Imre Kertész
Roman eines Schicksallosen
Rowohlt, 1999
Was ist drin?
Ein 14-Jähriger erlebt das KZ. Er erzählt ohne Anklage, ohne Wertung. Ein Skandal? Nein – einer der eindrucksvollsten Texte über den Holocaust.
- Roman
- Gegenwartsliteratur
Worum es geht
Das Echo der Gaskammern
Kann man über den Holocaust schreiben, ohne ihn zu verharmlosen? Ohne ihn in eine Schublade zu stecken: Zivilisationsbruch, Tiefpunkt der menschlichen Geschichte, Hölle? Imre Kertész benennt nicht und verteilt keinen Stempel. Er lässt seinen Erzähler nicht urteilen, nicht bewerten. Er lässt ihn die Welt im Konzentrationslager registrieren, beobachten, erleiden – sonst nichts. So gelingt etwas, was Literatur nur selten gelingt: Wir, die wir lesen, haben zwar Vorwissen und lernen doch völlig neu. Wir glauben ein Bild zu haben, erhalten aber beim Lesen zum ersten Mal wirklich ein Bild. Was der Roman eines Schicksallosen hinterlässt, ist eine tiefe Beunruhigung. Denn wir sehen mit den Augen eines unschuldigen Kindes, das einzig den Wunsch hat, sich einzuordnen, in den Abgrund sorgsam geplanten Massenmords. Das Unfassbare wird buchstäblich fassbar, indem wir es miterleben. Verständlicher wird es dadurch nicht – doch indem wir sehen, was möglich war, wissen wir, was immer möglich sein wird. Kertész macht Auschwitz zum Alltag. Das ist unbequem – aber notwendig.
Take-aways
- Roman eines Schicksallosen ist eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse über den Holocaust.
- Inhalt: Der 14-jährige jüdische Junge György Köves erlebt 1944/45 die Schrecken der Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Zeitz. Anfänglich naiv, erkennt er erst nach und nach, wo er gelandet ist. Als ihn sein Lebenswille schon fast verlassen hat, wird er befreit. Zurück in Budapest ist es ihm unmöglich, sich den dort Gebliebenen mitzuteilen. Er beschließt, zu seiner Mutter zurückzukehren, denn er kann kein neues Leben beginnen, bloß sein altes weiterleben.
- Der Text ist aus der Sicht des 14-jährigen, naiven und gutgläubigen Ich-Erzählers geschrieben. So entsteht ein irritierender Kontrast zu den erzählten Ereignissen.
- Kertész folgt seinen eigenen biografischen Eckdaten, ohne den Roman autobiografisch wirken zu lassen.
- Mit dem Roman zeichnet Kertész auch seine schriftstellerische Entwicklung nach.
- Der Roman ist das literarische Erstlingswerk von Kertész. Er arbeitete 13 Jahre daran.
- Das Buch wurde im kommunistischen Ungarn nach der Veröffentlichung totgeschwiegen. Erst mit der zweiten Auflage in den 1980er-Jahren wurde es wahrgenommen.
- Erst mit der zweiten deutschen Übersetzung von 1996 wurde das Buch zum großen Erfolg.
- Kertész erhielt 2002 den Literaturnobelpreis für sein Gesamtwerk, vor allem aber für Roman eines Schicksallosen.
- Zitat: „Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war.“
Zusammenfassung
Der Abschied des Vaters
Der 14-jährige György Köves muss heute nicht zur Schule, weil sein Vater zum Arbeitsdienst einberufen wurde. In dem Laden, der Györgys Familie gehört, trifft er auf seinen Vater, seine Stiefmutter und den Verwalter, Herrn Sütö. Die drei besprechen die kommissarische Übergabe des Geschäfts an Sütö. Dieser bietet nach der korrekten Übergabe auch eine Quittung an – was Györgys Vater für überflüssig hält – und verabschiedet sich. Vater und Stiefmutter regeln die Bücher und gehen anschließend mit György die Dinge einkaufen, die der Vater jetzt brauchen wird. In einem Sportgeschäft, das auch gelbe Judensterne verkauft, kaufen sie unter anderem einen Rucksack, einen Blechnapf und ein Taschenmesser. György wird zur Bäckerei geschickt, um gegen Marken Brot zu holen. Der Bäcker, der Juden nicht mag, betrügt ihn um einige Gramm, was György allerdings nicht wundert. Als er zurückkommt, begegnet ihm im Hausflur die 14-jährige Nachbarin Annamaria. Sie wollen sich verabreden, aber der Abschied des Vaters steht dem entgegen.
