Kurt Tucholsky
Rheinsberg
Ein Bilderbuch für Verliebte
Diogenes Verlag, 2008
Was ist drin?
Schnappschüsse einer jungen Liebe: Kurt Tucholskys literarisches Debüt.
- Kurzprosa
- Neue Sachlichkeit
Worum es geht
Eine letzte Idylle vor dem Krieg
Im Jahr 1911 verlebten Kurt Tucholsky und Else Weil in Rheinsberg einige schöne Urlaubstage. Zurück in Berlin schrieb Tucholsky dann etwas, was man eher mit der Antike in Verbindung bringt als mit dem 20. Jahrhundert: eine literarische Idylle. Tucholsky kümmerten Mode und Zeitgeist wenig. Ihn beschäftigte vielmehr ein alltägliches Missgeschick: Zwei junge Menschen verlieben sich und finden keine Freiräume, ihre Gefühle offen und ehrlich auszuleben. Literarisch wurde ihnen geholfen, und dafür musste nicht einmal der Fundus der alten Idyllendichter geplündert werden: Hirten, Putten oder Badenixen sucht man in Rheinsberg vergeblich. Fürs Liebesglück genügt eine kleine Wunderwaffe: der dadaistische Sprachgebrauch. Mit Scherz und Unsinn lassen sich nämlich die Feinde der Verliebten vertreiben: die spießigen Bürger, die spröden Monisten und die engherzigen Ehrgeizlinge. Das Pärchen selbst leistet dabei herzlich wenig, es feiert nur sich selbst, seine Fantasie und sein Erleben. Mit seiner modernen Idylle gelang Tucholsky etwas wahrlich Seltenes: ein Prosatext, der glaubhaft fürs kleine Glück wirbt. Kein Wunder, dass Rheinsberg ein großer Publikumserfolg wurde.
Take-aways
- Die Erzählung Rheinsberg war Kurt Tucholskys Erstling und ein großer Publikumserfolg.
- Inhalt: Ein junges Berliner Pärchen macht Urlaub in der märkischen Kleinstadt Rheinsberg. Die beiden lieben, streiten und scherzen. Nach drei glücklichen Tagen kehren sie nach Berlin zurück.
- Rheinsberg entwirft eine moderne Idylle.
- Spontane Einfälle und Empfindungen bilden einen Gegenentwurf zu Spießbürgertum, großstädtischer Hektik und Vorteilsdenken.
- Das Paar pflegt eine amüsante dadaistische Privatsprache.
- Die Idylle ist letztlich elitär. Sie ist nur für Verliebte zugänglich, Widersacher werden ausgeschlossen.
- Zu seinem „Bilderbuch für Verliebte“ inspirierten Tucholsky eine private Reise sowie die Rheinsberg-Erlebnisse von Friedrich II. und Theodor Fontane.
- Manche Zeitgenossen kritisierten die erotische Freizügigkeit, andere rühmten die graziöse Frische des Buches.
- Rheinsberg ebnete Tucholsky den Weg für seine journalistische Karriere.
- Zitat: „Dies alles umarmen können, nicht, weil es gut oder schön war, sondern weil es da ist, weil sich die Wolkenbänke weiß und wattig lagern, weil wir leben! Kraft! Kraft der Jugend!“
Zusammenfassung
Zwei Verliebte gehen auf Reisen
Der Himmel strahlt blau, als der Schnellzug Löwenberg erreicht. Wolfgang und Claire steigen in eine klapprige Kleinbahn um. Die Landschaft, durch die sie fahren, wirkt gewöhnlich. Doch weil alles schön friedlich daliegt, gefällt es den zwei Reisenden. Nach kurzer Zeit hält die Bahn schon wieder an. Sie hat Funken gesprüht, die das Laub entzündet haben. Wolfgang will sogleich beim Löschen helfen und rollt sich übermütig den Abhang hinunter. Sein drolliger Eifer erheitert die Passagiere, Claire verdreht die Augen, aber Wolfgang lächelt stolz: Schön, mal wieder tätig gewesen zu sein.
