Karl Jaspers
Psychologie der Weltanschauungen
Springer, 2018
Was ist drin?
Was treibt uns zu unseren Weltanschauungen?
- Philosophie
- Moderne
Worum es geht
Die Geburt der modernen Existenzphilosophie
Als Karl Jaspers die Psychologie der Weltanschauungen veröffentlichte, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, hatte er bereits Karriere als Psychiater gemacht. Sein Interesse für philosophische Fragen setzte sich aber immer stärker durch. So ist die Psychologie der Weltanschauungen ein Übergangswerk, das Psychologie, Soziologie und Philosophie auf neuartige Weise miteinander verknüpft. Jaspers versteht Weltanschauung nicht, wie heute, als politische Ideologie, sondern viel allgemeiner und grundlegender: als Tiefenschicht des menschlichen Geistes. Er untersuchte die Arten und Weisen, wie sich Menschen als Subjekte auf eine äußere Umwelt – aber auch auf sich selbst – beziehen. Das Innovative daran: Jaspers geht von konkreten menschlichen Erfahrungen aus, von Gefühlen, Meinungen und Einstellungen. Vor ihm hatte die Philosophie stets die rationale Erkenntnis ins Zentrum gestellt, nun nahm Jaspers das subjektive Erleben ins Auge. Damit begründete er die moderne Existenzphilosophie, die später von Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre oder Albert Camus weitergeführt und populär gemacht wurde. Ausgehend von dem Kulturschock, dass das zivilisierte Europa in die sinnlose Grausamkeit des Ersten Weltkriegs zurückfallen konnte, widmet sich Karl Japsers in diesem Buch besonders den Phänomenen des Nihilismus und des Absurden, und er geht der Frage nach, wie der Mensch trotz aller Ungewissheit Sinn und Glück finden könne. Antworten auf diese Fragen wollte Jaspers erklärtermaßen nicht vorgeben – vielmehr wollte er seiner Leserschaft dabei helfen, eigene Schlüsse zu ziehen.
Take-aways
- Die Psychologie der Weltanschauungen markiert den Beginn der modernen Existenzphilosophie.
- Inhalt: Während die Philosophie traditionell eine Weltanschauung oder Lebenslehre vorschreibt, soll die Psychologie der Weltanschauung lediglich beschreiben, welche grundlegenden Einstellungen der Mensch zu sich selbst als Subjekt und zur Welt als sein Objekt einnehmen kann.
- Jaspers’ Frühwerk von 1919 markiert seinen Übergang von der Psychologie zur Philosophie.
- Jaspers versteht „Weltanschauung“ nicht im Sinne einer Ideologie, sondern als grundlegende Form des Welt- und Selbstbezugs.
- Jaspers will bestehende Geistes- oder Charaktertypen untersuchen, keine Weltanschauung entwerfen oder vorschreiben.
- Unterschieden werden etwa das „sinnlich-räumliche“, das „seelisch-kulturelle“ und das „metaphysische“ Weltbild.
- Jaspers’ Buch ist geprägt von der Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg, der sich in vielfältigen seelischen Traumata niederschlug.
- Die Existenzphilosophie soll nach Jaspers vom konkreten Erleben, Fühlen und Denken der Einzelperson ausgehen.
- Jaspers hatte großen Einfluss auf Heidegger, Husserl, Sartre und Camus.
- Zitat: „Der Mensch weiß nicht, was er ist.“
Zusammenfassung
Eine Psychologie der Weltanschauungen
Das Ziel einer Psychologie der Weltanschauungen ist nicht, eine Weltanschauung zu entwerfen und vorzuschreiben. Vielmehr will sie untersuchen, welche Kräfte und Einstellungen die menschliche Seele in ihren tiefsten Schichten prägen. Weltanschauung meint in dieser Untersuchung nicht eine politische Ideologie oder ein System dogmatischer Glaubenssätze, sondern grundlegende Erfahrungsmuster, in denen Menschen sich selbst und die Welt um sie herum erfahren. Diese alltägliche Erfahrung ist stets eine Ganzheit: Sie umfasst Wissen, Glauben, ästhetische Vorlieben, Werte, Vorstellungen über die Welt und den Kosmos. Während die Philosophie seit jeher versuchte, den Menschen vorzugeben, wie sie die Welt sehen sollen, ist es die Sache der Psychologie, einfach zu beschreiben, wie die Menschen tatsächlich die Welt sehen.
