Joseph Roth
Radetzkymarsch
dtv, 2005
Was ist drin?
Der Verfall der österreichischen k. u. k. Monarchie: Von Joseph Roth meisterhaft mit dem Schicksal einer Familie verwoben.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Der schleichende Niedergang des Kaiserreichs
Joseph Roths Radetzkymarsch wird von vielen als der beste Roman des österreichischen Autors bezeichnet; es ist mit Sicherheit sein längster. Thema des Großwerks: der Untergang der Donaumonarchie und der Übertritt des alten Europas in die Moderne. Auch wenn der Kaiser als Romanfigur mehrmals vorkommt, zeichnet Roth den Verfall der alten Ordnung eher im Privaten nach: Er begleitet drei Generationen einer alten Bauernfamilie von 1859 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Joseph von Trotta verdient sich den Adelstitel, als er in der Schlacht von Solferino dem jungen Kaiser das Leben rettet. Sein Sohn Franz, der auf Geheiß des Vaters keine Offizierslaufbahn einschlagen darf, macht eine Beamtenkarriere als Bezirkshauptmann. Nüchtern, abgeklärt und in Formen erstarrt, erzieht er seinen Sohn Carl Joseph zu Gehorsam und Pflichterfüllung. Dessen Leben jedoch verläuft nicht so geradlinig wie geplant: Vom ungeliebten Militärdienst gelangweilt, greift er zur Flasche, verwickelt seinen besten Freund in ein Duell und gerät in Gefahr, die Familienehre aufs Spiel zu setzen. Im Kriegsausbruch findet die Dekadenz ihr Ende – die alten Werte werden endgültig begraben.
Take-aways
- Radetzkymarsch ist der bekannteste Roman des Österreichers Joseph Roth.
- Sein Titel geht auf den gleichnamigen Marsch von Johann Strauß zurück, der im Roman als Symbol alter Glorie leitmotivisch auftaucht.
- Anhand der Familiengeschichte der Trottas beschreibt Roth den schleichenden Untergang des österreichischen Kaiserreichs.
- Bei der Schlacht von Solferino rettet Joseph Trotta seinem Kaiser Franz Joseph I. das Leben und wird dafür in den Adelsstand erhoben.
- Seinem Sohn Franz von Trotta verbietet Joseph die Militärlaufbahn: Der Junior macht Karriere als Bezirkshauptmann.
- Franz von Trotta wiederum schickt seinen Sohn Carl Joseph zur Militärschule, damit dieser die Offizierslaufbahn einschlagen kann, die ihm selbst verwehrt blieb.
- Carl Joseph werden als Enkel des „Helden von Solferino“ alle Wege geebnet, er selbst fühlt sich in der Kaserne jedoch eingesperrt.
- Seinen Freund, den Regimentsarzt, verwickelt er durch eine Unachtsamkeit in ein Duell – der Doktor kommt ums Leben.
- Von Schuldgefühlen geplagt, lässt sich Carl Joseph in eine weit entfernte Garnison versetzen, macht Spielschulden und verfällt dem Alkohol.
- Nachdem er einen Arbeiteraufstand mit Schusswaffen niedergeschlagen hat, wird er beinahe unehrenhaft aus der Armee entlassen.
- Carl Joseph quittiert den Militärdienst, rückt jedoch beim Ausbruch des Krieges wieder ein. Beim Wasserholen für seine Soldaten wird er vom Feind erschossen.
- Roths Roman erschien 1932 und wurde ein großer Erfolg. Allerdings musste der Autor kurz nach der Veröffentlichung vor den Nationalsozialisten ins Exil fliehen.
