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Reigen

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Reigen

Zehn Dialoge

Fischer Tb,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Einer der größten Theaterskandale aller Zeiten: Schnitzlers Stück über Partnerwechsel und sexuelle Doppelmoral.


Literatur­klassiker

  • Drama
  • Moderne

Worum es geht

Das erotische Skandalstück schlechthin

Was passiert, wenn die Gattin mit einem Arm den Liebhaber und mit dem anderen den Ehemann umschlungen hält? Wenn dieser von den tödlichen Folgen des Ehebruchs schwadroniert und später selbst ein blutjunges Mädel verführt? Und wenn er dieses dann zu absoluter Treue auffordert und es ihm trotzdem schon bald mit einem selbstverliebten Dichter Hörner aufsetzt? Gar nichts! Denn das Leben ist kurz und der nächste Sexualpartner nicht weit. „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“, summte der österreichische Walzerkönig Johann Strauss, und so treiben es die zehn tragischen Helden in Arthur Schnitzlers Reigen am nassen Donauufer, in spitzenverzierten Himmelbetten und in stinkenden Absteigen, als gäbe es kein Morgen. Doch das Stück ist viel mehr als ein Klassiker des Wiener Fin de Siècle: Schnitzler schuf mit psychologischem Tiefenblick und entlarvenden Dialogen die Archetypen des modernen, triebgesteuerten Menschen. Ein Blick in die Tageszeitung oder in die eigene Verwandtschaft genügt, um festzustellen, dass die Mechanismen von Betrug und Selbstbetrug, von öffentlichem Schein und menschlichem Sein noch die gleichen sind wie vor 100 Jahren.

Take-aways

  • Arthur Schnitzlers Reigen löste 1920 einen der größten Theaterskandale aller Zeiten aus.
  • Inhalt: Zehn Wiener Originale aus allen Gesellschaftsschichten fahren auf dem Karussell der Triebe: Eine Dirne schläft mit einem Soldaten, dieser mit einem Stubenmädchen, das Stubenmädchen mit einem jungen Herrn usw., bis sich der Kreis schließt und ein Graf es wieder mit der Hure treibt. Sie alle lügen und betrügen einander während des Vor- und Nachspiels.
  • Das Stück ist eine Satire auf rigide Machtverhältnisse und die Doppelmoral um die Jahrhundertwende.
  • Wien genoss zwar den Ruf als sexuell freizügigste Stadt Europas. Geduldet wurde aber nur, wer sich dezent verhielt.
  • Schnitzler hielt sich daran: Er beschrieb den Weg zum Geschlechtsakt, nicht aber dessen Vollzug.
  • Dennoch wurde das Buch nach seinem Erscheinen als Pornografie verunglimpft und in Deutschland verboten.
  • Nach der Uraufführung in Berlin 1920 und in Wien 1921 kam es zu Saalschlachten und antisemitischen Ausschreitungen.
  • Obwohl der gegen die Berliner Aufführung angestrengte Prozess mit einem Freispruch endete, untersagte der Autor weitere Aufführungen.
  • Erst seit 1982 ist das Stück wieder auf deutschsprachigen Bühnen zu sehen.
  • Zitat: „Das Leben ist so leer, so nichtig – und dann, – so kurz – so entsetzlich kurz! Es gibt nur ein Glück … einen Menschen finden, von dem man geliebt wird –“

Zusammenfassung

Die Dirne und der Soldat

Ein Soldat will gerade über die Wiener Augartenbrücke zurück in die Kaserne, als ihn eine Dirne anspricht. Doch er winkt ab, da er kein Geld hat. Uniformierte bekämen es bei ihr umsonst, lockt sie. Nun ist sein Interesse erwacht. Bis zu ihrer Wohnung ist es ihm zu weit, darum gehen sie zum Donauufer hinunter. Da sie Angst hat auszurutschen möchte sie es auf einer Bank machen, doch der Soldat kümmert sich nicht drum und nimmt sie auf dem Boden. Danach steht er eilig auf, um sich davonzumachen. Seinen Namen nennt er ihr nicht. Sie heiße Leocadia, ruft sie hinterher, und ob er ihr nicht wenigstens das Geld für den Hausmeister geben könne. Er macht sich nur lustig über sie und verschwindet.