„Es ist philosophische Aufgabe gewesen, eine Weltanschauung (…) als Lebenslehre zu entwickeln. (…) Statt dessen wird in diesem Buch der Versuch gemacht, nur zu verstehen, welche letzten Positionen die Seele einnimmt, welche Kräfte sie bewegen.“ (S. VII)
Eine Psychologie der Weltanschauungen geht deshalb zunächst von der konkreten, umfassenden Lebenserfahrung des Menschen aus: wie der Einzelne die Welt erfährt, was er über sich und die Welt weiß, aber auch, wie er sich fühlt, wonach er sich sehnt oder worauf er hofft. Zusätzlich untersucht die Psychologie der Weltanschauungen auch den Weltzugang ganzer Epochen und ganzer Kulturen. Bisher gab es in der Geschichte nur einen einzigen Versuch, eine Psychologie der Weltanschauungen systematisch zu erarbeiten: Hegels Phänomenologie des Geistes. Im Vergleich zu Hegels System will die Psychologie der Weltanschauungen aber bloß einen Katalog von Geistestypen vorlegen, kein in sich abgeschlossenes System.
Die Subjekt-Objekt-Sphären
Welche Methode soll eine Psychologie der Weltanschauungen anwenden? Das psychische Leben jedes Menschen ist ein fließender „Erlebnisstrom“ aus Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen und Erkenntnissen. In diesem Strom gibt es einen unveränderlichen, stets anwesenden und ganz allgemeinen Weltbezug: eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Egal, wie sich Subjekt und Objekt konkret definieren, welchen spezifischen Inhalt sie erhalten – es gibt immer diese Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Genauer gesagt: Es gibt eine enorme Vielzahl solcher Beziehungen. Jede Subjekt-Objekt-Beziehung bildet eine „Sphäre“ oder ein „Gebiet“, innerhalb dessen sich konkrete Gegenstände, Emotionen und Gedanken bilden. So ist die rationale Erkenntnis eine andere Sphäre als ein Fieberdelirium, doch beide sind – auf je eigene Weise – Subjekt-Objekt-Beziehungen und ermöglichen uns Erfahrungen.
„Das seelische Geschehen in seiner Totalität heißt der Erlebnisstrom, Erlebniswirklichkeit, unmittelbares Leben, ursprüngliche Erfahrung usw. (…) In dem Erlebnisstrom ist das Urphänomen eingebettet, daß das Subjekt Objekten gegenübersteht.“ (S. 21)
Daraus wird ersichtlich, dass Weltanschauungen nicht richtig oder falsch oder absolut sein können. Jede Weltanschauung resultiert aus spezifischen Sphären, die zeitlich begrenzt und subjektiv spezifisch – aber dennoch wirkliche Erfahrungsweisen sind. Eine vollständige Psychologie der Weltanschauungen müsste eigentlich konkrete Persönlichkeiten, Werke oder Kulturen analysieren. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich dagegen darauf, die allgemeinen Grundlagen und Grenzen einer Typologie der Geistesformen zu entwickeln.
Gegenständliche und selbstreflektierte Einstellung
„Einstellung“ bezeichnet die Weise, in der sich ein Subjekt auf sich selbst bezieht. Drei Typen von Einstellungen lassen sich unterscheiden: gegenständliche, selbstreflektierte und enthusiastische Einstellungen.
Die gegenständliche Einstellung kann aktivistisch sein: Die Welt wird als Rohstoff gesehen, den es zu bearbeiten gilt. Man lebt gegenwartsbezogen, tut, was objektiv nötig und subjektiv möglich ist, ohne Idealisierungen, ganz pragmatisch. Die Aktivität sucht Erfolg in der Gestaltung der Welt. Dieser Typ ist häufig in der Politik, im Militär oder Unternehmertum zu finden. Im Kontrast dazu steht die kontemplative Form der gegenständlichen Einstellung: Sie geht im Betrachten, Sehen und Staunen auf. Die Welt wird nicht geformt, sondern beobachtet. Dieser Typ ist Künstler, Denker oder auch rationaler Erkennender, Wissenschaftler.