Zusammenfassung
Die Schlacht bei Solferino
Der Offizier Joseph Trotta befehligt einen Trupp Österreicher der Infanterie in der Schlacht von Solferino, an der auch der junge Kaiser Franz Joseph teilnimmt. Als der Monarch in einer Gefechtspause einen Feldstecher zur Hand nimmt, stürzt Trotta herbei, reißt ihn zu Boden und rettet ihm damit das Leben: Eine Kugel, die dem Kaiser gegolten hat, durchschlägt sein Schlüsselbein. Als er nach vier Wochen wieder gesund zur Garnison zurückkehrt, darf sich Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje nennen – man hat ihn in den Adelsstand erhoben. Bald darauf heiratet Trotta standesgemäß und zeugt einen Sohn, den er Franz nennt. Als dieser mit fünf Jahren sein erstes Lesebuch bekommt, entdeckt Joseph Trotta darin einen Artikel, der sich mit der Schlacht von Solferino befasst. Der Kaiser sei, liest der Geadelte empört, von einem jungen Herrn auf einem Fuchs gerettet worden – nicht von einem Leutnant der Infanterie. Joseph von Trotta erbittet eine Audienz und beschwert sich am Thron über diese Geschichtsverdrehung. Der Kaiser beschwichtigt ihn mit 5000 Gulden und erhebt ihn in den Freiherrenstand. Baron von Trotta aber hat seinen Glauben an Monarchie und Tugend verloren. Er bittet um Entlassung und lebt künftig als kleiner slowenischer Bauer auf dem Gut seines Schwiegervaters in Böhmen. Seinen Jungen schickt er ins Pensionat und verfügt, dass er niemals aktiver Soldat werden dürfe. Mit 18 Jahren bringt Franz in den Sommerferien einen Freund mit, der ein Porträt des Barons von Trotta anfertigt, was diesen sehr freut. Er hängt es an die Wand und wird angesichts seiner Einsamkeit und seines Alters zusehends milder. Kurz darauf stirbt er und vermacht das Gut dem Militärinvalidenfonds.
Militärische Unterweisung
Franz ist nach dem Wunsch seines Vaters Jurist geworden und hat als Bezirkshauptmann eine angesehene Stellung inne. Sein Sohn Carl Joseph besucht die Kavalleriekadettenschule in Mährisch-Weißkirchen. Jedes Jahr, jeweils am Sonntagmorgen zu Beginn der Sommerferien, fragt sein Vater ihn drei Stunden lang seine schulischen Leistungen ab – auch diesmal. Und wie jeden Sonntag positioniert sich die Militärkapelle vor dem Haus und spielt den Radetzkymarsch. Carl Joseph steht dabei auf dem Balkon und nimmt es wie eine Huldigung entgegen. Während des Mittagessens spielt die Kapelle weiter. Nach der Nudelsuppe zerlegt der Bezirkshauptmann den Tafelspitz und beklagt sich über die zunehmend schlechte Qualität. Dann bittet er den Kapellmeister zum Kaffee herein, ohne der Unterhaltung viel Aufmerksamkeit zu schenken. Carl Joseph macht derweil einen Spaziergang zum Haus des Wachtmeisters Slama. Der ist zwar nicht zu Hause, doch seine Frau bittet Carl Joseph herein. Mit Unbehagen trinkt er die ihm angebotene Limonade und wird von Frau Slama verführt. Von nun an sucht er sie immer auf, wenn Wachtmeister Slama Dienst hat.
Der Kondolenzbesuch
Seinen Großvater kennt Carl Joseph nur von dem Porträt, welches im Herrenzimmer hängt. Obwohl der Diener Jacques schon beim „Helden von Solferino“ im Dienst stand, ist von ihm nicht viel über den alten Trotta zu erfahren. Ein Jahr später verlässt Carl Joseph die Akademie mit guten Noten, die er weniger seinem eigenen Können als vielmehr der Berühmtheit seines Großvaters verdankt. Er wird als Leutnant den Ulanen zugeteilt. Von seinem Vater erfährt er, dass Frau Slama im Kindbett gestorben sei. Aus Trauer kann er einen zweitägigen Wienaufenthalt mit seinem Vater gar nicht richtig genießen. In einem Kaffeegarten treffen sie Professor Moser, den Freund des Vaters, der damals das Porträt des Großvaters gemalt hat – und der mittlerweile dem Schnaps verfallen und verarmt ist.