Der Soldat und das Stubenmädchen

Der Soldat Franz führt das 19-jährige Stubenmädchen Marie von einer Tanzveranstaltung am Wurstelprater durch dunkle Alleen hin zu den Praterauen. Sie sträubt sich, aber Franz hört nicht auf sie. Er bietet ihr das Du an und schubst sie grob im Dunkeln über die Wiese. Sie wolle wieder unter Leute, protestiert Marie. Dazu bräuchten sie keine Leute, lacht Franz. Nach dem Koitus klagt sie: „Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn.“ Er antwortet: „A was – G’sicht ...“, und macht sich noch einmal über sie her. Dann lässt er sie achtlos im Gras liegen und zündet sich eine Zigarre an. Marie schimpft ihn einen schlechten Menschen und bittet ihn inständig, sie nach Hause zu begleiten. Aber Franz möchte wieder zurück zum Fest. Widerstrebend folgt sie ihm. Im Saal kauft er ihr ein Bier und tanzt mit einer blonden Frau davon.

Das Stubenmädchen und der junge Herr

Marie schreibt an einem heißen Spätnachmittag einen Brief an ihren Geliebten, den Soldaten. Sie ist mit ihrem Arbeitgeber, dem jungen Herrn Alfred, allein zu Hause; die Eltern sind aufs Land gefahren und die Köchin hat Ausgang. Da ruft Herr Alfred sie unter fadenscheinigen Vorwänden zu sich, bestellt erst Cognac, dann Wasser. Marie wäscht sich beim Wasserholen die Hände und richtet ihre Frisur. Als sie ihm das Glas reicht, berühren sich die Finger der beiden. Der Herr kann sich nicht auf seinen französischen Roman konzentrieren und läutet wieder. Er fragt, ob der Doktor am Vormittag da gewesen sei. Marie verneint. Dann will er ihre Bluse begutachten und zieht das Mädchen dabei auf seinen Schoß. Er knöpft die Bluse auf und beglückwünscht sie zu ihrer schönen, weißen Haut. Marie wehrt sich zaghaft. Wenn jetzt jemand läute, stammelt sie. Dann mache man eben einfach nicht auf, antwortet er. Tatsächlich klingelt es während des Akts mehrmals. Doch als der Herr Marie endlich zur Tür schickt, ist der Besuch längst fort. Maries Zärtlichkeit ist dem jungen Herrn plötzlich peinlich. Er flüchtet ins Kaffeehaus. Auch Marie verlässt das Zimmer, nicht ohne eine Zigarre zu entwenden.

Der junge Herr und die junge Frau

Alfred läuft in einem eleganten Salon auf und ab, raucht nervös, geht ins benachbarte Schlafzimmer, stellt Cognac und Naschereien bereit und versprüht Veilchenparfüm. Endlich tritt die lange erwartete junge Frau tief verschleiert durch die Tür; offenbar hat sie Angst, dass jemand sie erkennt. Sie behauptet, nur auf einen Sprung hier zu sein. Alfred drängt sie zum Bleiben. Ob er sie denn lieb habe, fragt Emma, und beschwert sich über die Hitze im Zimmer. Auch als sie ihre Montur ablegt, beteuert sie noch, sofort wieder gehen zu wollen. Doch Alfred überschüttet sie mit Komplimenten und kitschigen Liebesbeteuerungen. Emma will wissen, ob er in diesen Räumen schon andere Frauen bei sich hatte, aber Alfred weicht aus. Das Leben sei zu kurz, um unglücklich zu sein, haucht er. Sie nimmt eine kandierte Birne und reicht ihm mit dem Mund eine Hälfte davon. Dann trägt Alfred die junge Frau ins Schlafzimmer und macht sich an ihrem Kleid zu schaffen. Sie lässt sich von ihm die Schuhe aufknöpfen und schlüpft ins Himmelbett. Woher der Veilchenduft komme, will Emma wissen. „Das bist du selbst“, antwortet Alfred.