„Das entscheidende Merkmal der mystischen Einstellung ist die Aufhebung des Gegenüberstehens von Subjekt und Objekt (von Ich und Gegenstand).“ (S. 85)
Eine dritte Form der gegenständlichen Einstellung ist die mystische Einstellung: Sie geht ganz im Erlebnis auf, aber ohne zu schauen, zu gestalten oder zu formen. Die mystische Erfahrung kann nicht beschrieben werden, denn sie geht über alles Weltliche hinaus zur Idee der Totalität, der Einheit von allem.
Während die gegenständliche Einstellung ganz in der Außenwelt aufgeht, ist die selbstreflektierte Einstellung Ausdruck des Selbstbewusstseins. Dieses ist zunächst kontemplativ: Der Mensch betrachtet sich selbst und misst seine Erlebnisse daran, ob sie mit seiner Idealvorstellung von sich selbst übereinstimmen. Auf der nächsten Stufe wird die Selbstreflexion aktiv: Der Mensch will nicht mehr bloß zusehen, sondern sich entwickeln, sich selbst gestalten und formen. Den Höhepunkt erreicht die selbstreflektierte Einstellung, wenn sie sowohl unmittelbar wie reflexiv ist: Der Mensch lebt nun ganz im Moment, nutzt aber auch jeden Augenblick, um sich im Hinblick auf einen rationalen Entwurf seiner selbst hin zu formen.
Die enthusiastische Einstellung
Wenn sich gegenständliche und selbstreflexive Einstellung verbinden, entsteht die enthusiastische Einstellung. Nun öffnet sich der Mensch hin zum Grenzenlosen und fühlt sich von der Substanz der Welt innerlich berührt. Der Enthusiasmus ist ein rauschhafter Drang vorwärts. Er will Einheiten bilden, zusammenführen und verbinden. Die Liebe ist Ausdruck der enthusiastischen Einstellung. Doch Enthusiasmus kann auch an Wahnsinn grenzen, insofern er überschreiten und riskieren will. Von außen kann Enthusiasmus sinnlos wirken. Kein Wunder, ist sein Ziel doch das geradezu göttlich Absolute. Der enthusiastische Mensch ist ein Schöpfer, ein Schaffender. Er will das bisher Unbekannte, etwas völlig Neues schaffen. Weil er dabei von etwas Absolutem geleitet wird, weil er einem göttlichen Ruf folgt, kann der Prozess der Schöpfung nie entschlüsselt werden – auch der enthusiastische Mensch selbst weiß nicht, wie ihm geschieht, warum er schafft, was und wie er schafft. Das Schöpferische kann man denn auch nicht lernen oder lehren.
„Die enthusiastische Einstellung ist die Einstellung des Schaffenden.“ (S. 136)
Obwohl die enthusiastische Einstellung etwas Rauschhaftes an sich hat, ist sie doch nicht zu verwechseln mit dem Rausch. Der Rausch des Enthusiasten ist langfristig, besonnen, schaffend und offen für Neues, der weitverbreitete Rausch dagegen kurzfristig, unschöpferisch, ohne Tiefe und empfänglich für Fanatismus, Autoritäten und Feindseligkeiten.
Das sinnlich-räumliche und seelisch-kulturelle Weltbild
Während die Einstellungen subjektbezogen sind, so bezeichnen Weltbilder die objektiven Räume, in denen sich Menschen bewegen. Weltbilder werden erlebt, und auch wenn sie in jedem Moment als begrenzt und konkret erfahren werden, sind sie ständig im Fluss und verändern sich. Am unmittelbarsten erlebt wird das sinnlich-räumliche Weltbild, das die Umwelt als „Reizwelt“ wahrnimmt. Es kann naturmechanisch sein, sich also auf naturwissenschaftliches Wissen von der physikalischen oder chemischen Funktionsweise der Welt stützen, oder naturgeschichtlich, also versuchen, die Welt in anschauliche Form- oder Gestalttypen zu ordnen. Oder es kann schließlich Naturmystik sein: das Aufgehen in der Stimmung einer Landschaft, das gegenständliche Erleben der Welt, eine Empfänglichkeit für magische Zusammenhänge.