„Die Sache ist recht unangenehm. Aber schlecht kommen wir beide dabei nicht weg! Lassen S’ die Geschicht’!“ (der Kaiser, S. 20)
Wieder zu Hause, besucht Carl Joseph den Wachtmeister Slama, um zu kondolieren. Die Begegnung ist für beide Seiten höchst unangenehm. Als Carl Joseph schon wieder draußen ist, überreicht ihm Herr Slama ein mit silbernen Bindfäden umwickeltes Päckchen. Es sind die Briefe, die Carl Joseph Frau Slama geschrieben hatte. Verstört hastet er in eine Kneipe und bestellt Cognac. Auch sein Vater ist da, der ihn fragt, ob Slama ihm die Briefe gegeben hat. Er wusste davon, bestand aber auf einer persönlichen Übergabe. Einträchtig gehen sie nach Hause.
Ein Duell aus Versehen
Zwei Tage später rückt Carl Joseph ein. Als Offizier wird von ihm erwartet, dass er an den Abenden das Kasino besucht, das von Rittmeister Tattenbach geführt wird. Carl Joseph fühlt sich eingesperrt und lebt das Leben des „Enkels eines heldenhaften Großvaters“. Er freundet sich mit dem Regimentsarzt Dr. Max Demants an, der aufgrund seiner unmilitärischen Erscheinung ein Außenseiter ist. Seine Frau Eva liebt der Doktor abgöttisch, obwohl er weiß, dass sie ihn betrügt. Eines Abends berichtet Tattenbach den Kameraden, er habe Leutnant Trotta auf der Straße getroffen. Dieser habe auf seine Einladung entgegnet, er habe noch ein Rendezvous. Kurz danach wird Carl Joseph in Begleitung Evas gesehen, als er am Kasino vorbeigeht. Obwohl Trotta Eva nur aus Höflichkeit nach Hause begleitet hat, zieht der Rittmeister Tattenbach den armen Doktor so lange mit der Geschichte auf, bis diesem nichts anderes übrig bleibt, als Tattenbach zum Duell zu fordern: am nächsten Tag um 20 nach sieben. In der Nacht sucht Carl Joseph den Doktor überall und findet ihn schließlich in einer schmuddeligen Kneipe, die für Offiziere verboten ist. Während im Hintergrund einige Takte des Radetzkymarsches erklingen, sitzen die Freunde zusammen. Trotta kommen die Tränen. Bei dem Duell am nächsten Morgen fallen sowohl der Doktor als auch sein Widersacher.
Versetzt an die russische Grenze
Carl Joseph Trotta fühlt sich schuldig am Tod des Freundes und lässt sich in eine andere Garnison versetzen. Anstandshalber geht er zur Witwe des Doktors, um sich zu verabschieden. Bei Eva Demant trifft er auf deren Vater, welcher die Meinung vertritt, Duelle seien im 20. Jahrhundert einfach nicht mehr zeitgemäß. Der Adel müsse langsam seine Sonderrechte aufgeben, meint er. Carl Joseph erwidert, er kümmere sich nie um Politik. Zurück in der Kaserne erwartet ihn ein Päckchen. Der Arzt hat ihm seinen Säbel und seine Taschenuhr vermacht. Leutnant Trotta wechselt zu seiner neuen Einheit: einem Jägerbataillon zwei Meilen vor der russischen Grenze. In diesem von Sümpfen durchzogenen Grenzgebiet stellen die „Kleinen Abende“ des Grafen Wojciech Chojnicki die einzige Abwechslung dar. Dort treffen sich Offiziere des Jägerbataillons, des ebenfalls dort stationierten Dragonerregiments und Herren der russischen Grenzregimenter.