„Geh, bleib jetzt bei mir. Wer weiß, ob wir morgen noch’s Leben haben.“ (die Dirne zum Soldaten, S. 26)

Leider klappt es bei ihm nicht. Gedemütigt zitiert er eine Szene aus einem Roman von Stendhal, in der Männer gerade bei den Frauen, die sie am meisten lieben, nicht können. Doch schließlich macht er Emma dafür verantwortlich, da er sich ihrer Liebe nicht sicher sein könne. Sie will gehen und bittet ihn, sich beim Abschiedskuss nicht zu rühren. Und siehe da, es regt sich etwas. Als sie sich etwas später zufrieden wieder ankleidet, muss sie schnell zurück zu ihrem Mann, damit dieser keinen Verdacht schöpft. Sie ziert sich zwar erst, aber dann verabredet sie sich doch erneut mit dem jungen Herrn. Alfred lächelt selbstzufrieden. Er hat sein Ziel erreicht: ein Verhältnis mit einer „anständigen Frau“.

Die junge Frau und der Ehemann

Emma liegt im Bett und liest, als ihr Ehemann Karl das Zimmer betritt. Überrascht fragt sie, ob er denn nicht mehr arbeiten müsse, und deutet an, dass sie sich von ihm vernachlässigt fühlt. Der Gatte predigt daraufhin, dass eine Dosierung der Liebe der Ehe nur förderlich sei. Schließlich hätten sie in den fünf Jahren schon an die zehn oder zwölf Liebschaften miteinander gehabt. Er beneide sie um die voreheliche Reinheit und Unbedarftheit, die sie in der schützenden Obhut ihrer Familie habe bewahren dürfen. Ihm dagegen sei die Lust an der Liebe durch die widerwärtigen Geschöpfe, auf die er angewiesen gewesen sei, fast verdorben worden. Damit ist Emmas Neugier geweckt. Sie möchte mehr über diese Geschöpfe erfahren und auch wissen, ob verheiratete Frauen darunter waren. Jetzt wird ihr Gatte misstrauisch und unterzieht sie einem Kreuzverhör. Sie soll ihm versprechen, schon beim geringsten Verdacht den Kontakt zu den potenziellen Ehebrecherinnen zu beenden. Sie will wissen, ob er denn Erfahrungen mit einer solchen habe. Ja, sagt er, aber die Betreffende sei nun tot – ein Schicksal, das diese Frauen wohl häufig treffe. Auf die Frage, ob es Liebe war, sagt er barsch: „Lügnerinnen liebt man nicht.“ Dann löscht er das Licht. Nach dem Sex erinnert sie ihn an ihre erste Nacht in Venedig und wünscht sich die Leidenschaft von damals zurück. Doch er meint, ein Ehemann könne nicht immer lieben, er müsse hinaus ins feindliche Leben, zum Kämpfen.

Der Gatte und das süße Mädel

Im Chambre separée eines feinen Restaurants hält Karl ein süßes Mädel aus. Während er seine Havannazigarre raucht, schaut er ihr dabei zu, wie sie exquisite Speisen verschlingt, und schenkt ihr Wein nach. Offenbar hat er ihr schon vorher das Du angeboten, aber es kommt ihr nicht leicht über die Lippen. Sie gibt sich unbedarft und trifft damit genau den Geschmack des älteren Herrn. Das Mädel ist 19 Jahre alt, wohnt noch bei den Eltern, hilft viel im Haushalt, war schon einmal zum Fasching mit einer Freundin und deren Bräutigam in einem Chambre separée, geht gern ins Theater. Dann sagt sie, ihr sei schwindlig. Ob wohl etwas im Wein war? Sein Kopf versinkt in ihrem Schoß. Später, während sie noch schlummert, betrachtet er sie etwas reumütig. Ob er sie gern habe, fragt sie ihn schläfrig und erhält ein „Freilich“ zur Antwort. Dann will sie die Wahrheit über den Wein wissen. Schließlich sei sie sonst nicht so. Doch Karl weist den Vorwurf der Giftmischerei entrüstet von sich. Er schlägt zwar ein Wiedersehen vor, behauptet aber, dass er in Graz wohne und nicht immer Zeit habe. Sie glaubt ihm nicht und fragt ihn, ob er verheiratet sei. Karl hat nun die Chuzpe, ihr ein schlechtes Gewissen wegen der Verführung zur Untreue einzureden, aber sie winkt ab: Seine Frau mache es sicher genauso. Er ist empört, will sich aber weiter mit ihr treffen. Unter einer Bedingung: dass sie ihm treu bleibe.