Ankunft in Rheinsberg
Dem Pärchen fällt ein Mitreisender auf, ein schwer bepackter Jäger. Er macht einen erfahrenen Eindruck, so als könne sein Gewehr ein Reh geradezu wittern. Doch der Jäger belehrt die beiden, es sei doch Schonzeit, und verlässt das Coupé. Claire und Wolfgang müssen nun schreien, so laut rumpelt die Bahn. Für einen kleinen Streit, in dem es darum geht, ob der Baum eben eine Akazie oder eine Magnolie gewesen sei, verstehen sie sich aber noch gut genug. Sie ersticken den Wortwechsel schnell in Küssen. Claire beobachtet eine Bäuerin, dann äfft sie sie nach: Sie stellt sich breitbeinig auf und tut so, als wühle sie ihren zweiten Unterrock hervor und schnäuze sich damit die Nase. Während die beiden lauthals lachen, erreicht der Zug den Zielbahnhof: Rheinsberg. Ein Wagen des Hotels wartet schon auf sie. Ihr Gepäck besteht nur aus zwei winzigen Koffern. Kaum losgefahren, liegen sie sich wieder in den Haaren: Sie streiten darüber, wessen Köfferchen den größeren Verdacht errege, weil es das kleinste sei. Sie schwatzen wild drauflos und verlieren sich in einer eigenen Kindersprache. Buchstaben gehen verloren, Artikel werden verdreht und Sätze verzerrt, bis alles nur noch komisch klingt. Wer Claire so reden hört, wird die Wahrheit niemals glauben: Die junge Frau studiert Medizin. Der Wagen hält, und Wolfgang fragt, in welchem Koffer sie denn das Falschgeld versteckt hätten. Dem Hausknecht fällt die Kinnlade herunter, aber der Wirt führt sie freundlich auf ihr Zimmer. Es ist nett und bescheiden, mit Holzbett, gelber Tapete und künstlichen Blumen.
Ungewohnte Ruhe
Später gehen die beiden im Schlosspark spazieren. Eine ungewohnte Stille empfängt sie. Kein Geräusch ist zu hören, aber in ihren Köpfen lärmt noch immer die Großstadt, der Alltag zerrt noch an ihren Nerven. Sie fühlen sich wie gelähmt, als hätte jemand ihre Antriebskräfte geraubt. Schweigsam schlendern sie von einem See zum andern, betrachten die Sträucher, als wären es Wunderdinge, dann setzen sie sich auf eine Bank. Wolfgang fragt zum Spaß, ob es hier wohl Bären gebe. Claire lässt ihn schwören, sie zu beschützen. Ihnen fällt jetzt auf, dass Friedrich der Große fehlt. In Sanssouci wartet er überall mit Büsten und Statuen auf, in Rheinsberg aber: Fehlanzeige.
Im Schloss
Natürlich muss das Schloss besichtigt werden. Wolfgang und Claire ziehen an einer Messingstange und locken den Kastellan zu einer Stiegentüre. Sie stellen sich als Ehepaar Gambetta vor. Darauf schweigt der Kastellan, als würde er in Erinnerungen versinken. Drinnen warten auf die Besucher haufenweise Filzpantoffeln. Jeder stülpt ein Paar über die Schuhe, und so schlurfen sie durch streng symmetrisch eingerichtete Räume. Der Kastellan erklärt: In dem Körbchen dort schlief das Windspiel der Prinzessin. Die Vasen hier brachte ein Graf mit aus Afrika. So eifrig er sich auch bemüht, er entlockt dem Pärchen nicht einen Ausruf der Bewunderung. Vielmehr fragt Claire ganz profan, ob es hier auch eine Toilette gebe. Der Kastellan fällt in tiefes Schweigen und bricht es erst, als er das Trinkgeld klingeln hört.
Auf der Insel
Mit dem Ruderboot fahren sie auf den See. Sie lassen es treiben und schmiegen sich aneinander. Schließlich erreichen sie eine kleine Insel. Im Gras liegend erfreuen sie sich an den Uferlilien und dem blauen Wasser. Claire möchte von Wolfgang wissen, ob er schon andere Frauen geliebt habe. Ironisch ruft er aus: „Nie!“, und treibt seinen Spott mit den Spießbürgern, die immer und überall die Ersten sein wollen. Aber beide wissen es: Sie erleben nicht ihre erste Liebe. Später legen mehrere Familien an und entladen schwere Picknickkörbe. Die Ruhe ist dahin, und das Paar klettert schnell zurück ins Boot. Claire übernimmt das Ruder, aber es entgleitet ihr. Mit einem Stock fängt es Wolfgang wieder ein. Claire prahlt unbetroffen: Früher habe sie sogar ohne Ruder rudern können.