Kaiserreich in der Krise
Eines Tages liegt Jacques, der alte Diener des Bezirkshauptmanns, mit Fieber im Bett – für Franz von Trotta vor allem eine Störung seines gewohnten Tagesablaufs. Nachmittags ist ein Sokolfest angesagt, eine Versammlung von Delegierten slawischer Nationen, die ihre Rechte fordern. Die Bewegung der Sozialdemokratie wird immer stärker. Wie weit ist es nur mit dem Kaiserreich gekommen? Nach dem Tod des Dieners lässt Herr von Trotta Jacques fürstlich begraben und beschließt, seinen Sohn zu besuchen. In der Grenzstadt werden Vater und Sohn von Graf Chojnicki eingeladen. Als der Graf vom Kaiser spricht, diesen salopp „Franz Joseph“ nennt und verkündet, die Monarchie Österreich-Ungarns liege in den letzten Zügen, ist Vater Trotta erschüttert. Ein Österreich ohne Monarchie kann er sich nicht vorstellen. Bei einer Abendgesellschaft spürt der Bezirkshauptmann eine meilenweite Distanz zwischen ihm und seinem Sohn. Der hat sich ans Trinken gewöhnt, um die Langeweile im Grenzstädtchen zu vertreiben. Als ihn sein Vater ermahnt, sich vom Schnaps fernzuhalten, sagt Carl Joseph, er könne die Toten nicht vergessen. Der Vater spürt die innere Verzweiflung des Sohnes, doch er fühlt sich selbst einsam und hilflos. Ein Telegramm ruft Franz Trotta schon am nächsten Tag zurück.
Eine weitere Affäre
Bald darauf eröffnet der Wirt, in dessen Haus die Offiziere logieren, einen Spielsaal. Die Leutnants fühlen sich wie in der großen weiten Welt. Als ein Hauptmann am Roulettetisch 2000 Kronen verliert, schlägt der ortsansässige Geldverleiher vor, ihm Geld zu borgen, wenn ein bisher Unbeteiligter für ihn bürgt. Carl Joseph unterschreibt. In den folgenden Nächten verliert der Hauptmann immer mehr Geld und Carl Joseph verliert sein Pferd. Graf Chojnicki will ihn vom Hauptmann und dessen Spielsucht loseisen und arrangiert, dass der Leutnant eine Bekannte nach Wien begleiten soll: Frau von Taußig, die Ehefrau eines irrsinnigen Fabrikbesitzers, die mit 42 Jahren wesentlich älter ist als Carl Joseph und welche die Klinikaufenthalte ihres Manns für Seitensprünge nutzt. In einem Zugcoupé erster Klasse fahren sie los, und kaum ist die Nacht hereingebrochen, verführt Valerie von Taußig den jungen Leutnant. Angekommen in Wien, begleitet er die Dame an Fronleichnam zu einem Umzug des Kaisers und hat bei der Musik seit Langem wieder Heldenträume, wie einst auf dem Balkon seines Vaters zu den Klängen des Radetzkymarsches. Der Anblick des Festumzuges wirkt so erhebend auf ihn, dass er die übrige Zeit in Wien tatsächlich genießen kann.
Aufstand und kaiserlicher Besuch
Zurück in der Garnison erfährt Leutnant Trotta, dass die Arbeiter der hiesigen Borstenfabrik streiken. Er bekommt den Befehl, mit einem Trupp Jäger für Ruhe zu sorgen. Die Gendarmen versuchen, die Demonstration aufzulösen, aber die Aufständischen werfen mit Gegenständen nach den Truppen. Leutnant Trotta gibt den Schießbefehl – und erleidet einen Schädelbruch, als er selbst von einem Geschoß getroffen wird. Während er mit einer Gehirnentzündung zwei Wochen im Fieber liegt, fordert die Opposition, dass das Verhalten des Leutnants untersucht werde. Akten füllen sich und der Fall gelangt bis zum alternden Kaiser. Dem sagt der Name des Leutnants erst nichts, doch dann flüstert ihm ein Diener ein, dass ein Herr Trotta ihm einst in der Schlacht von Solferino das Leben gerettet habe. Der Kaiser schreibt „günstig erledigen“ in die Akte. Vier Wochen nach Carl Josephs Entlassung aus dem Krankenhaus kommt der Kaiser zu Besuch. Er bleibt vor dem Leutnant stehen, erkundigt sich nach dessen Namen und sagt, er erinnere sich an Trottas Vater, den Helden von Solferino. Leutnant Trotta erwidert, das sei sein Großvater gewesen. Der Kaiser staunt, wie die Jahre vergingen.
