, ein guter Mensch zu werden, als einer zu sein. Sei man es nämlich, falle einem das rechte Verhalten leicht. Sokrates verfolgt diesen Gedanken weiter und entdeckt eine zweite mögliche Lesart: Könnte es nicht sein, dass es dem Menschen ganz und gar unmöglich ist, wirklich gut zu sein? Hindern ihn nicht immer bestimmte Umstände daran, auf Dauer richtig und gut zu handeln? In diesem Fall müsste Simonides den zitierten Ausspruch in der Tat für falsch halten, weil es eben nicht schwierig, sondern unmöglich ist, edel zu sein, und jeder Mensch deshalb nur versuchen kann, gut zu werden.
Tugend als Wissen
Sokrates übernimmt nach diesem Exkurs wieder die Befragung. Er möchte wissen, ob Protagoras die fünf Tugenden Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit als gleichwertig und ähnlich ansieht. Protagoras räumt der Tapferkeit eine Sonderstellung ein, weil es viele Menschen gebe, die keine der anderen Tugenden besäßen, aber dennoch tapfer seien. Sokrates stellt daraufhin heraus, dass Tapferkeit anscheinend etwas mit Wissen zu tun hat. Die Tapferen unterscheiden sich von den bloß Tollkühnen darin, dass sie wissen, was sie tun, und die Gefahr bewusst auf sich nehmen.
„So ist also die Gottesfurcht nicht dieselbe Art des Handelns wie ‚gerecht sein‘, und die Gerechtigkeit nicht so etwas wie ‚gottesfürchtig sein‘, sondern so etwas wie ‚nicht gottesfürchtig sein‘; die Gottesfurcht aber so wie ‚nicht gerecht, sondern ungerecht sein‘, die Gerechtigkeit aber so wie ‚gottlos sein‘.“ (Sokrates, S. 89)
Nach dieser Feststellung wechselt Sokrates erneut das Thema und fragt, was den Menschen überhaupt in seinen Handlungen antreibe. Er führt aus, dass die Menschen sich meistens nicht nach dem richten, was sie wissen, sondern nach dem, was sie fühlen. Lust, Schmerz, Leidenschaft und Furcht sind demnach die Antriebsfedern menschlichen Handelns. Manche behaupten sogar, sie wüssten zwar, was das Beste sei, würden aber trotz diesem Wissen ihren Neigungen nachgehen und „der Lust erliegen“. Um diese Ansicht weiterzuverfolgen, nimmt Sokrates nun eine imaginäre Menge von Leuten an, die er zusammen mit Protagoras davon überzeugen will, dass ihre Meinung falsch ist. Die Ansicht der Leute ist, dass alles, was Lust bringt, etwas Angenehmes und damit ein Gut sei, und alles, was Schmerz bringt, unangenehm und ein Übel. Man muss jedoch das augenblicklich Angenehme gegen das abwägen, was erst später angenehme Folgen haben wird. Einiges, was in diesem Moment angenehm ist, wie ein ausschweifendes Mahl, kann unangenehme Folgen nach sich ziehen. Bei diesem Abwägen kann man sich jedoch nicht auf seine Sinne verlassen: Den Sinnen erscheint nämlich das Ferne kleiner und das Nahe größer, auch in Bezug auf Lust und Schmerz. Deshalb ist ein Wissen nötig, das die zeitlich nahen und fernen Konsequenzen abschätzt und gegeneinander abwägt. Wenn also jemand sagt, er „sei der Lust erlegen“, dann offenbart ihn das als Unwissenden, der nicht in der Lage war, die Folgen korrekt abzumessen.
Vertauschte Positionen
Am Ende zieht Sokrates das Fazit, dass es nach außen hin wirken muss, als hätten er und Protagoras die Positionen getauscht. Sokrates’ Argumentation hat zu dem Ergebnis geführt, dass das rechte Verhalten eine Form des Wissens ist. Das legt nahe, dass man es auch lehren kann. Damit übernimmt er eine Haltung, die er am Anfang zu widerlegen versuchte. Protagoras dagegen hat im Verlauf der Diskussion behauptet, viele Menschen, die die Tugend der Tapferkeit besäßen, würden nicht über die anderen Tugenden verfügen, darunter auch die Weisheit bzw. das Wissen. Er scheint am Ende also der Auffassung zu sein, dass Tugend und Wissen nicht unbedingt identisch sind. Eine endgültige Klärung der Streitfragen bleibt aus: Sokrates will sich später noch einmal mit Protagoras treffen, um die Diskussion fortzusetzen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Protagoras ist in der Form eines Kunstdialogs verfasst, auch sokratischer oder platonischer Dialog genannt – je nachdem ob man den Hauptredner oder den Autor in den Vordergrund rücken will. Allen Schriften dieser Gattung ist gemein, dass die Handlungs- und Sprechweise realer Vorbilder in einen fiktionalen Rahmen versetzt und nachgeahmt wird. Kern des Werks ist die Diskussion zwischen Sokrates und Protagoras über die Frage, ob die Tugend lehrbar sei. Dieser Hauptdialog wird gleich von zwei Vorspielen eingeleitet, eine innerhalb von Platons Werk einmalige Kompositionsform. Das Gespräch wird an mehreren Stellen von Zwischenspielen unterbrochen, wozu u. a. die Diskussion über die Regeln der Diskussion zählt. Diese Sequenzen halten den Dialog lebendig und erlauben tiefe Einblicke in den Charakter der Teilnehmer. Die Sprache ist leicht verständlich. Platons Texte waren von Anfang an für ein breites Publikum gedacht und brachten ihm aus diesem Grund immer wieder den Vorwurf der Oberflächlichkeit ein.