Beim Essen hat György plötzlich den irritierenden Wunsch, der Vater solle schon weg sein. Gäste kommen: die Eltern des Vaters und Verwandte der Stiefmutter, darunter auch Onkel Vili und Onkel Lajos. Vili weiß aus „sicherer Quelle“, dass die Deutschen bereits ihre Niederlage ahnen und mit den Alliierten verhandeln. Die Juden seien ihr Pfand in einem großen „Erpressungsmanöver“. Lajos nimmt György zur Seite und erklärt ihm, dass er nun erwachsen und Teil der jüdischen Geschichte aus Verfolgung und Leid sei. Lajos bringt György dazu, gemeinsam für den Vater zu beten. György fällt es schwer, denn er kann kein Hebräisch. Schließlich erscheinen die Nachbarn Herr Steiner und Herr Fleischmann, um sich zu verabschieden. Sie versichern, dass sie sich um die Stiefmutter und György kümmern wollen. Alle verabschieden sich. Als Györgys Vater nun auch ihm Lebewohl sagt, äußert er die Sorge, dass die Mutter den Jungen wieder zu sich holen könnte, obwohl das Gericht György dem Vater zugesprochen hat – schließlich habe die Mutter den Sohn verlassen. Die Mutter sieht das allerdings anders, weiß György. Sein Vater betont, dass György zu seiner Schwiegermutter gehöre, die ihm ein schönes Zuhause geschaffen habe.
Arbeitsdienst und Deportation
Zwei Monate später ist auch György zum Arbeitsdienst eingezogen. Er arbeitet in der Shell Erdölraffinerie in Csepel und freut sich über den Pass, mit dem er sogar das Stadtgebiet verlassen darf. Zweimal wöchentlich besucht er seine Mutter, die meint, er gehöre zu ihr. Doch György steht bei seinem Vater im Wort. Die Abende verbringt man bei den Fleischmanns. In einer Bombennacht kommt es im Luftschutzkeller zum ersten Kuss zwischen György und Annamaria. In den folgenden Tagen kommen sich die beiden näher. Gemeinsam besuchen sie zwei Schwestern, die auch im Haus wohnen. Die ältere von beiden verstrickt György in eine Debatte über den Sinn des Hasses gegen die Juden.
„Sie ist nämlich der Ansicht, dass ‚wir Juden anders sind als die anderenʻ, dass diese Verschiedenheit das Wesentliche ist und die Juden deshalb von den Menschen gehasst würden.“ (György über die ältere Schwester, S. 54)“
Sie glaubt, als Jüdin etwas Besonderes in sich zu tragen, für das sie abwechselnd Stolz und Scham empfindet. György dagegen glaubt, dass es in Wahrheit viel simpler sei, nämlich reiner Zufall. Das Mädchen fängt an zu weinen und meint, dass es so ja gar keinen Sinn habe. Auch Annamaria ist verstimmt. Sie wendet sich von György ab, versöhnt sich aber wieder mit ihm.
„So bekannten sich zahlreiche, und zwar vor allem ältere Leute, die schon über Erfahrungen verfügten, zu der Ansicht, die Deutschen seien, was immer ihre Auffassung von den Juden sein möge, im Grunde genommen (…) saubere, anständige Menschen, die Ordnung, Pünktlichkeit und Arbeit liebten (…)“ (S. 94)“
Zwei Tage später wird der Autobus, mit dem György und andere zur Raffinerie fahren, von einem Polizisten angehalten. Alle Juden sollen aussteigen. György glaubt an eine Passkontrolle, stellt dann aber fest, dass auch schon seine Arbeitskollegen aus den vorigen Bussen aussteigen mussten. Die folgenden Busse werden ebenfalls angehalten, kontrolliert und weitergeschickt. Der Polizist bringt die Gruppe ins nahe gelegene Zollhaus und schließt sie dort ein. Die Leute sind zwar irritiert, aber die Stimmung ist entspannt. Später kommen einige Männer dazu, darunter auch der „Pechvogel“, der nur durch einen Zufall in den abgefangenen Bus gestiegen ist, um zu seiner kranken Mutter zu fahren. Die Eingesperrten werden zu Fuß zurück in die Stadt gebracht und vereinigen sich dabei mit weiteren Gruppen. Einzelne aus dem Trupp nutzen die Gelegenheit und setzen sich ab. György ist amüsiert, denkt einen Augenblick darüber nach, selbst zu verschwinden, doch dann setzt sich sein Anstand durch.