Ein schiefer Vergleich
Abends plagen Wolfgang Bauchschmerzen. Claire erstellt eine kühne Diagnose: Es sei der Tod, der ihn zwicke. Wolfgang aber nörgelt: Den Geliebten müsse man immer ernsthaft umsorgen. Also eilen sie zur Apotheke und kaufen eine Medizin. Überraschenderweise wirkt sie sofort. Jetzt können sie unbeschwert zu Abend essen. Am Nebentisch hocken dicke Honoratioren, unter ihnen der Apotheker, der einen Witz über das Paar reißt. Die Herren lachen dröhnend. Claire gibt sich unbeeindruckt, indem sie kleine Ringe aus Rauch in die Luft bläst. Gut gesättigt schlendern sie anschließend durch die Nacht. Um eine Bogenlampe schwirren Tausende Insekten. Sie alle würden gerne in dem grellen Licht versinken. In dem Verlangen gleichen sie den Menschen, philosophiert Wolfgang, aber Claire protestiert: Was ihm einfalle, so einen schiefen Vergleich zu machen! Sie gelangen in einen Hinterhof. Im Erdgeschoss wird Theater gespielt. Eben ertönt laut eine Altstimme. Das Publikum lacht und schaukelt wie eine vielköpfige Bestie. Wolfgang wundert sich: Draußen liegt die Welt totenstill, und drinnen lärmt zum Schein das Leben. Nun beschimpft die Altstimme einen grün beschürzten Mann: Statt mit den Mädchen zu flirten, hätte er besser den Boden fegen sollen. Aufs Stichwort stolziert ein Mädchen auf die Bühne. Das weibliche Publikum kreischt, die Männer grummeln, und Wolfgang seufzt: Wenn man doch nur die Vorgeschichte kennen würde.
Vorübergehende Melancholie
Im Hotelzimmer löst Claire ihr Haar und schwatzt drauflos: Ein Herr habe es ganz früher einmal seiden genannt. Dann bricht sie ihre Erzählung unvermittelt ab, worauf sich Wolfgang beschwert: Wo denn die Pointe bleibe? Währenddessen brennt die Kerze nieder. Das Paar legt sich ins Bett, lauscht noch den Stimmen, die aus der Wirtsstube nach oben dringen, dann schlafen die beiden ein. Nach Mitternacht wacht Wolfgang auf und tritt ans Fenster. Der Mond thront hoch über den Bäumen und taucht die Landschaft in ein fahles Licht. Irgendwo raschelt es im Laub. Eine schöne, schaurige Stimmung macht sich breit. Doch ehe sie ihn erfassen kann, ruft Claire ihn ins Bett zurück. Am Morgen kommt sie kaum aus den Federn. Nach einigem Piepsen und Miauen steht sie endlich auf, doch gleich plagt sie die alte Frauenfrage: ob sie das Grüne oder das Weiße anziehen solle. Weil Wolfgang ein schlechter Ratgeber ist, spielt Claire die Schmollende. Das Frühstück weckt ihre Lebensgeister. Sie wollen eine Kutschfahrt machen. Der Wald zieht sie in seinen Bann. Er ist zwar nicht so grün wie auf den Postkarten, aber ihn überhaupt sehen zu dürfen, stimmt beide fröhlich.
Im Park, im Städtchen, im Kino
Am Nachmittag gehen sie wieder in den Park. Ein marmorner Satyr mit hängender Flöte und eine fliehende Nymphe empfangen sie. Nach wenigen Schritten legen sich Wolfgang und Claire erschöpft ins Gras. Die Sonne brennt vom Himmel, und Wolfgang beklagt die Hitze. Um ihn zu zerstreuen, spielt Claire mit ihm Arzt und Patient. Sie stellt ihm knifflige Fachfragen und befiehlt ihm, den Mund weit aufzusperren.
„Seinen eigentlichen Anfang nahm das Abenteuer erst, als sie in Löwenberg ausstiegen.“ (S. 21)
Später machen sie einen Stadtbummel. Claire schaut lange in jedes Schaufenster hinein und wirkt wie ein Fräulein, das ihren störrigen Mann von Einkauf zu Einkauf schleppt. Zuletzt betreten sie einen Weißwarenladen. Claire will Wäscheknöpfe kaufen. Die spröden Verkäuferinnen bitten Wolfgang geniert, doch draußen zu warten.
