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Publikumsbeschimpfung

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Publikumsbeschimpfung

und andere Sprechstücke

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Provozieren geht über Rezitieren: der Urknall des Poptheaters.


Literatur­klassiker

  • Drama
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Krawalltheater der ersten Stunde

So etwas hatte die Theaterwelt noch nicht gesehen: Da stellten sich im Sommer 1966 vier arrogante Jungspunde auf die Bühne und erklärten alles bisherige Theaterschaffen für überholt – um gleich darauf die elegant herausgeputzten Wirtschaftswunder-Deutschen als Nazischweine und KZ-Mörder zu beschimpfen. Verantwortlich für dieses Antitheater war ein 23-jähriger Österreicher mit Pilzkopffrisur und Sonnenbrille: Peter Handke, angeblich erster Popstar der deutschsprachigen Literatur – und nicht zuletzt begnadeter Selbstvermarkter. Die Uraufführung seines Theaterdebüts Publikumsbeschimpfung unter der Regie von Claus Peymann geriet zu einem emotionsgeladenen Happening, das später als Initialzündung der 68er-Protestkultur gefeiert wurde. Handke wollte die Zuschauer aus ihrer Selbstzufriedenheit aufschrecken, doch als diese ihn beim Wort nahmen, laut widersprachen und die Bühne zu stürmen versuchten, ging sein Regisseur persönlich dazwischen, und Handke echauffierte sich über das „reaktionäre Zwischenrufrepertoire“ seines Publikums. Ein Lehrstück über Gegenkultur und ihre Grenzen.

Take-aways

  • Mit dem Sprechstück Publikumsbeschimpfung wurde Peter Handke 1966 auf einen Schlag berühmt.
  • Inhalt: Vier Sprecher in Alltagskleidung erklären dem Publikum im hell erleuchteten Theatersaal, dass es sich in seinen Erwartungen getäuscht habe: Es werden weder Inhalt noch Charaktere geboten, weder Handlung noch Bedeutung. Es wird nicht gespielt, sondern gesprochen. Die Protagonisten sind die Zuschauer, deren Verhalten thematisiert wird und die schließlich ausgiebig beschimpft werden.
  • Rhythmus und Klang erinnern an die Musik der 1960er-Jahre: Beatles-Fan Handke nannte das Stück ein „verbales Rockkonzert“.
  • Handkes Beschimpfungen zielten nicht auf einzelne Zuschauer, sondern allgemein auf das Theater jener Zeit.
  • Theater, nach Handke, darf keine falsche Wirklichkeit vorspielen.
  • Handke wollte den Graben zwischen der Welt der Zuschauer und der des Theaters nivellieren.
  • Die Uraufführung im Juni 1966 wurde vor dem Hintergrund der Studentenproteste zum Bühnenereignis des Jahres.
  • Zuvor hatte der 23-jährige Handke auf einer Tagung der Gruppe 47 seinen Schriftstellerkollegen „Beschreibungsimpotenz“ vorgeworfen.
  • Der doppelte Skandal machte ihn zum Enfant terrible der deutschsprachigen Literaturszene.
  • Zitat: „Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden.“

Zusammenfassung

Tipps für die Schauspieler

Zum Anhören werden empfohlen: Anfeuerungen und Schimpfchöre in Fußballstadien, Litaneien in katholischen Kirchen, die Ein- und Ausfahrt von Zügen, Diskutanten, die sich gegenseitig ins Wort fallen, Tell me von den Rolling Stones oder die Hitparade von Radio Luxemburg. Und zur Anschauung: Ringo Starrs Lächeln im ersten Beatles-Film, das Gesicht Gary Coopers in Der Mann aus dem Westen, Affen, die Menschen nachäffen, herumlungernde und auf Spielautomaten starrende Tagediebe.

Bühnenanweisung

Hinter dem geschlossenen Vorhang wird geschäftiges Treiben vorgetäuscht, etwa das Verrücken von Stühlen oder geflüsterte Anweisungen des Bühnenmeisters. Diese Geräusche können laut vom Tonband abgespielt werden. Die Zuschauer sollten in eine typische Theaterstimmung versetzt werden: mit beflissenen Platzanweisern, stilvollen Programmen und dem unausweichlichen Klingelsignal. Wer in unangemessener Kleidung erscheint, erhält keinen Zutritt. Das bedeutet für die Herren: dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte. Die Damen sollten nicht in grellen Farben gekleidet sein. Allmählich erlischt das Licht. Es wird still.