Schulden und Schmach
Carl Joseph schreibt dem Vater, er wolle die Armee verlassen. Für diesen bricht eine Welt zusammen. Doch auf Anraten eines Freundes schreibt er dem Sohn, er solle entscheiden, wie er es für richtig halte. Carl Joseph sieht man immer häufiger in Wien, wo er seine Geliebte Frau von Taußig besucht und ihr teure Geschenke macht. Das Geld dafür leiht er vom neuen Garnisonshauptmann Jedlicek. Bald hat er 7250 Kronen Schulden. Eines Abends erscheint der Geldverleiher Kapturak, um das Geld bei ihm einzutreiben. Betrunken geht Leutnant von Trotta mit einem Säbel auf ihn los. Die Folgen: Ihm droht eine unehrenhafte Entlassung aus der Armee – was natürlich etwas ganz anderes als ein freiwilliger Abgang ist. Verzweifelt schreibt er an seinen Vater, der, um an das nötige Geld zu kommen, den Kaiser um eine Audienz bittet. Entgegen dem Zeremoniell wird Franz von Trotta an einem Morgen vor der Abfahrt des Kaisers nach Bad Ischl empfangen. Der Kaiser und Trotta sehen einander ähnlich, so als wären sie Brüder. Es werde „alles erledigt“, sagt der Monarch, ihm die Hand zustreckend. So ist die Ehre Leutnant Trottas wiederhergestellt, die Schulden werden beglichen und Kapturak, der Geldverleiher, muss die Garnisonsstadt verlassen.
Der Enkel des Helden fällt
Die kleine Grenzstadt feiert ein Dragonersommerfest, zu dem zahlreiche Gäste von überall her anreisen. Einer von ihnen, Oberst Festetics, erhält einen unheilschwangeren Brief: „Thronfolger gerüchtweise in Sarajevo ermordet.“ Graf Chojnicki verkündet die Nachricht einigen Gästen, u. a. auch Leutnant Trotta. Plötzlich beginnen die ungarischen Festteilnehmer, sich in ihrer Landessprache zu unterhalten, argwöhnisch beobachtet von einem Slowenen, der sie ebenso hasst wie die Serben. Da Österreich nun ohnehin verloren sei, reicht Trotta seinen Abschied ein. Sein Vater ist untröstlich. Trotta übersiedelt in das Häuschen eines Försters auf Graf Chojnickis Land und beginnt für ihn als Verwalter zu arbeiten. Doch die Arbeit füllt ihn nicht aus. Eines Abends, als Carl Joseph einen seiner üblichen Spaziergänge über die Dörfer macht, läuten alle Glocken im Städtchen: Der Krieg hat begonnen. Trotta zieht seine Uniform wieder an. Schon in derselben Nacht marschiert sein Bataillon. Nach einigen Tagen bekommt die Truppe großen Durst, doch alle Zisternen in den Dörfern sind von Leichen verstopft. Endlich entdecken sie gegen Mittag einen Brunnen auf einem Bahndamm. Doch als die durstigen Männer zum Wasser rennen, werden sie von der anderen Seite des Bahndamms vom Feind beschossen. Trotta lässt sich nicht abhalten, nimmt zwei Eimer und schöpft mitten im Kugelhagel Wasser. In seinem Kopf dröhnt der Radetzkymarsch. Mit den vollen Eimern macht er sich auf den Rückweg – und wird tödlich in den Kopf getroffen. Wenige Monate danach sterben der Kaiser und der alte Herr von Trotta in derselben Nacht.