„Wie der Mensch Zeitalter und Kulturen sieht, und wie er Menschen sieht, kennzeichnet ihn.“ (S. 177)
Das sinnlich-räumliche Weltbild beschäftigt sich mit der oberflächlich wahrgenommenen Welt. Über den tieferen Sinn dieser Welt kann es keine Auskunft geben. Deshalb entsteht das seelisch-kulturelle Weltbild. Die Dimension der Seele gibt der Welt Sinn, macht die Welt verständlich. Jeder Weltbezug hat eine seelisch-kulturelle Dimension. Auf der ersten Stufe wird das eigene Weltverständnis platt für das einzig richtige gehalten. Auf der nächsten Stufe öffnet sich das Verständnis für andere Kulturen. Nun weiß der Mensch, dass er ein spezifisches Weltbild hat und dass es auch andere Weltbilder gibt. Auf einer letzten Stufe öffnet sich das Weltbild der Unendlichkeit und Relativität des Wissens, gerät ins Staunen und erkennt, dass es immer neue Aspekte und bisher unbekannte Sichtweisen gibt.
Das metaphysische Weltbild
Das Seelenleben des Menschen erschöpft sich nicht nur im Sinnlich-Konkreten, in der räumlichen oder kulturellen Umwelt. Die Seele beschäftigt sich auch mit Erdachtem, Fantasiertem, Erdichtetem. In dieser überweltlichen Dimension findet der Mensch Zugang zum Absoluten und Ganzen. Jeder Mensch setzt, ob bewusst oder nicht, seinem Leben etwas Absolutes vor – und sei es ein Nichts. Dieses Absolute ist selbst nicht anschaulich, aber alles Anschauliche in der Welt weist auf dieses Absolute zurück. Daher hat jeder Mensch ein metaphysisches Weltbild. Alle Völker zu allen Zeiten und auf allen Entwicklungsstufen haben ein metaphysisches Weltbild.
„Fabeln, Phantasien, Begriffsdichtungen (…) sind zu allen Zeiten, gerade auch bei den großen Menschen, das psychologisch Wirksamste gewesen.“ (S. 184)
Ursprünglich hatten die Menschen ein mythologisch-dämonisches Weltbild: Die Welt wird erlebt als von Geistern und Göttern bewohnt. Man erzählt sich Geschichten über die Götter und lebt in diesen Geschichten. Dieses Weltbild wird nicht begründet, sondern einfach geglaubt. Erst wenn der Glaube nicht mehr ausreicht und ein Weltbild mit Argumenten und dem eigenen Wahrnehmen begründet werden muss, entsteht das philosophische Weltbild. Dieses Weltbild erklärt den Zusammenhang, Sinn und obersten Zweck der Welt und versucht, diese Erklärung nachvollziehbar zu belegen.
Das Leben des Geistes
Einstellungen und Weltbilder existieren faktisch immer zusammen und werden als Kräfte des Geistes empfunden. Geistestypen zeigen sich uns in und als Anschauungen: Pessimismus, Individualismus, Rationalismus, Skeptizismus usw. Solche Geistestypen ermöglichen Wertungen, sie geben einem Menschen Interessen, sagen ihm, was wichtig ist – erst daraus ergibt sich ein Weltbild. Außerdem bieten die Geistestypen Halt angesichts der Grenzenlosigkeit des menschlichen Seins. Die Erfahrung, dass kein absoluter Halt vorgegeben ist, dass der Mensch beständig in Widersprüchen gefangen ist und vor einer endlosen Reihe von Entscheidungsmöglichkeiten steht, ist unerträglich. Halt brauchen und finden Menschen insbesondere in Grenzsituationen des Lebens. Ihr Geistestyp bestimmt, wie sie auf Leiden reagieren: optimistisch, pessimistisch, resignierend oder heroisch-kämpfend.
„Die erste und allerletzte Grundfrage der Weltanschauung ist, ob zum Leben im ganzen ja oder nein gesagt wird (…), ob das Sichauflösen und Aufhören Endziel ist oder das Leben im Handeln, Schaffen, Aufbauen.“ (S. 285)
Die grundsätzlichste Einstellung zum Leben ist die, ob das Leben Sinn und Wert hat – oder nicht. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten gibt es zahlreiche Kombinationen. So kann der Nihilismus, die Einsicht in die Nichtigkeit des Lebens, einerseits zur Selbstaufgabe und Verzweiflung führen – oder, wenn der Mensch sich wehrt, zu neuer Kraft und einem neuen Selbstbild. Angesichts des Leidens in der menschlichen Existenz ist es bemerkenswert, dass faktisch die allermeisten Menschen sehr weit vom Nihilismus entfernt sind. Sie finden Halt in „Gehäusen“. Ein Gehäuse gibt dem Menschen etwas Festes, Ruhendes, das ihn gegen die Zweifel und Zerstörungen seiner Existenz schützt. Alle Lehren, Dogmen, Traditionen oder Beweise sind Gehäusearten.