„Sie sind willkommen. Dieses Stück ist eine Vorrede. Sie werden hier nichts hören, was Sie nicht schon gehört haben. Sie werden hier nichts sehen, was sie nicht schon gesehen haben.“ (S. 15)

Der Vorhang geht auf und gibt den Blick auf eine leere Bühne frei. Die vier Sprecher treten in Alltagskleidung aus dem Bühnenhintergrund hervor. Das Licht geht wieder an, im Saal wie auf der Bühne. Die Schauspieler bewegen anfangs ihre Lippen, als würden sie noch proben. Dann rufen sie laut und in einem wilden Durcheinander Beschimpfungen, ohne diese an das Publikum zu richten. Die Kakophonie geht allmählich in einen einheitlichen Sprachrhythmus über. Es folgt ein kurzer Moment der Stille, ein Blick ins Publikum – und die Schauspieler fangen nacheinander und in beliebiger Reihenfolge zu sprechen an.

Geplatzte Erwartungen

Die Schauspieler heißen die Zuschauer willkommen und erklären, dass es sich bei dem Stück nur um eine Vorrede handelt. Es wird nichts gezeigt, was das Publikum nicht schon von anderswo kennt. Aber auch nichts von dem, was es sonst an dieser Stelle zu sehen bekommt. Ein Schauspiel? Gegenstände? Eine bestimmte Atmosphäre? Eine andere Welt? Nichts von alledem. Die Zuschauer werden zu Anschauern und Angeschauten in einem gleichmäßig ausgeleuchteten Raum. Es gibt keine Illusionen, keine gespielten Träume, keine vorgespielte Handlung oder künstlich erzeugte Betroffenheit; keine überspringenden Funken, keine knisternde Spannung, keine Bretter, die die Welt bedeuten. Die Sprecher stellen klar: Diese Bühnenbretter dienen ihnen ausschließlich dazu, darauf zu stehen. Das Stück dreht sich um das Publikum.

Subjekt und Objekt zugleich

Eine tiefere Bedeutung des Ganzen existiert nicht, sagen die Sprecher. Auch die gegenstandslose Bühne stellt nichts dar. Sie ist leer, weil jeder Gegenstand überflüssig wäre. Weder Licht noch Dunkelheit, Geräusche, Raum, Zeit oder Gegenstände täuschen eine andere Wirklichkeit vor. Sinnlos auch, auf unausgesprochene Worte, schreiende Stille oder beredtes Schweigen zu warten. Die Sprecher bezeichnen sich als Sprachrohr des Autors. Alles geschieht ohne Absicht, egal ob Stolpern, Stottern oder dumme Gesichter. Schließlich sind sie Sprecher, keine Clowns. Sie interessieren sich im Übrigen nicht für die Zuschauer als Individuen, sondern als musterhafte Theaterbesucher mit ihrer Vorstellung von der Bühne „da oben“ und dem Zuschauerraum „hier unten“; mit ihrem Unbehagen darüber, zum Ereignis zu werden, obwohl sie sich eigentlich auf einen behaglichen Abend gefreut haben. Die Sprecher betrachten ihre Zuhörer als Objekte ihrer Worte, zugleich aber auch als Subjekte.

Theater im Hier und Jetzt

Die Schauspieler ziehen eine kurze Zwischenbilanz: Wahrscheinlich hat das Publikum die Wiederholungen, Widersprüche und Verneinungen bemerkt und die Dialektik des Stücks erkannt. Doch obwohl sie als Zuschauer bezaubernd aussehen – als abendfüllendes Programm sind sie ein Reinfall. Ja man könnte sie als echten dramaturgischen Fehlgriff bezeichnen. Was angesichts der fehlenden Handlung aber kein Drama ist.

„Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden. Sie werden ein Schauspiel ohne Bilder sehen.“ (S.15)

Die Zeit ist in diesem Stück, nach den Angaben der Sprecher, weder spielbar noch wiederholbar oder vergleichbar. Die Zeit auf der Bühne und die im Zuschauerraum sind identisch. Die Haare wachsen, die Schweißdrüsen sondern Flüssigkeit ab, und währenddessen vergeht die Zeit. Mit jeder verstrichenen Sekunde schafft sie einen neuen historischen Augenblick. Wie die Zuschauer nur im Hier und Jetzt existieren, so auch die Sprecher. Andererseits geben sie zu bedenken, dass sie die Zeit scheinbar wiederholen, indem sie so tun, als ob sie Worte wiederholen könnten.

„Sie spielen nicht mit. Hier wird Ihnen mitgespielt. Das ist ein Wortspiel.“ (S. 18)

In den Augen der Schauspieler stellen die Zuschauer eine verkleidete Theatergesellschaft dar, die sich verstellt, um eine Maskerade anzuschauen; entspannte Menschen auf Sitzplätzen, die ein Muster und eine Einheit bilden und zunehmend apathisch wirken. Wenn sie aufstünden, könnten sie besser dazwischenrufen, Widerspruch einlegen, Ungeduld demonstrieren, sich ihrer Körper und der Welt bewusst werden – anstatt kritiklos in ihr zu versinken. Sie hätten den Illusionen des Theaters mehr entgegenzusetzen. Sie wären mehr als nur ein Muster.

Ein klassisches Stück

Doch die Sprecher beteuern, ihr Publikum nicht anstiften zu wollen – weder zum Weinen noch zum Lachen. Sprechen ist für sie Handeln. Sie behaupten, auch die klassische dramatische Einheit von Zeit, Ort und Handlung zu bewahren: Schauspieler und Zuschauer befinden sich zur selben Zeit am selben Ort und sind Teil derselben Handlung.

„Hier wird nicht gehandelt, hier werden Sie behandelt. Das ist kein Wortspiel.“ (S. 21)

Das Ziel der Sprecher ist es, den Zuschauern zu helfen, sich ihrer selbst bewusst zu werden –ihrer Gliedmaßen, Finger, Zungen und Geschlechtsorgane, ihres Speichels, Schweißes und Atems. Die Sprecher fordern das Publikum auf, einen Moment lang nicht zu blinzeln, zu atmen oder zu schlucken – und dann zu blinzeln, zu atmen und zu schlucken. Auf diese Weise sollen sie sich der Tatsache bewusst werden, dass es um sie selbst und um ihre Gegenwart geht: Sie sind Mittelpunkt, Anlass, Ursache und auslösendes Moment zugleich, Komiker, jugendliche Liebhaber oder Salondamen – kurz: die eigentlichen Helden und Bösewichte des Stücks.

„Es gibt keine Hintertür. Es gibt auch nicht keine Tür wie in neueren Dramen. Die Abwesenheit einer Tür stellt nicht die Abwesenheit einer Tür dar.“ (S. 22)

Vor dem Betreten des Theaters haben die Zuschauer sich noch voneinander unterschieden, insofern sie ihren jeweiligen Alltagshandlungen nachgingen. Sie haben auf Uhren geschaut, Schlüssel umgedreht und sich auf den Weg gemacht – in der gemeinsamen Absicht vereint, ins Theater zu gehen. Sie haben Türen aufgehalten, anderen aus dem Mantel geholfen und einander Blicke zugeworfen, die Klingelsignale beachtet und sich dann erwartungsvoll zurückgelehnt.

Das Spiel dauert 90 Minuten

Die Zuschauer sind bereit gewesen, etwas mit sich geschehen zu lassen und einer fingierten Gegenwart als einer tatsächlich bereits geschehenen Vergangenheit zu folgen – gebannt, unbeweglich und starr. Ein Spiel in einer toten Atmosphäre, erzählt in einer toten Sprache und über einen unüberbrückbaren Graben hinweg, der Zuschauer und Schauspieler voneinander trennt. Oft, so die Sprecher, ist im Theater bedeutungsschwerer Unsinn gespielt worden, Stücke mit Hinter- und Untergründen und verstecktem Gehalt. Immer haben die Stücke eine Aussage gehabt – in einem Theater, das Arena, Tribunal oder moralische Anstalt sein wollte – immer mit zwei getrennten Zeiten: der gespielten Zeit und jener der Zuschauer – ein Widerspruch in sich, da Zeit unwiederholbar und deshalb unspielbar ist. Die Sprecher behaupten, dass nur ein zeitloses Spiel sich selbst genug und jedes andere deshalb unrein ist, ein Falschspiel – während ein reines Spiel einem Fußballspiel ähnelt, in dem die 90 Minuten der Spieler mit jenen der Fans identisch sind.