Das süße Mädel und der Dichter

Das Mädchen betritt mit dem Dichter Robert ein gemütliches, abgedunkeltes Zimmer. Die beiden sind drei Stunden lang auf dem Land spazieren gegangen; er drängt sie, sich auf dem Diwan auszuruhen. Obwohl sie gar nicht müde ist, klimpert er ihr auf dem Pianino ein Schlaflied vor. Ihre naive Unschuld entzückt ihn und er beginnt zu dichten. Dann bietet er ihr Cognac an, doch sie hat vor allem Hunger. Er hat aber nichts Essbares im Haus, und in ein Restaurant traut sie sich nicht, aus Angst, erkannt zu werden. Er schlägt ein Chambre separée vor und will wissen, ob sie schon einmal in einem gewesen sei. Nur mit ihrer Freundin und deren Bräutigam, antwortet sie. Der Dichter fantasiert davon, dass sie sich in einem indischen Schloss befinden würden. Das Mädchen versteht kein Wort. Während sie sich ihr Mieder auszieht, bittet sie ihn, ja nicht „schlimm“ zu werden. Dann küsst er sie heiß.

„‚O Gott, sein die Männer schlecht. Was, Sie machen’s sicher mit einer jeden so.‘ – ‚Das wär’ z’viel!‘“ (das Stubenmädchen und der Soldat, S. 31)

„Überirdische Seligkeit“, seufzt er danach und teilt ihr seinen Künstlernamen mit: Biebitz. Da sie noch nie von ihm gehört hat, verspricht er, ihr Karten fürs Burgtheater zu schenken. Für etwas Lustiges, wie sie es wünscht. Er zündet eine Kerze an und betrachtet ihren nackten Körper. Beschämt verlangt sie nach einer Decke. Nun gibt er vor, in Wahrheit gar nicht Schriftsteller, sondern Volkssänger zu sein. Er plant, mit ihr ein paar Wochen lang in der Einsamkeit der Natur zu leben – doch sie winkt ab. Auch mit seiner Frage, ob sie glücklich sei, kann sie nicht viel anfangen. Am Ende verspricht er, ihr eine Karte für eines seiner Stücke zu schenken, sie anschließend vom Theater abzuholen und nach ihren Empfindungen zu fragen. Dann erst werde er sie wirklich kennen.

Der Dichter und die Schauspielerin

Robert und eine Schauspielerin sind in einem Landgasthof eingekehrt. Sie hält ihn an der kurzen Leine, führt ihn mit launischen Bemerkungen in eine Richtung, nur um ihn völlig unvermittelt in eine andere zu zerren. Er lässt es sich demütig gefallen. Erst als sie ihn mit einem ehemaligen Geliebten eifersüchtig macht, reagiert er verschnupft. Während sie sich auskleidet, schickt sie ihn aus dem Zimmer und ruft ihn dann wie einen Diener wieder zu sich. Wen er in diesem Moment betrüge, fragt sie – und lässt ihn raten, wer es in ihrem Fall sei. Dann fordert sie ihn auf, sich reglos neben sie zu legen. Langsam verlässt ihn die Geduld. Es dämmert ihm, dass sie sich mit dieser Affäre gegenseitig betrügen, und dass selbst dieses abgebrühte Frauenzimmer in ihrem Innersten von der wahren Liebe träumt. Nach dem Geschlechtsakt sprechen sie über sein neuestes Stück. Wieder stichelt sie: Erst nennt sie ihn eine „Laune“, dann sagt sie, dass er ihr gleichgültig sei, und schließlich, dass sie vor Liebe zu ihm umkomme. Im Gegenzug ärgert er sie mit der Bemerkung, dass er ihre Vorstellung am Vortag geschwänzt habe.