„,Is aber ’ne Magnolie.‘ ,Herr Gott, Claire! Siehst du denn nicht diese typisch ovalen Blätter, die weißen, kleinen, traubenförmigen Blütenstiele! – Mädchen!‘ ,Aber ... Wölfchen ... wo es doch ’ne Magnolie is ...‘“ (S. 25)
Rheinsberg hat sogar einen Kinematografen. Gleich nach dem Abendessen eilen Claire und Wolfgang zum Aufführungsort. Der erste Stummfilm zeigt eine reich kolorierte Landschaft mit Fluss und Dampfer. Von der Reling herab winkt eine Dame in einem rosa Kleid. Der Klavierbegleiter greift hart in die Tasten. Sein Bierglas kracht zu Boden. Der zweite Film mit dem Titel „Moritz lernt kochen“ beginnt. Die Hauptfigur bekommt Besuch von einem Nachbarn und tunkt diesen sogleich in einen dampfenden Topf. Dann ringen die beiden und rollen die Treppe hinab. Claire fragt begeistert, ob Moritz den Nachbarn gar gekocht habe. Schon folgt der dritte Film: „Das rettende Signal“. In ihm hält ein Bräutigam eine helle Lampe hoch und lotst seine Braut durch die bläuliche Nacht. Als das Brautpaar zu weinen beginnt, schluchzt auch Claire und möchte nach Hause.
Glücklich unter Schafen
Am nächsten Morgen schlendern Wolfgang und Claire durch die Felder. Ein Gewitter hat die Hitze vertrieben. Der Herbst kündigt sich an. Der Weg führt zwischen jungen Linden durch. Das Paar fühlt sich glücklich, wenngleich nicht vollauf zufrieden. Eine letzte Sehnsucht bleibt, die auch die Liebe nicht zu stillen vermag. Claire springt ins Gebüsch und pflückt Eisbeeren. Eine Handvoll wirft sie auf den Boden und lässt sie unter der Schuhsohle platzen. Warum sie das mache, will Wolfgang wissen, und Claire antwortet schwärmerisch: Sie befreie die Beeren von ihrem inneren Druck. Ein tolles Gefühl müsse das sein. Eine Herde Schafe kreuzt ihren Weg. Die zotteligen Tiere umwogen sie wie ein Meer. Claire fragt, ob die Schafe sie wohl gleich fressen würden. Das lohne sich nicht, meint Wolfgang. Scherzend und lachend besteigen sie einen Hügel und blicken weit ins Land. Nur ein Wunsch beseelt sie: alles, was vor ihnen liegt, zu umarmen.
„Sie hatte sich da eine Sprache zurechtgemacht, die im Prinzip an das Idiom erinnerte, in dem kleine Kinder ihre ersten lautlichen Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen suchen (...)“ (über Claire, S. 26)
Der letzte Tag bricht an. Zur Feier überreicht Wolfgang Claire ein weißes Paket. Sie will wissen, was drin ist, aber Wolfgang verfügt, dass es erst eine Viertelstunde vor der Abreise geöffnet werden dürfe. Am Mittagstisch mault Claire trotzig wie ein Kind und schlägt vor, die Suppe mit dem Messer zu essen. Eine alte Dame schlurft vorbei und beklagt sich zischend über die schlechten Tischmanieren. Da die Sonne so schön scheint, will Claire ein Foto schießen. Dafür soll Wolfgang starr und steif posieren. Als die Prozedur nicht enden mag, fragt er ungeduldig, wann das Foto endlich fertig sei. Claire lacht triumphierend: Sie habe den Apparat noch gar nicht eingerichtet. Da jagt er ihr nach und kriegt sie bald zu fassen. Nach dem Essen braucht Claire einen Mittagsschlaf. Halb wachend, halb träumend wimmert sie, was denn wohl in dem Paket sei. Sie wird es nicht erfahren, denn sie wird es bei der Abreise im Hotel vergessen.
Die Monistin aus Berlin
Der Himmel strahlt blau. Der Sonne wärmt. Das Paar liegt träumend im Ruderboot. Ihr Glück lässt sie schwärmen: Was für schöne Tage haben sie doch verlebt. Vom Ufer her ruft ein Mädchen. Es möchte zum Forsthaus mitgenommen werden. Lissy Aachner studiert in Berlin Medizin, weil sie ein Herz für arme Kinder hat. Ans Heiraten hat sie noch nie gedacht. Die Männer seien eher „Sexualtiere“ denn wahre Liebhaber. Außerdem habe sie sich ganz der Wissenschaft verschrieben.