Der Halt im Unendlichen
Alle Gehäuse sind wacklig, weil sie nur einen Teilausschnitt der Welt darstellen. Im Menschen drängt aber ein fundamentaler Trieb auf das Ganze, die Unendlichkeit. Diese Totalität kann niemals angeschaut oder begrifflich auf den Punkt gebracht werden. Sie ist der eigentliche Gegenstand einer Weltanschauung, der nur indirekt und in Paradoxien beschrieben werden kann. Der Geist ist die Dimension im Menschen, die diese unendliche Freiheit bewohnt und zugleich stets innerhalb der irdischen Subjekt-Objekt-Beziehungen bleibt. Deshalb bewegt sich der Geist stets in Gegensätzen. Etwa dem zwischen dem Chaos der endlos-grenzenlosen Materie und den Formen, die der Mensch als Gehäuse oder Werke diesem Chaos aufzwingt. Oder zwischen der Vereinzelung, ein Individuum zu sein, und dem Empfinden, auch Teil eines Ganzen zu sein – einer Familie, Nation oder Gesellschaft, der Natur oder der göttlichen Einheit.
„Der Mensch weiß nicht, was er ist.“ (S. 380)
Weil der Geist zwischen diesen Polen beständig hin- und herpendelt, ist seine Bewegung unendlich und frei. Jeder Mensch sollte zwischen den Gegensätzen des Lebens in Bewegung bleiben. Ein Gehäuse gibt zwar Ruhe und Sicherheit, wer man ist und was die Welt bedeutet. Aber es bedeutet auch Stillstand. Deshalb muss der Mensch sich immer wieder dem Chaos öffnen, dem Sinn fürs Mystische. Im ständigen Pendeln zwischen den Gegensätzen verliert er zwar Gewissheiten – aber er gewinnt das Gefühl, am Leben zu sein.
Zum Text
Aufbau und Stil
Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen ist ein philosophisches Werk. Das umfangreiche Buch gliedert sich in eine Einleitung und drei Großkapitel. In der Einleitung stellt Jaspers die Motive und die Methode seiner Arbeit vor. Die Dreiteilung der Kapitel wiederholt sich innerhalb der Kapitel in je drei Unterabschnitten. Damit folgt Jaspers der dialektischen Methode, die stets in Dreischritten vorgeht: von einer These zu ihrem Gegenteil und weiter zu einer dritten Position, die die ersten beiden, sich widersprechenden Positionen vereint. Dass sich Jaspers mit diesem Buch von der Psychologie abwandte und zur Philosophie überwechselte, zeigt sich auch in seiner Sprache. Sie ist weniger wissenschaftlich, als man es von einem ausgebildeten Psychiater erwarten würde, und bildet bereits jenen Duktus aus, der für die Existenzphilosophie kennzeichnend werden sollte: Besonders wichtig ist die Beschreibung konkreter Erfahrungs- und Gefühlswelten sowie das begriffliche Umkreisen von irrationalen, unbegreiflichen Zuständen wie etwa der mystischen Erleuchtung. Diese spekulative Tendenz hat der Existenzphilosophie den Ruf eingebracht, schwer verständlich und unzugänglich zu sein – ein Vorwurf, dem auch Jaspers’ Frühwerk nicht immer entkommt. Seine theoretische Entwicklung der Subjekt-, Welt- und Geistesformen unterbricht er immer wieder durch ausgedehnte Referate klassischer Philosophen wie Platon, Hegel oder Kierkegaard.
Interpretationsansätze
- „Weltanschauungen“ werden in diesem Buch nicht im Sinne spezifischer Ideologien verstanden, Jaspers meint damit vielmehr grundlegende Formen des Selbst- und Weltbezugs. Sie umfassen sowohl die rationale Erkenntnis als auch das Fühlen, Glauben und Meinen einer Person.
- Jaspers geht es um eine philosophische Analyse und nicht um die Propagierung bestimmter Weltanschauungen. Er will einzelne Geistestypen, ihre Charakteristik und Entwicklungsdynamik untersuchen, keine Ansichten vorschreiben oder Visionen entwerfen.