Zum Text
Aufbau und Stil
Joseph Roths Roman besteht aus drei etwa gleich großen Teilen mit jeweils mehreren Kapiteln und einem Epilog. In einer Art ironischen Parallelhandlung wiederholt Carl Joseph all die Schritte seines heldenhaften Großvaters: Statt des Kaisers rettet er das Bild des Kaisers aus einem Bordell, statt beim Kampf ums Vaterland wird er bei der Niederschlagung eines Streiks an der gleichen Stelle wie sein Großvater verwundet und schließlich stirbt er – nicht heldenhaft mit dem Gewehr, sondern mit zwei Wassereimern in der Hand. Roths Stil ist nüchtern, parataktisch, prägnant und rhythmisch sehr ausgefeilt. Es gelingt dem Autor, eine Stimmung in wenigen, kurzen Sätzen zu skizzieren oder aber mit großer Geste eine Szenerie (z. B. die Schlacht von Solferino) zu beschreiben. In den Dialogen wirken Roths Figuren teilweise vor allem durch das, was sie nicht sagen: durch bedeutungsvolles Schweigen und die gekonnt inszenierte Auslassung. Vorausdeutungen und Rückblenden ordnen sich in den großen Erzählbogen ein, vermitteln Todesahnungen und erinnern an den Glanz der Vergangenheit. Der Erzähler ist allwissend, dennoch wundert er sich zuweilen über den Verlauf der Handlung und schafft durch den Einsatz der Personalpronomina „wir“ und „uns“ eine persönliche Nähe zum Leser. Fast auf jeder Seite verwendet Roth erlebte Rede (meist im Imperfekt mit Prädikat und Subjekt) oder inneren Monolog (Prädikat und Subjekt fehlen; der Leser erhält direkten Einblick in die Gedanken) – mitunter fließend nebeneinander.
Interpretationsansätze
- Das Buch schildert eine Familiengeschichte als Niedergang, einen langsamen Verlust der Wurzeln: Durch die eher zufällige Rettung des Kaisers erhält die Familie Trotta den Adelsschlag. Franz von Trotta erstarrt in seiner Beamtenlaufbahn innerlich. Sein Sohn Carl Joseph geht wieder zum Militär, langweilt sich aber zu Tode und wird zum Trinker. Er spürt eher dumpf, wie sich die Welt um ihn herum auflöst.
- In mehreren Interpretationen wird auf den Zusammenhang zwischen der schwindenden Religiosität und dem sinkenden Kaisertum hingewiesen: Die österreichische Doppelmonarchie funktioniere nur als „Gottesgnadentum“. Ohne diesen Nimbus sei sie dem Tode geweiht – zugunsten des sich ausbreitenden Kults der Nationalstaaten.
- Mit Graf Chojnicki, einem Alter Ego des Autors, führt Roth eine Gestalt ein, die als einzige Romanfigur den Niedergang der Monarchie voraussagt und offen ausspricht. Für Chojnicki ist der Kaiser nur noch ein schwächlicher Mensch, der den Thron hält, „einfach durch das Wunder, dass er auf ihm noch sitzen kann“.
- Die Animositäten, die zwischen den einzelnen Nationalitäten des Vielvölkerstaats herrschen, werden deutlich, als während eines Festes die Ermordung des Thronfolgerpaares in Sarajevo bekannt gegeben wird: Sofort danach sind sich Ungarn und Slowenen spinnefeind.