Die Schauspielerin und der Graf

Zwölf Uhr mittags. Die Schauspielerin liegt unpässlich im Bett und liest Zeitung, als der Graf in Uniform zu ihr tritt. Er beglückwünscht sie zu der hinreißenden Vorstellung am Vorabend. Auch ihn verunsichert sie mit ihrem theatralischem Gehabe. Sie sei ein „Problem“, rätselhaft und schwer zu fassen, meint der Graf. Sie plaudern ein wenig über seinen jahrelangen Dienst in Ungarn. Dann fragt er sie unvermittelt nach der Liebe zu den Menschen, dem Glück. Sie glaubt an beides nicht und der Graf ebenso wenig: Genuss und Rausch, flüchtige Empfindungen, ja; aber Liebe? Dann ändert die Schauspielerin ihre Taktik, macht Komplimente, behauptet, am Vorabend nur für ihn gespielt zu haben. Der Graf küsst ihre Hand und verspricht, am Abend wiederzukommen; eine Frau wie sie solle man nicht vor dem Frühstück vernaschen. Sie lässt das allerdings nicht gelten und reißt ihn an sich. Nach dem Geschlechtsakt versucht der Graf, auf Abstand zu gehen. Er lehnt ein erneutes Rendezvous am Abend nach der Theatervorstellung ab. Sie macht sich über ihn lustig, verdächtigt ihn der nachlassenden Manneskraft – bis er dem zweiten Beischlaf an diesem Tag endlich zustimmt.

Der Graf und die Dirne

Der Graf erwacht auf einem Diwan in einem ärmlichen, schmutzigen Zimmer; im Bett schläft die junge Prostituierte Leocadia. Staunend schaut er um sich. Er kann sich nicht erinnern, wie und wann er hier gelandet ist. Er weiß nur, dass er ziemlich betrunken gewesen sein muss. Gerade will er sich aus dem Staub machen, da wacht die Dirne auf und verlangt einen Kuss. Er betrachtet sie nachdenklich. Wie sie so vor ihm im Bett liegt, sieht sie sehr unschuldig aus. Er möchte wissen, ob es ihr überhaupt noch Spaß mache und ob sie glücklich sei. Ja, ihr gehe es gut, antwortet sie verwundert. Die Männer könne sie sich aussuchen, bald werde sie aus diesem Loch in die Stadt ziehen, und heiraten wolle sie auf keinen Fall. Noch nicht. Der Graf küsst ihre Augen und gefällt sich in der Vorstellung, dass er die Hure gar nicht angerührt habe. Aber Leocadia zerstört seine romantische Illusion: Sie hätte ihm schon gefallen, aber er sei sofort eingeschlafen. Beim Hinausgehen gibt er dem Stubenmädchen ein Trinkgeld und wünscht ihm eine gute Nacht. „Guten Morgen“, antwortet Maria forsch.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Figuren bilden im wahrsten Sinne einen wollüstigen Reigen: Was beim Bodensatz der Gesellschaft anfängt, geht weiter im Milieu der Klein- und Großbürger, Künstler und Adligen, bis der Graf wieder bei der Dirne landet und der Reigen sich schließt. Je höher die Figuren auf der gesellschaftlichen Leiter stehen, desto länger dauert das verbale Vor- und Nachspiel, desto mehr wird gelogen, taktiert und sich geziert. Ist es endlich so weit, dass der Akt vollzogen wird, wird die Handlung auf eine Zeile aus schlichten Gedankenstrichen reduziert. Die Fantasie des Lesers ist gefragt, die dazugehörigen Bilder im Kopf zu liefern. Schnitzler gelingt es allein durch die Kunst des Dialogs, die gesellschaftlichen Dünkel der Charaktere, ihre Ängste, Träume und Machtfantasien zu entlarven und sie in ihrer Verletzlichkeit vorzuführen. Er mischt Wiener Dialekt, Bildungshochdeutsch und Adelsjargon, setzt Klassenunterschiede mithilfe eines ungelenken Eiertanzes ums Duzen und Siezen in Szene und lässt männliche Selbstverliebtheit an weiblicher Bauernschläue abprallen. Das Ergebnis ist komisch und melancholisch zugleich: Man lacht herzlich über die sextollen Heuchler und ihre grotesken Verrenkungen. Aber man spürt auch, dass es für keine der zehn Figuren so bald einen Ausweg aus ihrer Rolle geben wird.