Auschwitz
Die Gruppe wird zunächst in der Gendarmerie, danach fünf Tage lang in einer Ziegelei untergebracht. Hier gewähren die korrupten Gendarmen Vorteile gegen Bestechung. Es kommt zu Misshandlungen von Inhaftierten. György meldet sich freiwillig zum Arbeitsdienst in Deutschland, denn es heißt, wer später fährt, fährt nicht mit 60, sondern mit 80 Leuten in einem Waggon. An einem schönen Sommertag startet der Transport nach Deutschland. Drei Tage lang gibt es nichts zu trinken, bis der Zug in Auschwitz-Birkenau ankommt. Beim Aussteigen sieht György zum ersten Mal Sträflinge aus der Nähe. Ihre abgezehrten Gesichter kommen ihm verdächtig vor, während die schmucken deutschen Soldaten sein Vertrauen erwecken. Die Sträflinge raten György dringend, sein Alter mit 16 anzugeben.
„Tatsächlich, sie sahen aus wie Juden, in jeder Hinsicht. Ich fand sie verdächtig und insgesamt fremdartig.“ (György, S. 116)“
Die Ankömmlinge werden gemustert und aufgeteilt. György vollzieht die Auswahlkriterien nach und urteilt zum Teil strenger als der Arzt. Er selbst gibt an, 16 Jahre alt zu sein, und landet mit einigen Kameraden in der „tauglichen“ Gruppe. Deren Angehörige sollen nun alle Wertsachen abliefern – ihre letzte Möglichkeit, dies ungestraft zu tun. Alle fügen sich. György hört nun zum ersten Mal das Wort „Lager“. Die Neuankömmlinge werden von Sträflingen geschoren. Zu seinem großen Missfallen wird György auch das Schamhaar abrasiert. Man leitet die Gruppe in einen riesigen Duschraum, wo nach den Entbehrungen der Fahrt eine freudige Stimmung herrscht. Nach einer Körperdesinfektion erhalten alle ihre neue Kleidung – dieselbe wie die Sträflinge. György und seine Freunde sind halb amüsiert, halb erstaunt. György lernt bereits am ersten Tag, an dem er sich wie ein „Gast in der Gefangenschaft“ fühlt, wie das Lager funktioniert: ein riesiges Gelände, elektrische Zäune, Wachtürme, politische Gefangene mit rotem Dreieck, eklige Suppe, kein Wasser, das Lager der Zigeuner, die im Gegensatz zu den Juden offenbar Brot haben.
Und dann ist da dieser Geruch. Zuerst denkt György, die Gebäude mit den Schornsteinen seien Lederfabriken. Doch schnell erfährt er, dass es Krematorien sind. Er denkt, hier würden die Opfer eine Epidemie verbrannt. Doch dann erfährt er, dass es die ausgemusterten Reisegefährten, die Kinder, die Alten und die Schwachen sind, die in einem Duschraum – ähnlich dem, in dem er selbst war – vergast werden. György glaubt an einen Scherz oder Streich, obwohl er die Wahrheit riechen kann.
„In der Zwischenzeit – hörte ich – sei man sehr freundlich zu ihnen, sie würden liebevoll umsorgt, die Kinder sängen und spielten Ball, und der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr hübsch gelegen, zwischen Rasenplätzen, Wäldchen und Blumenbeeten: Deshalb hatte ich schließlich den Eindruck, es sei eine Art Schabernack, irgend etwas wie ein Studentenstreich.“ (György, S. 163)“
Er erfährt, dass Auschwitz ein „Vernichtungslager“ ist und dass im Gegensatz dazu Arbeitslager ein leichteres Leben ermöglichen. Die Männer entdecken in einem anderen Abschnitt des Lagers die Frauen – auch sie kahl rasiert und in Sträflingskleidung. Gesang dringt zu ihnen herüber, sonst herrscht Stille. Beim Abendappell sehen die Gefangenen das Feuer der Krematorien. Man schickt sie in die Baracken, in denen sie auf dem Boden schlafen müssen.
