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Putinismus
Buch

Putinismus

Wohin treibt Russland?

Propyläen, 2015 Mehr

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Bewertung der Redaktion

8

Qualitäten

  • Visionär
  • Hintergrund
  • Unterhaltsam

Rezension

Ein Land, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer niedriger ist als in Mali oder Afghanistan und in dem die Mehrheit der Bevölkerung einen der grausamsten Massenmörder aller Zeiten als Nationalhelden verehrt. Eine Bananenrepublik? Nein, sondern das Russland von heute. Helmut Schmidt verspottete einst die Sowjetunion als „Obervolta mit Atomwaffen“. Der Historiker Walter Laqueur teilt dieses geringschätzige Urteil nicht, auch wenn er über die kulturellen, demografischen und wirtschaftlichen Aussichten Russlands nichts Gutes zu berichten weiß. Er beschreibt das Land als einen angeschossenen Bären, der sich von Feinden umzingelt wähnt und mit seinem verletzten Stolz zur ernsthaften Gefahr werden kann. Russlandkenner Laqueur versucht erst gar nicht, dem Biest mit Verständnis oder gar Milde zu begegnen. Seine Kenntnis der russischen Geistesgeschichte und seine hintersinnige Ironie sorgen für eine interessante und kurzweilige Lektüre. Neue Erkenntnisse oder konstruktive Vorschläge zum Umgang mit der gekränkten Nation bietet er jedoch nicht. getAbstract empfiehlt das Buch allen, die wissen wollen, wie Russland unter Putin funktioniert und wohin es sich entwickelt.

Zusammenfassung

Der Weg zur Diktatur

Russland hat in wenigen Jahrzehnten bzw. zum Teil auch in nur wenigen Jahren eine enorme Wegstrecke zurückgelegt: von der proletarischen Internationale zum chauvinistischen Nationalismus, vom totalen Atheismus zur Glorifizierung der orthodoxen Kirche, vom Versuch eines demokratischen Sozialismus über einen chaotischen Raubtierkapitalismus bis hin zu Wladimir Putins Diktatur. Nicht alle Entwicklungen folgten einer zwingenden inneren Logik. So sind etwa Szenarien denkbar, in denen sich die Sowjetunion ohne die Reformen Michail Gorbatschows mehr schlecht als recht ins neue Jahrtausend gerettet hätte, um dann von den dramatisch gestiegenen Öl- und Gaspreisen zu profitieren. In diesem Fall würde das Volk heute die kluge Wirtschaftspolitik der kommunistischen Führung preisen.

Doch es kam bekanntlich anders. Putin sollte Jahre später den Zerfall der Sowjetunion als „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen, und tatsächlich verschlechterte sich in den 1990er-Jahren das Leben für einen Großteil der Menschen. Boris Jelzins Wirtschaftsreformen machten wenige sehr reich und viele sehr arm. Die Sparer verloren schon in der ersten...

Über den Autor

Walter Laqueur ist Historiker und Publizist. Er wurde 1921 in Breslau geboren und lebt in London und Washington, wo er für das Center of Strategic und International Studies arbeitet. Er spricht fließend Russisch und reist seit den 1950er-Jahren regelmäßig nach Russland.