Interpretationsansätze

  • Schnitzler lässt im Reigen gewissermaßen die Puppen tanzen: Wie Marionetten reichen die zehn Figuren einander abwechselnd die Hände, mechanisch und fremdbestimmt, ein ewiger Kreislauf. Die Fäden werden vom Geschlechtstrieb gezogen, dem sich niemand entziehen kann.
  • Beim Koitus sind alle Menschen gleich: Zwar unterscheiden sich die Figuren in Bezug auf ihre gesellschaftliche Stellung. Doch beim Sex versuchen sie alle, das kleine bisschen Glück zu erhaschen, krallen sich kurz verzweifelt daran fest, bis die Ernüchterung einsetzt und die Suche nach dem nächsten Abenteuer beginnt.
  • Die Männer nutzen ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht gnadenlos aus: Der Soldat prellt die Dirne um ihren Lohn, und sein Verkehr mit dem Stubenmädchen ist nichts anderes als eine Vergewaltigung ohne Gegenwehr. Das süße Mädel prostituiert sich in der Hoffnung, ihrer schäbigen, kleinbürgerlichen Existenz zu entkommen. Einzig die Schauspielerin diktiert ihren Partnern die Konditionen des Beischlafs – ihr Ruhm und die Zugehörigkeit zur Randgruppe der Boheme machen es möglich.
  • Schnitzler unterstreicht die bürgerliche Doppelmoral seiner Zeit: Männer wurden gemäß der so genannten „Dampfkesseltheorie“ ermutigt, wenn nötig „Dampf abzulassen“. Stubenmädchen hatten die inoffizielle Aufgabe, den jungen Herren praktischen Sexualunterricht zu erteilen. Gleichzeitig aber mussten Bürgermädchen als Jungfrauen in die Ehe gehen, und Ehefrauen setzten mit einem Seitensprung ihre bürgerliche Existenz aufs Spiel.
  • Das Stück ist eine bitterböse Satire auf die gesellschaftlich erstarrten Verhältnisse zur Zeit Schnitzlers. Aber es schwingt auch Hoffnung auf eine bessere Ära mit: „Gute Nacht“ murmelt der verkaterte, dekadente Graf. Ihm hat die letzte Stunde geschlagen. Das Stubenmädchen weist ihn mit einem forschen „Guten Morgen“ zurecht: Ihr winkt eine bessere Zukunft.

Historischer Hintergrund

Hauptstadt der Dekadenz

Das Wien der Jahrhundertwende wirkte wie ein Treibhaus der Künste: Am politischen Himmel des Vielvölkerstaats Österreich braute sich zwar ein gewaltiges Gewitter zusammen, und die rasch voranschreitende Industrialisierung und Technisierung verunsicherte die Menschen. Doch in den Kaffeehäusern und Salons des Fin de Siècle blühten Literatur, Musik und Malerei auf. Aus dem Humus des Vergangenen, so die Hoffnung, würde etwas Neues, Besseres hervorgehen. Mitte der 1890er Jahre stand hierfür die Literatengruppe „Junges Wien“ um Hermann Bahr, der den bis dahin bestimmenden Naturalismus zu überwinden suchte. Er traf sich u. a. mit Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Peter Altenberg und Felix Salten im Café Griensteidl und blies zum Aufbruch in die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts.