Null Komik, Tragik oder Poesie

Die Sprecher erörtern die Möglichkeit eines Zwischenspiels: Sie könnten dem Publikum etwas weismachen, zum Beispiel eine Statistik – oder Vorgänge darstellen, die zeitgleich irgendwo auf der Welt passieren. Sie könnten auch den Tod eines Menschen pathetisch verklären und so ihr Spiel wenigstens auf einen dramatischen Höhepunkt zulaufen lassen. Aber genau das wollen sie vermeiden. Sie möchten niemanden darstellen und nichts nachspielen oder der Vorstellungskraft ihrer Zuschauer überlassen. Natürlich, so räumen sie ein, fehlen dem Stück dadurch sowohl Komik als auch Tragik. Es gibt keine Vergangenheit, die sie heraufbeschwören, keine Gegenwart, mit der sie sich auseinandersetzen, und keine Zukunft, die sie vorwegnehmen. Die Schauspieler möchten kein Sterben nachspielen, wie es beständig irgendwo auf der Welt stattfindet, kein letztes Ausatmen und keinen letzten Samenerguss darstellen, sondern nur darüber sprechen; sie wollen nichts erfinden und sich weder auf mehreren Ebenen noch auf doppeltem Boden bewegen.

Schluss mit höflicher Distanz

Das Stück ist gemäß den Sprechern eine Vorrede zu einem zentralen Thema, nämlich zu den Sitten, Handlungen und zur Tatenlosigkeit der Zuschauer; zu ihrem Liegen, Sitzen und Gehen, zu künftigen Theaterbesuchen und Vorreden. Die Sprecher prophezeien dem Publikum, dass es bald Beifall klatschen oder sich dem verweigern wird, dass es aufstehen und den Vorhang zugehen sehen wird, dass es die Programme einstecken und geordnet die Mäntel von der Garderobe abholen, vielleicht noch ein Glas mit Freunden trinken und ansonsten den üblichen, einstudierten Ritualen zur Rückkehr in den Alltag folgen wird. Zuvor aber soll es noch beschimpft werden.

Publikumsbeschimpfung

Die Sprecher möchten mithilfe der Beschimpfung den Abstand zwischen sich und den Zuschauern verringern, damit diese ihnen nicht mehr zuhören, sondern sie anhören. Sie wollen allerdings nur solche Schimpfwörter benutzen, die das Publikum selbst gebraucht. Es geht nicht darum, einzelne Zuschauer persönlich zu beleidigen, sondern eine Beschimpfungsmusik zu spielen, im dafür angemessenen Tonfall des Duzens: „ihr Glotzaugen“.

„Wir spielen keine Handlung, also spielen wir keine Zeit. Hier ist die Zeit wirklich, indem sie von einem Wort zum andern vergeht.“ (S. 25)

Die Sprecher loben ihre Zuschauer als „Helden“, die unvergessliche Szenen geliefert und ihre Rolle perfekt ausgefüllt haben. Diese Würdigung schließen sie mit „ihr Rotzlecker“ ab. In Wahrheit hat das alles nichts genützt, denn das Beste haben die Zuschauer, diese „Gernegroße“, durch Weglassen erreicht.

„Alle drei erwähnten Umstände zusammen bedeuten die Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Dieses Stück ist also klassisch.“ (S. 32)

Die Sprecher loben ihr Publikum als „Vollblutschauspieler“ mit einer hohen Spielkultur: „ihr Gauner, ihr Schrumpfgermanen, ihr Ohrfeigengesichter“. Ein liebreizendes Spiel mit einer tollen Besetzung haben sie geboten, unvergesslich komisch und antik tragisch – „ihr Miesmacher“ und „willenlose Werkzeuge“.