- Die Psychologie der Weltanschauungen ist das erste Buch der modernen Existenzphilosophie. Die Existenzphilosophie geht vom konkreten Erleben, Fühlen und Denken der Einzelperson aus und wirft der traditionellen Philosophie eine gewisse Beschränktheit vor: Der Weltbezug des Menschen, so die Existenzphilosophen, erschöpfe sich nicht in rationalem Wissen.
- Jaspers will mit seinem Buch die Philosophie Hegels fortführen. Hegel hatte in seiner Phänomenologie des Geistes versucht, alle möglichen Formen des menschlichen Bewusstseins zu beschreiben und in eine systematische Entwicklungslogik zu überführen.
- Die dominierende philosophische Tradition in Jaspers’ Buch ist der Idealismus. Die kultivierte, gebildete Welt des Geistigen und Ideellen erscheint klar als höchste Stufe des Menschseins. Jaspers vertritt einen historischen Fortschrittsoptimismus; er glaubt, dass die Menschen durch alle Krisen und Zweifel hindurch diese Stufe der geistigen Bildung auch erreichen werden.
Historischer Hintergrund
Der Erste Weltkrieg als Krise der Zivilisation
Zwischen 1914 und 1918 erschütterte der Erste Weltkrieg die Menschen und die Grundwerte Europas. Der Krieg – geprägt von neuen Technologien wie Giftgas, Splittergranaten oder Panzer – forderte eine bisher unvorstellbare Opferzahl von neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten. Er brachte politische Umwälzungen wie den Zerfall der Monarchie Österreich-Ungarn und des Deutschen Kaiserreichs, die Russische Revolution und den Aufstieg der USA zur Weltmacht. Die Gesellschaften dieser und anderer Länder gingen zutiefst erschüttert aus den Kriegswirren hervor: Staatsschulden und die Inflation explodierten, Infrastrukturen waren zerstört, Armut und Hunger grassierten. Zudem wütete die Spanische Grippe in den Jahren 1918 und 1919 und forderte erneut enorm viele Opfer. Auch die Gewalt verschwand nicht einfach mit dem Kriegsende: Vielerorts in Europa bildeten sich paramilitärische Einheiten, in Irland und Russland tobten Bürgerkriege, in Italien formierte sich der Faschismus, in Osteuropa kam es zu antisemitischen Pogromen. Viele Kulturschaffende dieser Zeit waren fassungslos, hatte Europa um 1900 doch als Hochburg der Kultur, der Zivilisation und des Friedens gegolten, in der Hass und Gewalt für immer überwunden schienen. Der Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein zeugt eindrücklich von diesem Schock. In der Kunst begannen nun radikale Avantgardebewegungen wie der Dadaismus oder der Surrealismus die Erschütterungen des Krieges zu verarbeiten, und in der Philosophie und Literatur dominierten Themen wie Werteverfall, Nihilismus und die empfundene Sinnlosigkeit des Lebens.
Entstehung
Die Psychologie der Weltanschauungen entstand in der Frühphase des Werkes von Karl Jaspers und in einer Zeit der Umorientierung. 1913 hatte Jaspers seine akademische Karriere mit einer Habilitation in Psychologie begonnen. Bereits 1916 wurde er außerordentlicher Professor in Heidelberg. Seine Habilitationsschrift Allgemeine Psychopathologie wurde zum Standardwerk für Studierende wie Praktizierende und bleibt bis heute anerkannt. Danach allerdings begann sich Jaspers immer stärker für philosophische Fragen zu interessieren, kehrte der Psychiatrie den Rücken und begann die Berührungszonen zwischen Psychologie und Philosophie zu erforschen. Das erste Ergebnis dieser neuen Forschungsperspektive war die Psychologie der Weltanschauungen. Es entstand während des Ersten Weltkriegs, in dem Karl Jaspers selbst aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands – er litt an angeborenen Bronchiektasen – nicht kämpfen musste. Sein Bruder Enno aber wurde eingezogen und tauschte sich in einem regelmäßigen Briefwechsel mit ihm aus. Der Erste Weltkrieg erschütterte das zivilisatorische Selbstverständnis Europas. Waren die meisten zunächst von einem kurzen, „sauberen“ Krieg ausgegangen, wurden sie nun Zeugen eines erschütternden, jahrelangen Schützengrabenkampfes, der kaum Landgewinne brachte, dafür bislang unbekannte körperliche Verwundungen und neuartige psychologische Traumata. 1954 gab Jaspers rückblickend zu, dass er mit der Psychologie der Weltanschauungen auch die Erschütterung der kulturellen Tradition Europas durch diesen Krieg verarbeiten wollte. Er habe das Buch mehr oder weniger in einem Zug durchgeschrieben, kaum korrigiert und sofort drucken lassen.