Die Hauptstadt der Doppelmonarchie war auch die der Doppelmoral: Frei nach dem Motto der Fledermaus-Operette von Johann Strauss – „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“ – wurde Prostitution unter der Hand geduldet und gefördert, während man die betroffenen Frauen und Mädchen offiziell ächtete und aus der Stadt vertrieb. 15 000, also knapp 2 % der weiblichen Bevölkerung, sollen um die Jahrhundertwende als Voll- oder Teilzeithuren gearbeitet haben. Der Schriftsteller Stefan Zweig sprach in seinen Memoiren von einer „Armee der Prostituierten“. Sextouristen durchkämmten mit dem Reiseführer in der Hand die heißesten Viertel auf der Suche nach Schnitzlers „süßem Mädel“. Und die fiktiven erotischen Memoiren der Dirne Josefine Mutzenbacher aus dem Jahr 1906 drückten der Donaumetropole endgültig den Stempel auf, der größte Sündenpfuhl Europas zu sein.

Entstehung

Schnitzler entwarf das Stück Ende 1896. Der 34-jährige Schriftsteller hatte zuvor seinen Durchbruch als Bühnenautor erlebt und gerade eine Affäre mit der berühmten Burgtheater-Schauspielerin Adele Sandrock beendet. Das Wiener Prostituiertenmilieu war ihm bestens bekannt, und er hatte flüchtige Beziehungen zu mehr oder minder anständigen Frauen. Dass er damit gegen die herrschenden Moralvorstellungen verstieß, war ihm schmerzlich bewusst. In seiner Autobiografie Jugend in Wien erzählt er von einem Gespräch mit seinem Vater, der einen simplen Ratschlag gegen Gewissensbisse parat hatte: „Man tut es ab.“ Im Juli 1897 vollendete Schnitzler das Werk. Er hatte das Gefühl, im Spannungsfeld zwischen moralischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit zu versagen. Er sehne sich nach den Frauen, die er geliebt habe, notierte er in sein Tagebuch, doch „oft komm ich mir vor – als wär ich das herzloseste, kälteste Individuum, nur von Begierden, kaum von Gefühlen; von Rührungen vielleicht, aber nie von Innigkeit bewegt“. Schnitzler hielt den Reigen seinerzeit für undruckbar und unaufführbar, war jedoch überzeugt, dass er, „nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Theil unsrer Cultur eigentümlich beleuchten würde“. 1900 brachte er den Reigen auf eigene Kosten als Privatdruck für Freunde heraus. Drei Jahre später wurde das Stück in Wien veröffentlicht, bald darauf aber in Deutschland verboten.

Wirkungsgeschichte

Erst mit der Aufhebung der Zensur nach dem Ersten Weltkrieg gab Schnitzler das Stück zur Aufführung frei. Die Berliner Inszenierung vom 23. Dezember 1920 war nach heutigen Maßstäben geradezu prüde: Bei den Gedankenstrichen im Text verdunkelte sich die Bühne und ein grüner Zwischenvorhang fiel herab. Der Kritiker Alfred Kerr schrieb nach der Premiere: „Die Hörerschaft wurde nicht schlechter davon. Und die Welt ist, zum Donnerwetter, kein Kindergarten.“ Er irrte sich. In Berlin und Wien, wo das Stück im Februar 1921 zur Aufführung kam, organisierten rechtsextreme und antisemitische Vereinigungen Proteste und Saalschlachten. Schnitzler wurde als „Pornograf“ und „jüdischer Schweineliterat“ beschimpft. Im gegen die Berliner Aufführung angestrengten Prozess nahmen Zeugen an der angeblichen „Verherrlichung des Ehebruchs“ Anstoß. Dass der Prozess mit einem Freispruch endete, sahen viele als hoffnungsvolles Signal für die Freiheit der Kunst. Doch Schnitzler hatte die antisemitischen Ausschreitungen in Wien miterlebt. Er verhängte daraufhin ein Aufführungsverbot, das 60 Jahre lang in Kraft blieb.