„‚Sehssu, mein Affgen, das is nu deine Heimat. Sag mal: Würdest du für dieselbe in den Tod gehen?‘ ‚Du hast es schriftlich, liebes Weib, dass ich nur für dich in den Tod gehe.‘“ (S. 37)
Als Claire ans Erzählen kommt, flunkert sie: Sie und Wolfgang müssten das elterliche Landgut verwalten und würden die Großstadt gar nicht kennen. Ob die wirklich so verlockend und bunt sei, wie es die Bücher beschrieben? Die Eindrücke, sagt Lissy, seien so stark, dass man ihnen nur mit festen Begriffen beikomme. Deshalb sei sie auch Monistin: Alles Werden und Vergehen hänge von den sozialen Umständen ab. Wer diesen Zusammenhang erkenne, der sei der modernen Zeit gewachsen. Dann knirscht der Sand unter dem Bug: Das Forsthaus ist endlich erreicht.
Ein letzter Tanz
Vom Urlaub bleiben noch zwei Stunden. Wolfgang und Claire spazieren ein letztes Mal durch den Park. Der Himmel hat sein Blau verloren und blickt finster drein. Einzelne weiße Wölkchen jagen dahin. Der nahe Abschied drückt beiden aufs Gemüt. Sie erreichen eine hübsche Villa, aus der süße Geigen erklingen. Weitere Instrumente greifen die Melodie auf. Der Rhythmus läuft leicht dahin, doch plötzlich hüpft er auf. Die Geigen kichern, die Bässe grummeln, dann bricht alles wieder ab. Nach der Pause kehrt das Anfangsthema als Walzer wieder. Jetzt kann das Paar nicht länger an sich halten und tanzt über den Abhang davon. Der Wagen bringt die beiden zur Bahn. In Löwenberg steigen sie in den Schnellzug um. Ihr Berliner Alltag hat sie wieder.
Zum Text
Aufbau und Stil
Tucholskys „Bilderbuch für Verliebte“ (so der Untertitel) entwickelt keinen zielstrebigen Handlungsgang, sondern reiht auf rund 80 Seiten kurze Episoden aneinander. Der Wechsel der Tageszeiten und die Launen der Verliebten geben dem Büchlein seine Struktur. Der Text ist stilistisch sehr abwechslungsreich. Zwar werden die Gespräche des Liebespaares stets mit denselben Floskeln eröffnet – „‚Wolfgang?‘ ‚Claire?‘“ (neunmal) oder „‚Claire?‘ ‚Wolfgang?‘“ (fünfmal) –, doch davon abgesehen darf sich die Sprache frei und ungehemmt entfalten. Das Pärchen bildet kühne Metaphern und schräge Kosenamen, karikiert Redestile oder ahmt bestes Bühnenpathos nach. Vor allem aber erschafft es sich eine eigene, infantile Sprache: Wie kleine Kinder vertauschen und verzerren Wolfgang und Claire die Buchstaben und Laute. Der Erzähler hingegen bevorzugt kurze, eingängige Sätze. Er sucht die Nähe zu den Hauptfiguren und zeigt starke Sympathie für sie. Allerdings pflegt er auch eine feine Ironie, die das Geschehen kritisch begleitet.
Interpretationsansätze
- Tucholsky entwirft in Rheinsberg eine moderne Idylle. Er greift dabei auf die antike Wurzel des Wortes zurück: Das griechische „eidyllion“ bedeutet „Bildchen“; Tucholsky entwirft folglich ein „Bilderbuch“. Gleichwohl treten weder Hirtenjungen noch Putten und Badenixen auf. Gefeiert wird eine Lebenshaltung: der heitere Leichtsinn von zwei Jungverliebten.
- Das Rheinsberger Idyll lebt von der Ausgrenzung der Widersacher: Der kleinstädtische Friede behauptet sich gegen die großstädtische Hektik, eine junge, schöpferische Boheme gegen ein altes, erstarrtes Bürgertum, das freie Spiel der Einfälle und Empfindungen gegen die engstirnige Sorge um Vorteil und Nutzen.
- Als antiidyllische Kontrastfigur wird Lissy Aachner eingeführt. Sie pflegt selbst im Urlaub eine ehrgeizige Zielstrebigkeit. Die bekennende Monistin hängt einem starren, monokausalen Weltbild an. Sie duldet keine Romantik, keinen Müßiggang, sondern nur spröde Erkenntnis und krude Pflichterfüllung.