„Die offensichtliche Bedeutungslosigkeit mancher Spiele machte gerade ihre versteckte Bedeutung aus.“ (S. 37)

Die Sprecher würdigen ihr Publikum als absolute Naturtalente auf der Bühne, um sie anschließend als „Saujuden“ und „KZ-Banditen“, „Untermenschen“ und „Nazischweine“ zu verunglimpfen. Sie loben die „gute Atemtechnik“ der Zuschauer und verspotten deren Maulheldentum. Die Zuschauer sind „Faschisten“, „Nihilisten“, „Kollektivisten“, sie sind „Herzkranke“, „Lebergeschwellte“ und „potentielle Tote“. Sie sind „Schwangerschaftsabbrecher“, „Unternehmer“ und „Kirchenführer“, „Helden des Alltags“ und „Leuchten der Wissenschaft“.

„Dadurch, dass wir Sie beschimpfen, werden Sie uns nicht mehr zuhören, Sie werden uns anhören.“ (S. 44)

Zuletzt heißen die Sprecher die Zuschauer nachträglich als „Brüder und Schwestern“, „Genossen“ und „Mitmenschen“ willkommen, danken ihnen und wünschen ihnen eine gute Nacht.

Bühnenanweisung

Der Vorhang fällt, öffnet sich aber sofort wieder. Die Sprecher schauen in den Zuschauerraum, ohne einzelne Zuschauer zu fixieren. Aus den Lautsprechern tönen lauter Beifall und schrille Pfiffe – oder auch Publikumsreaktionen auf ein Beatband-Konzert. Der Lärm hört erst auf, nachdem alle Zuschauer gegangen sind. Nun fällt der Vorhang.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Sprechstück Publikumsbeschimpfung macht erst ganz am Ende seine Drohung wahr: Im letzten Sechstel bricht ein Schwall wüster Beleidigungen über die Zuschauer herein – von harmlosen Schimpfworten („Rotzlecker“, „Kasperl“) bis hin zu groben Unterstellungen („Genickschussspezialisten“, „jüdische Großkapitalisten“), die von Lobeshymnen an das Publikum unterbrochen werden. Über weite Strecken ist das Stück eine Absage an die Formen des etablierten Theaters. Im rhythmischen Wechsel zwischen kurzen und langen Aussagesätzen zählen die Sprecher auf, was das Stück alles nicht ist: kein Schauspiel oder Dialog, weder episch noch symbolisch, jedoch durchaus klassisch dadurch, dass die aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung gegeben ist. Vieles ist auch absichtsvoll verwirrend: Einmal gemachte Aussagen werden gleich im nächsten Satz wieder zurückgenommen. Der Text ist von zahlreichen unpassenden Kritikerfloskeln durchsetzt. Handke bezeichnete sein Theaterdebüt im Rückblick als „verbales Rockkonzert“ – eine passende Charakterisierung: Vom unvermutet lauten Beginn über disharmonische Einlagen bis hin zum schrillen Schlussakkord hat Publikumsbeschimpfung alles, was es braucht, um dem Publikum noch lange in den Ohren zu klingen.

Interpretationsansätze

  • In Publikumsbeschimpfung zertrümmert Handke Theaterkonventionen – bis nichts als das nackte Gerüst übrig bleibt: die Sprache. Literatur wird nach Ansicht Handkes nicht mit Beschreibungen von Dingen gemacht, sondern mit der Sprache selbst. Diese ist immer subjektiv und kann folglich die Wirklichkeit nicht abbilden.
  • Ein Theater, das kein falsches Bild von der Wirklichkeit mehr vorspielt, sondern eine neue konstruiert, soll die Zuschauer aus ihrer Konsumentenhaltung befreien und zum Eingreifen ermuntern. Handkes Ziel war es, die Sprachschablonen des traditionellen Theaterbetriebs zu entlarven. Allerdings hat er keine fruchtbare Alternative zu bieten.
  • Wichtig ist nicht der Inhalt, sondern der Klang des Gesprochenen: Nicht umsonst forderte der Autor die Schauspieler auf, sich Beatles-Filme anzuschauen und Tell me von den Rolling Stones oder katholische Litaneien anzuhören. Theater soll nicht erklären, abstrahieren oder analysieren, sondern soll sinnlich erfahrbar werden.
  • Niemand darf sich gemütlich im Theatersessel zurücklehnen – dafür sorgt spätestens der Vorwurf der Nazi-Mittäterschaft am Ende des Stücks. Der Genozid an den Juden war für Handke der „Grundschock“ seines Lebens. Er war der Ansicht, dass die Deutschen sich ihren Sündenfall nie eingestanden hatten.
  • Die Beschimpfung richtete sich aber nicht nur gegen Altnazis, sondern traf ebenso Pazifisten, Neinsager oder Krebskranke. Diese Beliebigkeit drückt die einengende Wirkung von Sprache aus: Wer Menschen in Sprachschubladen presst, beraubt sie ihrer Individualität.
  • Handke ging es nicht nur um mediale Provokation und Selbstinszenierung. Er wollte zwar durchaus seinen Ruf als Krawallmacher festigen, gleichzeitig aber auch den Zuschauern eine Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Theater abverlangen.