Interpretationsansätze
- Protagoras ist in erster Linie ein philosophisches Lehrstück, das sich vor allem mit der Frage beschäftigt, ob das rechte Verhalten, also die Tugend, lehrbar ist. Das ist keine nebensächliche Frage: Von ihrer Beantwortung hängt ab, ob die Ethik überhaupt eine Daseinsberechtigung hat.
- Die zweite wichtige Frage innerhalb des Dialogs ist die nach der Einheit der Tugend. Während Protagoras mehrere voneinander verschiedene Tugenden annimmt, geht Sokrates davon aus, dass alle Tugend genau genommen Wissen oder Weisheit ist. Aus dieser Annahme heraus entwickelt er die Frage, ob es überhaupt möglich ist, „wider besseres Wissen“ zu handeln, also wissentlich ein Unrecht zu begehen.
- Platon übt Kritik an der Sophistik: Wie viele seiner Dialoge gibt auch Protagoras eine Auseinandersetzung zwischen den beiden vorherrschenden philosophischen Schulen in Athen wieder: Sokratik und Sophistik. Während Sokrates sich selbst als jemanden beschreibt, der nach Weisheit sucht, geben die Sophisten, in diesem Fall Protagoras, vor, die Weisheit bereits zu besitzen und sie lehren zu können. Deshalb fordert Sokrates seinen Gesprächspartner heraus: Protagoras soll ihm Rede und Antwort stehen und seine angebliche Überlegenheit in Fragen der Tugend unter Beweis stellen.
- Seine Argumente dafür, dass die Tugend Wissen sei, nimmt Sokrates bemerkenswerterweise nicht aus dem Fundus sokratischer oder platonischer Philosophie, sondern aus dem Hedonismus: Der Lustgewinn und die Vermeidung von Schmerz werden als Haupttriebfedern menschlichen Handelns angenommen. Da sich in Platons Werk kein Hinweis darauf findet, dass er dieser Grundthese des Hedonismus, wie sie z. B. Epikur vertrat, zustimmt, steht die gesamte Argumentation, die Sokrates im Dialog aus dieser These ableitet, auf wackligen Beinen.
- Über seinen Status als bedeutender Text der Philosophiegeschichte hinaus hat Protagoras einen nicht geringen Stellenwert als literarisches Kunstwerk: Platon stellt mit dem Dialog ein beeindruckendes Gespür für Dramatik, Charakterdarstellung und detaillierte Beschreibungen von Situationen unter Beweis.
Historischer Hintergrund
Athen im fünften und vierten Jahrhundert v. Chr.
Nach der erfolgreichen Selbstbehauptung der griechischen Stadtstaaten in den Perserkriegen (fünftes Jahrhundert v. Chr.) und der damit einhergehenden Gründung des Attischen Seebunds entwickelte sich in Athen die erste demokratische Staatsordnung. Die entscheidende Macht im Staat lag jedoch bei dem Strategen Perikles (etwa 490–429 v. Chr.), der die Harmonie im Inneren vor allem durch Ausschaltung seiner Gegner sicherstellte. Auf den Friedensschluss mit dem Perserreich im Jahr 449 v. Chr. folgte für Athen ein bisher nicht gekannter Aufschwung im wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich. In dieser Zeit erblühten insbesondere die Dichtkunst, die Geschichtsschreibung, die bildende Kunst, die Medizin und die Philosophie.
Der Beginn des Peloponnesischen Krieges im Jahr 431 v. Chr. markierte den langsamen Niedergang der Vormachtstellung Athens. Nach der Niederlage gegen Sparta übernahmen 30 Tyrannen vorübergehend die Macht, bis die Demokratie 403 v. Chr. wiederhergestellt wurde. Im Inneren setzte sich die kulturelle Blüte, vor allem im Bereich der Philosophie, fort. Nach Sokrates’ Tod im Jahr 399 v. Chr. begann sein Schüler Platon mit der Darstellung des sokratischen Denkens in Dialogen und gründete, wie andere Verehrer Sokrates’ auch, eine eigene philosophische Schule. Neben dieser Entwicklung der Philosophie erlebten vor allem die Rhetorik und die Prosa einen Aufschwung. Athen wurde im kulturellen Bereich zum Vorbild für ganz Griechenland und blieb bis zum Aufstieg Roms das bedeutendste geistige Zentrum Europas.