- Jede Idylle braucht einen Locus amoenus, einen „lieblichen Ort“. Als ein solcher ist Rheinsberg durch seine Stadtgeschichte ausgewiesen: Der junge Friedrich II. verlebte dort vier unbeschwerte Jahre. Auch Theodor Fontane war von Rheinsbergs Schönheit begeistert, und Tucholsky selbst erlebte in dem Ort mit seiner Geliebten ein privates Urlaubsglück.
- Die Idylle ist nicht von Dauer, sondern ein Ausnahmefall. Darauf verweist Tucholskys anthropologischer Leitgedanke: Noch im höchsten Glück erfährt sich der Mensch als Mängelwesen. Sein Hunger nach Erfüllung bleibt stets ungestillt.
- Mit ihrer Privatsprache behaupten sich die Verliebten gegen die herrschenden Konventionen. Die Idylle entpuppt sich dabei als elitär: Sie ist nur Verliebten oder Poeten zugänglich, für alle Übrigen ist sie unverständlich oder gar nervig.
- Rheinsberg übt dezente Gesellschaftskritik. Die Nebenfiguren zeichnen sich durch Doppelmoral, Prüderie und Militarismus aus. Der Schlossbesuch kratzt zudem am etablierten Bild Friedrichs des Großen. Statt Huldigung erfährt der Staatsmann ein menschliches Bedürfnis: den Drang zur Toilette.
Historischer Hintergrund
Das Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschleunigte sich im Deutschen Kaiserreich der technische und wirtschaftliche Wandel. Neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel machten sich im Alltag breit. In den Großstädten wuchs die Vergnügungsindustrie und schuf eine neue Massenkultur. Diese Dynamik bestimmte das bürgerliche Grundgefühl: Einerseits glaubte man fest an die nationale Größe, andererseits litt man unter Zukunftsängsten. In seinem Bedürfnis nach Sicherheit klammerte sich das Bürgertum an eine prüde Sexualmoral und eine reaktionäre Gesinnung.
Gegen die konservativen Kräfte regte sich erster Widerstand. Die Arbeiterbewegung wollte am Wohlstand und an den Vorrechten der Unternehmer teilhaben. In der bildenden Kunst trieben Strömungen wie der „Blaue Reiter“ oder der Kubismus die Innovation der Darstellungsformen entschieden voran. Der literarische Expressionismus lebte seinen Ekel vor der bürgerlichen Scheinwelt aus, der Naturalismus zeigte schonungslos das Elend der Unterschichten. Das Bedürfnis, aus dem industriellen Fortschritt auszusteigen, wuchs. 1896 wurde in Steglitz bei Berlin die Wandervogelbewegung gegründet, die das Heil der Jugend in romantischen Werten wie Naturerleben, Heimatgefühl und Volksliedgut sah.
Über all dem thronte ein politisch überforderter Kaiser. Wilhelm II. blockierte die modernen Kräfte und stärkte die reaktionären, indem er sich von Chauvinismus und Militarismus leiten ließ. Das Deutsche Heer und die Kaiserliche Marine sollten aufgerüstet und Deutschland zur globalen Supermacht ausgebaut werden. In Konkurrenz mit England und Frankreich folgte er der imperialistischen Regel, je mehr Kolonien ein Land erobere, desto größer sei seine Stärke. Diese Rüstungs- und Kolonialpolitik verhalf dem Reich jedoch zu keiner neuen Größe, sondern trieb es in den Ersten Weltkrieg.
Entstehung
Tucholskys Suche nach einem Verlag für Rheinsberg gestaltete sich schwierig. Offenbar erhielt er einige Absagen, und wahrscheinlich vermochte erst Max Brods Fürsprache den Verleger Axel Juncker zu überzeugen. Dessen Verlag galt damals als ausgezeichnete Adresse und hatte ein großes Renommee als Förderer junger Autoren. Der Erstling erschien schließlich 1912. Tucholskys Freund Kurt Szafranski steuerte einige Illustrationen bei.
Auf die Idee für sein „Bilderbuch“ brachte Tucholsky wohl eine Urlaubsreise. Mit seiner Geliebten und späteren Frau Else Weil verbrachte er 1911 einige Tage in Rheinsberg. Im Erscheinungsjahr 1912 jährte sich zudem der Geburtstag Friedrich II. zum 200. Mal, und im Reich fanden pompöse Gedenkfeiern statt. Ihnen hielt Tucholsky den Rheinsberger Friedrich, den Prinzen der Muße und des Müßiggangs entgegen.