Selten lagen Volkes Stimme und die der Kritiker so weit auseinander wie in diesem Fall: Kerr lobte das Stück als „kleines Dekameron unserer Tage“ und Georg Hensel als „Totentanz des Eros“. Richard Alewyn verwarf die Unzuchtdebatte als groben Unsinn und charakterisierte Schnitzler als Moralisten: „Weit entfernt, den Appetit auf amoureuse Betätigung zu wetzen, ist es vielmehr geeignet, ihn gründlich zu verderben.“ Sigmund Freud gestand 1922 in einem Brief an Schnitzler ein, dass der Dichter eine Art literarischer Doppelgänger von ihm sei: „So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe.“ Der Reigen wurde mehrmals verfilmt, u. a. 1950 von Max Ophüls und 1964 von Roger Vadim. Erst seit 1982 wird das Stück wieder auf deutschen Bühnen aufgeführt.

Über den Autor

Arthur Schnitzler wird am 15. Mai 1862 als Sohn des jüdischen Klinikdirektors Johann Schnitzler in Wien geboren. Schon früh packen ihn die Leselust und das Interesse an der Schriftstellerei. Obwohl der Vater die literarischen Ambitionen seines Sohnes fördert, studiert Arthur auf dessen Wunsch Medizin in Wien. 1882 folgt ein Jahr beim Militär als Sekundararzt. 1885, mit 23, promoviert er in Medizin. In den folgenden Jahren arbeitet er als Assistenzarzt in verschiedenen Wiener Kliniken. Nach dem Tod des Vaters eröffnet er eine Privatpraxis. 1893 erscheint sein Dramenzyklus Anatol. Eine tiefe Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal beginnt. Schnitzler arbeitet vor allem für die Bühne: Sein Reigen von 1897 erregt einen Skandal wegen des vermeintlich pornografischen Inhalts und bleibt lange verboten. Mit der Novelle Lieutenant Gustl tut sich Schnitzler als Prosaschriftsteller hervor, allerdings kostet ihn die angebliche Verunglimpfung des Militärs seinen Offiziersrang. 1903 heiratet er seine Lebensgefährtin Olga Gussmann, mit der er bereits einen Sohn hat. In den folgenden Jahren kommen mehrere seiner Schauspiele zur Uraufführung, u. a. Der einsame Weg, Der grüne Kakadu und Das weite Land. Immer wieder ecken seine Werke bei der Zensur an: Neben dem Reigen betrifft das vor allem den Einakter Haus Delorne, der 1904 noch am Abend vor der Uraufführung verboten wird, und die Komödie Professor Bernhardi, die 1912 zwar in Berlin, nicht aber in Wien aufgeführt werden darf. Bei Kriegsausbruch 1914 bekennt sich Schnitzler zum Pazifismus: Im Unterschied zu vielen seiner Schriftstellerkollegen bricht er nicht in Kriegseuphorie aus. Nach der Trennung von seiner Frau im Jahr 1921 erzieht Schnitzler seine Kinder allein. 1922 macht er die nähere Bekanntschaft Sigmund Freuds, der in der Psychoanalyse zu ähnlichen Erkenntnissen kommt wie Schnitzler mit den Mitteln der Literatur. 1924 verwendet er die Technik des inneren Monologs in der Novelle Fräulein Else. 1926 erscheint die Traumnovelle. Schnitzler stirbt am 21. Oktober 1931.

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    A. vor 1 Jahrzehnt
    Die Dirne mit dem Soldaten, der Soldat mit der jungen Dame, die junge Dame mit dem jungen Herrn, der junge Herr mit der Ehegattin, die Ehegattin mit dem Ehegatten, der Ehegatte mit dem hübschen Mädchen, das hübsche Mädchen mit dem Dichter, der Dichter mit der Schauspielerin, die Schauspielerin mit dem Grafen, und, letzten Endes, der Graf mit der Dirne – der Kreis schliesst sich. Elf Szenen lang wird um den heissen Brei geredet, geheuchelt und quer durch alle Gesellschaftsschichten kopuliert; der Liebesakt findet jeweils zwischen den Zeilen statt – der Leser möge herausfinden, zwischen welchen. Eine äusserst kurzweilige und unterhaltsame Lektüre, unbedingte Leseempfehlung!