Wirkungsgeschichte
Die Psychologie der Weltanschauungen erschien unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, 1919, im Springer Verlag in Berlin und stieß auf reges Interesse in der wissenschaftlichen Fachwelt. Es gilt als erstes Buch der modernen Existenzphilosophie, das sowohl die wesentlichen Thematiken als auch den teilweise kryptischen Stil späterer, noch bekannterer Autoren vorgab. So hatte Jaspers großen Einfluss auf die französischen Existenzialisten um Jean-Paul Sartre. Die in der Psychologie der Weltanschauungen zentrale Frage des Nihilismus und des Absurden bestimmt das Frühwerk von Albert Camus. Besonders starken Einfluss hatte Jaspers’ Projekt einer Existenzphilosophie auf Martin Heidegger, mit dem Jaspers ab der Mitte der 1920er-Jahre auch eine persönliche Freundschaft verband. Rückblickend bezeichnete Karl Jaspers die Psychologie der Weltanschauungen als „das Buch meiner Jugend“ und als seinen „Weg zur Philosophie“. Jaspers gab an, dass er nun einige Formulierungen des Buches sowie den teilweise ausufernden Stil korrigieren würde – seine Kerngedanken und das Hauptanliegen vertrete er aber nach wie vor. Damit meinte er nicht zuletzt die Überzeugung, dass Philosophie keine Weltanschauungen verkünden oder vorschreiben sollte – wie es einige seiner Schüler getan haben, am bekanntesten Heidegger 1933 mit seiner Anbiederung an den Nationalsozialismus. Bis heute ist die Psychologie der Weltanschauungen ein spannender Versuch, Psychologie, Philosophie und Soziologie miteinander zu verbinden. Insbesondere in der Psychotherapie bleiben seine Beobachtungen über Persönlichkeitsschemata und die existenzielle Tiefendimension der Psyche relevant.
Über den Autor
Karl Jaspers wird am 23. Februar 1883 in Oldenburg geboren. Bereits als Jugendlicher leidet er an unheilbaren Bronchiektasen – einer Beeinträchtigung seiner Lungenfunktion, die sein medizinisches Interesse weckt. Im Fach Medizin erwirbt er 1909 den Doktorgrad. Parallel dazu arbeitet Jaspers in der Psychiatrie, wo er seine spätere Frau, die Pflegerin Gertrud Mayer, kennenlernt. Rasch macht Jaspers im akademischen Betrieb auf sich aufmerksam, knüpft unter anderem Freundschaften mit Max Weber und Martin Heidegger. Jaspers’ Augenmerk gilt der Psychologie, vor allem ihren Auswirkungen auf benachbarte Disziplinen wie Philosophie und Soziologie. Im Rahmen seiner 1909 begonnenen Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten erlangt Jaspers den Ruf, einer der profiliertesten Denker einer Neuausrichtung der Philosophie zu sein. In seiner Psychologie der Weltanschauungen stellt er 1919 die Frage nach einer im Leben des Menschen wurzelnden philosophischen Grundhaltung. Das Buch gilt heute als Grundstein der modernen Existenzphilosophie. Jaspers’ 1931 erscheinendes Buch Die geistige Situation der Zeit stellt explizit fest, dass mit den Methoden der Wissenschaft allein kein Wahrheitsbegriff zu finden sei. Mit Aufkommen des Nationalsozialismus wird Jaspers – seine Frau ist Jüdin – ins Abseits gedrängt; nur dank Zuwendungen von Freunden und Weggefährten überlebt das Ehepaar. In den Nachkriegsjahren zeigt sich Jaspers enttäuscht vom gesellschaftlichen Klima in Deutschland und folgt einem Ruf der Universität Basel. Immer wieder stößt er Debatten an und verteidigt gegen mitunter harsche Kritik seinen im Leben wurzelnden Philosophieansatz gegen die Lehrmeinung der akademischen Welt. Karl Jaspers stirbt am 26. Februar 1969 in Basel.
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