- Der Name und das Leitmotiv des Romans gehen auf den von Johann Strauß (dem Vater) komponierten und zu Ehren des Feldmarschalls Graf Radetzky von Radetz im Jahr 1848 in Wien uraufgeführten Marsch zurück. Radetzky war hochdekoriert und der bedeutendste Heerführer für Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Historischer Hintergrund
Die Schlacht bei Solferino
Das Schlüsselereignis im Radetzkymarsch ist eindeutig die Schlacht in der Nähe des lombardischen Städtchens Solferino südlich des Gardasees. Hier rettet Trotta dem jungen Kaiser von Österreich das Leben und wird geadelt. Ausgangspunkt für die historische Schlacht am 24. Juni 1859 war ein Geheimabkommen zwischen dem Königreich Sardinien-Piemont und Frankreich. Der italienische Staatsmann Camillo Benso di Cavour wollte mit dem Abkommen die italienischen Einheitsbestrebungen unterstützen – auf Kosten von Österreich, das Teile des Landes besetzt hielt. Es gelang ihm, die Unterstützung Napoleons III. zu gewinnen, dem er die Abtretung von Savoyen und Nizza versprach. Nach einer Provokation Cavours stellte Österreich ein Ultimatum. Als dieses nicht eingehalten wurde, erklärte der Habsburger Kaiser Sardinien-Piemont den Krieg. Unter dem Kommando von Kaiser Franz Joseph I. höchstpersönlich kam es zur Entscheidungsschlacht bei Solferino: 120 000 Soldaten Piemont-Sardiniens trafen hier auf 110 000 Österreicher, die schließlich zurückweichen mussten. Es gab rund 10 000 Tote und doppelt so viele Verletzte. Napoleon III. bot Österreich einen Waffenstillstand an, denn der relativ unerfahrene Feldherr war von den vielen Toten in der Schlacht schockiert. Im Vorfrieden von Villafranca erhielt Frankreich die Lombardei von Österreich und trat sie 1860 an Sardinien-Piemont ab. Die Gräuel der Schlacht von Solferino veranlassten später den Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes.
Entstehung
Roth begann mit der Arbeit am Radetzkymarsch vermutlich im Herbst 1930. Sein neuer Verlag Kiepenheuer war durch den Erfolg des vormals veröffentlichten Hiob ganz begierig darauf, einen neuen Roman aus seiner Feder verlegen zu können. Roth selbst hatte die Sehnsucht, die alte Zeit der Monarchie heraufzubeschwören – und zwar in einer eher deprimierenden Rückschau, die seiner eigenen Depression angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen entsprach. Zwei Jahre brauchte er für die Niederschrift. Er versuchte, sich in dieser Zeit von nichts ablenken zu lassen, seien es Engagements für Zeitungen, seien es die vielfältigen Möglichkeiten der Zerstreuung an seinen jeweiligen Aufenthaltsorten. Davon gab es viele: Roth lebte zwischen 1930 und 1932 u. a. in Frankfurt, Goslar, Leipzig, Köln, Paris, Marseilles, Antibes, Badenweiler und Rapperswil. Vollendet wurde der Roman 1932 in Berlin. Am Kurfürstendamm erinnert heute eine Gedenktafel an das Café-Restaurant „Mampes Gute Stube“, in dem Roth sich zuweilen aufhielt. Die Arbeit an seinem „altösterreichischen Roman“ fiel ihm nicht leicht. Etliche Briefe aus der Zeit sprechen eine deutliche Sprache: Offenbar hatte er Versagensängste und die Furcht, die Geschichte zu verpfuschen. Der Plot dehnte sich unter seiner Feder immer weiter aus: Ursprünglich war eine Zeitspanne von 1890 bis 1914 geplant, doch schließlich erstreckte sich die erzählte Zeit von der Schlacht von Solferino im Jahr 1859 bis zum Tod des österreichischen Kaisers. Als der Abdruck in Fortsetzungen in der Frankfurter Zeitung bereits begann, wusste Roth noch nicht, wie der Roman enden würde. Er litt unter permanenten Geldengpässen, sein aufwändiger Lebenswandel und immer neue Therapieversuche an seiner psychisch kranken Frau kosteten ein Vermögen. Der Verlag gewährte ihm Vorschüsse, die sich auf insgesamt 22 000 Mark beliefen.