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    A. vor 9 Jahren
    Viele der genannten (und tatsächlich auch existierenden) Probleme in Russland sind auf die ökonomische Schocktherapie unter Jelzin zurückzuführen, der im Westen als Demokrat gefeiert wurde und wird, obwohl er das Parlamentsgebäude und aufs eigene Volk schiessen liess, um sein Reformprogramm durchbringen und seine Herrschaft per Dekret verlängern zu können. (Nachzulesen unter anderem in Kapitel 11 von Naomi Kleins "The Shock Doctrine"). Geburtenrate, Lebenserwartung und wirtschaftliche Leistung, aber auch der Einfluss auf Russland in der internationalen Politik sind zu dieser Zeit stark zurückgegangen, stiegen aber unter Putins Herrschaft wieder an. Ich halte es für falsch, die hohe Zustimmung für Putin in Russland als autoritär-sowjetnostalgischen Tick abzutun, zumal es der Bevölkerung nach 15 Jahren Putin/Medwedew wesentlich besser geht als nach 8 Jahren Jelzin. Russland wird oft dafür kritisiert, dass es seine Wirtschaft nicht diviersifiziert hat und stattdessen von seinen Bodenschätzen lebt. Wenn es nach Jelzin und den Chicago-Boys in seinem Schlepptau (Jeffrey Sachs, Lawrence Summers: alles eifrige Anhänger Milton Friedmans) gegangen wäre, hätte Russland heute nicht einmal die Einnahmen aus Erdöl und Erdgas, zumal diese Quellen alle hätten privatisiert werden sollen. Verhindert wurde das von Putin. Dass die Renten pünktlich und vollumfänglich ausbezahlt werden, die Wohnungen geheizt sind und alte Damen bedenkenlos nach Mitternacht ihre Hunde in den Moskauer Aussenbezirken Gassi führen können, wird nach Jahren mit leeren Supermarkregalen und Staatskassen und oligarchischer Selbstbedienung in weiten Teilen der Bevölkerung höher gewichtet als mehr politische Mitbestimmung und Homo-Ehe. Man muss diese Haltung nicht gutheissen, sollte aber zumindest den Perspektivwechsel einmal versuchshalber machen, um ein vermeintlich reaktionäres Volk von fast 150 Millionen (zu einem grossen Teil in Europa lebend) besser verstehen zu können. Dieses Buch trägt meiner Meinung nach wenig dazu bei.
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      vor 9 Jahren
      Es ist sicherlich richtig, dass die meisten Russen sich eher von ihrer Angst vor Chaos leiten lassen, als sich um den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen zu sorgen. Doch eben diesen Zusammenhang beschreibt Laqueur in seinem Buch und legt auch die historischen Gründe für diese gesellschaftliche Stimmung dar. Jelzin und seine Oligarchenbande kriegen bei ihm durchaus ihr Fett weg. Und natürlich sieht Laqueur auch den Fortschritt, den Putins Politik in vielen Teilen gegenüber derjenigen seines Vorgängers bedeutet. Dass er aber in jener Stimmung mit ihrer Tendenz ins Irrationale mehr Anlass zur Sorge findet also zur Entwarnung, kann man ihm schwerlich als Einseitigkeit auslegen.
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    A. vor 9 Jahren
    Hat getAbstract auch Russlandbücher die etwas ausgewogener sind?
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      vor 9 Jahren
      Das Buch ist durchaus mit kühler Feder verfasst und frei von polemischen Zuspitzungen. Laqueur ist ein ausgewiesener Kenner der ehemaligen Sowjetunion und des jetzigen Russlands. Hier formuliert er lediglich seine Besorgnis angesichts bestimmter Entwicklungen, deren Brisanz kaum zu leugnen ist: Großmachtsdenken, Stalinkult, Braindrain, Massenalkoholismus, schwach ausgebildete Zivilgesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass Laqueur nur allzu gerne Hoffnungsvolleres berichten würde.
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      vor 9 Jahren
      Wenn Russland angeblich wie hier beschrieben ein "Volk von Säufern" ist, dann ist deren Raumfahrtstechnik, auf die selbst amerikanische Astronauten schwören um zur internationalen Weltraumstation zu fliegen, doch aber ziemlich überraschend. Ich war leider erst zwei Wochen in Russland, und könnte jetzt Herrn Laqueur's Ansicht nicht teilen. Zum Glück habe ich einen Arbeitskollegen der gerade für längere Zeit in Russland verweilt - der kann mir dann mehr davon erzählen. Ich denke, jeder der sich für Russland interessiert, sollte am besten mal selber hinfliegen und sich ein Bild vor Ort machen.

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