Die Idee eines Locus amoenus (eines „lieblichen Ortes“) geht auf die antiken Dichter Theokrit und Vergil zurück. Sie gelten als die Gründungsväter der literarischen Idylle.
Wirkungsgeschichte
Rheinsberg wurde ein großer Publikumserfolg. Kommerziell lohnte sich das Buch allerdings nur für den Verleger: Tucholsky hatte ihm die Urheberrechte gegen ein Pauschalhonorar von 125 Mark abgetreten. Dafür trieb das Bändchen Tucholskys journalistische Karriere voran. Durch Rheinsberg lernte er den Herausgeber der Schaubühne und seinen späteren Förderer Siegfried Jacobsohn kennen. Um den Buchverkauf zu fördern, kam Tucholsky eine witzige Geschäftsidee: Am Berliner Kurfürstendamm eröffnete er mit Szafranski eine „Bücherbar“. Dort wurden billige Bücher, Alkoholika und „schrecklich viele Rheinsbergs“ verkauft. 1921, zum 50. Tausend der Gesamtauflage, erschien eine Luxusausgabe. Ihr stellte Tucholsky eine Vorrede voran und blickte mit Wehmut und Ironie auf die Erfolgsgeschichte des Buchs zurück.
Wolfgangs und Claires Privatsprache beeinflusste möglicherweise die Dadaisten. Hans Arp und Kurt Schwitters bauten den sprachlichen Unsinn zu einer eigenständigen Kunstform aus und protestierten damit gegen die herrschende Logik von Krieg und Unterdrückung. Offiziell gründete sich die dadaistische Bewegung 1916 in Zürich.
Einigen Zeitgenossen missfiel Rheinsberg wegen seiner erotischen Freizügigkeit. Das Feuilleton jedoch rühmte die jugendliche Frische, den Humor und die Anmut des Buches. Heute steht Rheinsberg ein wenig im Schatten von Tucholskys journalistischem Schaffen und seinem berühmteren Prosatext Schloss Gripsholm.
Über den Autor
Kurt Tucholsky wird am 9. Januar 1890 in Berlin als Sohn eines jüdischen Bankkaufmanns geboren. Sein Vater stirbt bereits 1905. Vier Jahre später nimmt Tucholsky ein Jurastudium auf und beginnt parallel dazu als Journalist für linksliberale Zeitschriften zu arbeiten. 1912, noch zu Studienzeiten, veröffentlicht er mit der idyllisch-erotischen Liebeserzählung Rheinsberg einen ersten Erfolgstitel. Im April 1915, kurz nach Beendigung des Studiums, wird er eingezogen. Er nimmt am Ersten Weltkrieg zunächst als Frontsoldat, später als Herausgeber einer Feldzeitung teil und kehrt 1918 als überzeugter Pazifist aus dem Militär zurück. Für zwei Jahre übernimmt er die Chefredaktion eines satirischen Wochenblatts, dann schreibt er vor allem für die linksliberale Wochenzeitschrift Weltbühne. Seine unzähligen Beiträge veröffentlicht er unter wechselnden Pseudonymen, darunter Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel. Tucholsky wird zu einem der führenden Publizisten der Weimarer Republik. Kompromisslos kritisiert er den reaktionären Geist, die verbohrte Vaterlandsliebe und die militaristische Gesinnung der Deutschen. Daneben schreibt er Lieder, Revuen, Glossen und satirische Gedichte. Er ist zweimal kurz verheiratet, aber nie treu. In mehreren linken Gruppierungen engagiert sich Tucholsky auch direkt politisch. 1924 geht er als Korrespondent nach Paris. Von nun an lebt er, wie sein Vorbild Heinrich Heine, nur noch sporadisch in Deutschland. 1930 siedelt er nach Schweden über und gibt die journalistische Arbeit nach und nach auf. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 schwinden seine Publikationsmöglichkeiten in der Heimat. Im August desselben Jahres wird er ausgebürgert, seine Bücher werden verboten und verbrannt. Nach längerer Krankheit und in tiefer Resignation stirbt Tucholsky am 21. Dezember 1935 an einer Überdosis Schlaftabletten – ob absichtlich oder nicht, ist unklar.
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