Wirkungsgeschichte
Der Roman erschien in Fortsetzungen in der Frankfurter Zeitung vom 17. April bis zum 9. Juli 1932. Die überarbeitete Buchausgabe kam im September 1932 in den Handel. Wie der Vorgänger Hiob verkaufte sich der Roman sehr gut: Bis Dezember 1932 wurden rund 30 000 Exemplare gedruckt. Roth hoffte, aus den Verkäufen binnen kürzester Zeit seine Vorschüsse zurückzahlen und schließlich auch von der Gewinnbeteiligung profitieren zu können. 1933 jedoch musste er bei der Machtübernahme der NSDAP nach Paris fliehen. Alle Einnahmen aus seinen Büchern verblieben in Deutschland. So erntete Roth – abgesehen von den Vorschüssen – mit Radetzkymarsch nur Ruhm, aber kein Vermögen. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nahm den Radetzkymarsch in seinen vieldiskutierten Kanon der wichtigsten deutschen Bücher auf, relativierte Roths Bedeutung für die Literatur aber an anderer Stelle: „Er gehört zu den großen deutschen Stilisten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aber ein Einfluss auf die Literatur lässt sich seinem Werk nicht nachrühmen.“ Thematische Ähnlichkeiten finden sich sowohl bei Thomas Mann (Buddenbrooks, 1901) als auch bei Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften, 1930–1943). Das bei Musil und Roth verarbeitete Motiv des Untergangs der Donaumonarchie findet sich auch noch in anderen Werken, wenn auch mit jeweils anderen Schwerpunkten: Im Drama von Franz Theodor Csokor (3. November 1918, 1936) bricht das Habsburgerreich erst mit dem verlorenen Krieg auseinander, Karl Kraus (Die letzten Tage der Menschheit, 1919) zeichnet ein düsteres Bild der kriegsbegeisterten Österreicher, die sich in ein heilloses Chaos stürzen. Der Roman wurde dreimal verfilmt: 1958 unter dem Titel Hoch klingt der Radetzkymarsch (Regie: Géza von Bolváry) und jeweils 1965 (Michael Kehlmann) und 1995 (Axel Corti) unter dem Originaltitel. Die Trottas tauchen in einem späteren Werk Roths (Die Kapuzinergruft, 1938) wieder auf.
Über den Autor
Joseph Roth wird am 2. September 1894 im galizischen Brody bei Lemberg geboren und ist jüdischer Abstammung. Nach dem Studium der Philosophie und Germanistik nimmt er ab 1916 am Ersten Weltkrieg teil, als Feldjäger und Mitarbeiter des Pressedienstes. Ein Jahr zuvor veröffentlicht Roth seine erste Novelle mit dem Titel Der Vorzugsschüler. Während des Krieges schreibt er fürs Feuilleton und verfasst Gedichte. Nach Kriegsende kehrt er nach Wien zurück, aber schon 1920 zieht es ihn nach Deutschland. In Berlin heiratet er Friederike Reichler. Ab 1923 abermals in Wien, veröffentlicht Roth die Romane Das Spinnennetz (1923), Hotel Savoy (1924) und Die Rebellion (1924) in verschiedenen linksgerichteten Zeitungen. 1925 reist er als Korrespondent der Frankfurter Zeitung nach Paris, ein Jahr später geht es in die Sowjetunion, wonach Roth sich vom Sozialismus abwendet. In den folgenden Jahren beschäftigt sich sein schriftstellerisches Werk unter anderem mit dem Judentum im Osten (Flucht ohne Ende, Juden auf Wanderschaft, beide 1927, und Hiob, 1930) und dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Dies wird vor allem in Radetzkymarsch (1932) – oft als Roths Hauptwerk bezeichnet – deutlich: Darin begleitet er drei Generationen einer Familie und erzählt parallel dazu den Untergang des Kaiserreichs. Ab 1928 korrespondiert Roth mit Stefan Zweig, woraus sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. 1930 wird seine Frau in eine Nervenheilanstalt eingeliefert; zwölf Jahre später wird sie im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten ermordet. 1933 flieht Roth vor den Nazis nach Paris. Seine Arbeit bei diversen Exilzeitschriften wird von seiner zunehmenden Alkoholsucht überschattet: Private Probleme und der Kummer über die politische Entwicklung lassen ihn immer öfter zur Flasche greifen; eine Krankheit, die ihn schließlich auch das Leben kostet. Bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in einem Pariser Armenhospital erscheint unter anderem der Roman Die Kapuzinergruft (1938), postum erscheinen die Werke Die Legende vom heiligen Trinker (1939) und Leviathan (1940).
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