Historischer Hintergrund

Umbruch in Gesellschaft und Literatur

Die 1960er-Jahre waren in Deutschland und Österreich eine Zeit des Umbruchs. Die juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen hatte mit dem ersten Auschwitz-Prozess (1963–1965) gerade erst begonnen. Noch immer befanden sich viele ehemalige Nazis in Amt und Würden. Die Autoren der Gruppe 47 bemühten sich um eine literarische Aufarbeitung der Nazizeit. Peter Weiss etwa verarbeitete in seinem dokumentarischen Drama Die Ermittlung seine Eindrücke als Beobachter der Auschwitz-Prozesse. Doch einer neuen Generation von Schriftstellern gingen die Vertreter des Neuen Realismus nicht weit genug: Der 23-jährige Peter Handke warf ihnen auf der Tagung in Princeton 1966 „Beschreibungsimpotenz“ vor: Ihrer Prosa fehle es an Haltung, sie sei läppisch und idiotisch. Günter Grass nannte Handkes Rede einen „Blattschuss“ für die Gruppe 47. Tatsächlich sollte sie sich ein Jahr später zum letzten Mal treffen.

Der Princeton-Eklat verdeutlichte die Spannungen zwischen den Generationen, die wenig später die ganze Gesellschaft erfassten. Studenten bildeten eine Außerparlamentarische Opposition (APO) und forderten mit Slogans wie „Trau keinem über 30“ und „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ das Establishment heraus. Sie protestierten gegen die seit 1966 in Deutschland regierende Große Koalition, gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg. Literatur und Protest befeuerten sich gegenseitig, waren aber nicht deckungsgleich: Einige Autoren, darunter Peter Handke, Hubert Fichte und Rolf Dieter Brinkmann, wehrten sich gegen Versuche der 68er, Literatur für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Sie postulierten das Ideal eines unabhängigen Schriftstellers.

Entstehung

Peter Handke lebte als mittelloser Jurastudent in Graz und hatte 1965 gerade seinen Debütroman Die Hornissen bei Suhrkamp untergebracht, als Verleger Siegfried Unseld ihm riet, zum Geldverdienen lieber ein Theaterstück zu schreiben. In einem Interview aus dem Jahr 2007 erinnert sich Handke: „Ich war ja damals mit einer Schauspielerin zusammen und wegen ihr viel im Theater. Es hat mich genervt, wie damals gespielt wurde, wie die Stücke Natur vorgetäuscht haben.“ Auch Bertolt Brechts episches Theater hielt Handke für „faulen Zauber“, weil Brechts Stücke die Wirklichkeit durch Fiktion ersetzten. Was ihm stattdessen vorschwebte, deutete er in der Grazer Radiosendung Bücherecke an, für die er damals Beiträge produzierte: Literatur solle hellhörig und hellsichtig machen. Durch sie könnten dem Leser und Schreiber „Augen und Ohren aufgehen auch für die nicht beschriebene Umwelt.“

Handkes Vorbilder waren vier Rockstars aus Liverpool: „Partei ergriffen wird für die Beatles“, konstatierte er in seiner ersten Radiosendung. Dazu gehöre „Widerwillen gegen einen scheinbar unveränderlichen Lebenszustand, Trotz, Ungehorsam und die viel zitierte Langeweile“. In einem Beitrag über das zeitgenössische Drama forderte er: „Das Theater soll wieder Teil der Welt der Zuschauer werden. Das Problem der Diskrepanz zwischen Spiel und Wirklichkeit ist noch immer ungelöst.“ Die Lösung, die Handke in seinem Ende Oktober 1965 fertiggestellten Stück Publikumsbeschimpfung vorschlug, überzeugte Unseld: „Es ist Ihnen da ein wirklich schönes Stück gelungen, das auch Aufführungschancen hat.“ Allein, es fehlte der Theaterintendant, der es auf sein Publikum loslassen wollte. Nach zahllosen Ablehnungen wurde das Stück schließlich am 8. Juni 1966 unter der Regie von Claus Peymann am experimentellen Frankfurter Theater am Turm uraufgeführt.