Entstehung
Protagoras zählt zu den frühen Dialogen Platons, die höchstwahrscheinlich in den Jahren zwischen 398 und 389 v. Chr., also im Jahrzehnt nach Sokrates’ Tod entstanden. Das Hauptthema des Dialogs, die Tugend, zieht sich wie ein roter Faden durch Platons gesamtes Werk. In jeder Schaffensphase setzte er sich intensiv mit der Frage „Wie soll ich leben?“ auseinander.
Viele, wenn nicht sogar alle der im Dialog auftretenden Figuren entsprechen realen Vorbildern. Wie sehr die titelgebende Figur Protagoras mit der historischen Person gleichen Namens (490–411 v. Chr.) übereinstimmt, ist unklar. Fest steht jedoch, dass Protagoras tatsächlich als Sophist agierte. Zu seinen wichtigsten Standpunkten zählten die Thesen, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, dass das Wesen der Götter unergründbar sei und dass es ein naturgegebenes Recht des Stärkeren gebe. Wann der Dialog spielt, ist ebenfalls nicht klar. Anhaltspunkte weisen auf einen Zeitraum um das Jahr 435 v. Chr. hin – damals war Sokrates etwa 35 Jahre alt, die Ära des Perikles ging zu Ende.
Wirkungsgeschichte
Platon hat die Gedanken, die er in Protagoras darstellt, später z. T. weitergedacht und mitunter auch verworfen. In folgenden Dialogen untersuchte er die einzelnen Tugenden, wie die Tapferkeit (Laches), die Besonnenheit (Charmides) und die Frömmigkeit (Euthyphron), genauer. In seinem Dialog Menon lässt er Sokrates erneut über die Frage der Lehrbarkeit der Tugend diskutieren. Hier kommt die Hauptfigur jedoch zu dem Ergebnis, dass das rechte Verhalten weder lehrbar noch naturgegeben, sondern eine Art göttliches Geschenk sei.
Platon zählt bis heute zu den bekanntesten Philosophen überhaupt. Auch sein Dialog Protagoras wird immer noch rege rezipiert. Die These, dass Tugend und Wissen ein und dasselbe sind, und der Umkehrschluss, dass Menschen nur aus Unwissen Böses tun und es daher eine wissentlich unrechte Handlung nicht geben kann, wurden bereits von Aristoteles, aber auch von späteren Philosophen kontrovers diskutiert.
Daneben ist es auch Platons literarisches Können, das nachfolgende Generationen von Philosophen und Dichtern zutiefst beeindruckt hat. Friedrich Nietzsche schrieb in seiner Einführung in das Studium der platonischen Dialoge: „Als Schriftsteller ist Platon der reichbegabte Prosaiker, höchst versatil, alle Tonarten beherrschend, der vollendete Gebildete der gebildetsten Zeit. In der Komposition zeigt er eine große dramatische Begabung.“
Über den Autor
Platon gilt als einer der größten philosophischen Denker aller Zeiten. Zusammen mit seinem Lehrer Sokrates und seinem Schüler Aristoteles bildet er das Dreigestirn am Morgenhimmel der westlichen Philosophie. Platon wird 427 v. Chr. in Athen geboren, als Sohn des Ariston, eines Nachfahren des letzten Königs von Athen. Da Platon aus aristokratischen Kreisen stammt, scheint eine politische Laufbahn vorgezeichnet. Doch die Politik verliert für ihn schnell an Reiz, als er sieht, wie die oligarchische Herrschaft der Dreißig im Jahr 404 v. Chr. Athen unterjocht. Platon betrachtet die Politik von nun an mit einem gewissen Abscheu, sie lässt ihn aber nie ganz los. Er wird ein Schüler des Sokrates, dessen ungerechte Hinrichtung im Jahr 399 v. Chr. ihn stark prägen wird. Fortan tritt Sokrates als Hauptdarsteller seiner philosophischen Schriften auf: 13 Briefe und 41 philosophische Dialoge sind überliefert. Nach der Verurteilung des Sokrates flüchtet Platon zu Euklid nach Megara (30 Kilometer westlich von Athen). Er reist weiter in die griechischen Kolonien von Kyrene (im heutigen Libyen), nach Ägypten und Italien. 387 v. Chr. kehrt er nach Athen zurück und gründet hier eine Schule: die Akademie. Deren Studienplan umfasst die Wissensgebiete Astronomie, Biologie, Mathematik, politische Theorie und Philosophie. Ihr berühmtester Schüler wird Aristoteles. 367 v. Chr. ergibt sich für Platon die einmalige Möglichkeit, sein in seinem Hauptwerk Der Staat entworfenes Politikideal in die Praxis umzusetzen: Er wird als politischer Berater an den Hof von Dionysios II., dem Herrscher von Syrakus, gerufen. Seine Hoffnungen, diesen in der Kunst des Regierens zu unterweisen, zerschlagen sich jedoch. Platon stirbt um 347 v. Chr. in Athen.
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