Wirkungsgeschichte

Der Skandal hielt sich in Grenzen: Einige Zuschauer schienen betroffen, andere belustigt, viele johlten und pfiffen, und eine Gruppe versuchte sogar die Bühne zu stürmen und durch laute Zwischenrufe den Vorwurf der Passivität zu widerlegen. Regisseur Peymann führte die Störer persönlich ab. Der Theaterkritiker Günther Rühle schrieb begeistert: „Was an diesem Abend der Uraufführung vor sich ging, erlebt man nur selten im Theater: den Ausbruch, den Durchbruch der Jugend.“ Handke hatte erst eineinhalb Monate zuvor mit seinem Auftritt in Princeton für einen Skandal gesorgt. Mancher warf ihm damals Kalkül vor. So oder so – die Doppel-Beschimpfung machte ihn zum ersten Popstar der deutschsprachigen Literaturszene. Doch nicht jeder nahm ihm die Pose ab: „So konsequent hat den Gag noch niemand ausgenützt, aus der scheinbaren Negierung des Theatralischen Theaterwirkung zu ziehen“, kritisierte Hans Heinz Hahnl anlässlich der Wiener Aufführung vom März 1967. Tatsächlich hatten sich die Regisseure den Bühnenanweisungen des Autors widersetzt und das Stück effektvoll und spielerisch inszeniert. Ob aus Ärger darüber oder nicht – Handke ließ es ab dem 1. August 1969 für die Bühne sperren und empfahl der Öffentlichkeit, den Text fortan als Lektüre zu genießen. Erst 1985 hob er das Verbot wieder auf. Heute ist das Stück längst zu dem geworden, was sein Schöpfer einst verunglimpfte: zum Klassiker.

Über den Autor

Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Seine Mutter stammt aus einer slowenisch-kärntnerischen Familie, sein Vater ist ein deutscher Soldat, anlässlich des Krieges in Österreich stationiert. Nach dem Abitur beginnt Handke ein Jurastudium in Graz. Aufgrund des Erfolgs seiner ersten literarischen Werke gibt er das Studium auf und arbeitet fortan als freier Schriftsteller. Nach Stationen in Paris, Österreich und Deutschland lebt er seit 1991 in Chaville bei Paris. Seine ersten Werke zeigen ihn als Vertreter einer sprachkritischen Literatur. Im Lauf der Zeit wendet er sich mehr dem traditionellen Erzählen zu. Im Zentrum seines Schaffens steht die Bemühung, subjektive Erfahrungen mitteilbar zu machen. Handke schreibt Essays, Gedichte, Hörspiele und Theaterstücke (etwa Publikumsbeschimpfung, 1966). Sein erster Roman Die Hornissen erscheint 1966. Außerdem übersetzt er fremdsprachige Werke ins Deutsche, etwa von Shakespeare, Jean Genet, Sophokles oder Julien Green. Gemeinsam mit Wim Wenders realisiert er mehrere Filme. 1971 entsteht Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. 1987 schreiben die beiden zusammen das Drehbuch für Der Himmel über Berlin. Handke wird mit etlichen bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter 1973 der Georg-Büchner-Preis. Seit den 90er-Jahren erregt Handke weniger mit seinen literarischen Texten Aufsehen als mit seinem Engagement für Serbien, das in einem Besuch beim ehemaligen Präsidenten Slobodan Miloševic während dessen Haft in Den Haag und in einer Rede auf Miloševic‘ Beerdigung im März 2006 gipfelt. Ein Sturm der Entrüstung ist Handke mit jeder Äußerung sicher. Im Frühjahr 2006 wird eine geplante Aufführung eines Handke-Stücks an der Pariser Comédie-Française wegen Handkes proserbischer Haltung abgesetzt. Der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf wird ihm im Mai 2006 zunächst von der Jury zuerkannt, vom Stadtparlament aber verweigert, woraufhin Handke seinerseits auf den Preis verzichtet.

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