Buchenwald und Zeitz
Nach drei Tagen in Auschwitz geht es per Zug nach Buchenwald. Wieder ist man drei Tage unterwegs. Hunger und Durst bestimmen die Fahrt. Buchenwald liegt in einer lieblichen Landschaft, die Gefangenen werden neu eingekleidet und besser versorgt als in Auschwitz. Hier gefällt es György – doch bereits nach vier Tagen geht es weiter zum kleinen Konzentrationslager Zeitz. Hier lernt György Bandi Citrom kennen, einen 21-jährigen Gefangenen, der ebenfalls aus Budapest stammt. Bandi macht ihn mit allen Regeln des Lagers vertraut. Er sagt ihm, dass er sich vor den völlig ausgezehrten Männern ohne Lebenswillen, den „Muselmännern“, hüten solle, das ziehe einen nur runter. Es gibt eine Stunde zwischen Arbeitsende und Abendappell, die György liebt: Betriebsamkeit auf dem Schwarzmarkt, Gespräche, Nachrichten. In der Schlange bei der Essensausgabe trifft György den Pechvogel wieder. Er wiederholt einen oft erzählten Scherz: Das U in ihrem gelben Dreieck bedeute nicht „Ungar“, sondern „unschuldig“. Daraus schöpfen viele Gefangene ein wenig Mut.
„Auch in Buchenwald gibt es ein Krematorium, versteht sich, aber insgesamt nur eines, denn das ist hier nicht der Zweck, nicht das Wesen der Sache, nicht Seele und Sinn des Ganzen – wenn ich so sagen darf –, sondern es werden nur solche verbrannt, die im Lager verscheiden, unter den gewöhnlichen Umständen des Lagerlebens sozusagen.“ (S. 187)“
Trotz harter Arbeit und schlechter Versorgung ist es in Zeitz anfangs erträglich. Doch dann werden die Rationen knapper. Auch werden Sträflinge eingesetzt, um für „Ordnung“ zu sorgen. Ein Mann vom Stubendienst nutzt seine Stellung, um Häftlinge nach Lust und Laune zu misshandeln. György fühlt seine Kräfte schwinden und bemerkt, dass ihm Außenstehende plötzlich schöner vorkommen – bis er merkt, dass die Mithäftlinge zunehmend ausgemergelt aussehen. Es ist der Kontrast, der die anderen schöner macht. György sieht Bekannte aus der Raffinerie, die er fast nicht mehr erkennt. Auch er selbst wird nicht mehr erkannt. György beginnt, Versäumnisse seines früheren Lebens zu bedauern, und erlebt die drei Arten, sich den Strapazen des Lagers zu entziehen: die Fantasie, das Verstecken zwischen den Appellen und die Flucht. Er selbst fantasiert, wie er flieht, er sieht, wie die Versteckten entdeckt und bestraft werden und schließlich erlebt er die Folgen der erfolgreichen Flucht dreier Gefangener: Nach anfänglicher Bewunderung folgt schnell die Wut auf die Geflohenen, denn der Zorn der Bewacher trifft alle Gefangenen. Die Flüchtigen werden gefasst und vor dem versammelten Lager gehängt. Ein Rabbi spricht still das jüdische Totengebet, viele Häftlinge stimmen mit ein. György bedauert erstmals, die Worte nicht zu kennen.
„(…) das alles habe ich wahrgenommen (…) nur Stufe um Stufe und indem ich mich an jede Stufe immer wieder einzeln gewöhnte – und so habe ich dann eigentlich doch nichts wahrgenommen.“ (György, S. 225)“
Die Arbeit ist immer schwerer zu ertragen. Die nasse Kleidung wird steif, es ist kalt, die Schuhe versinken im Schlamm und verkleben mit den offenen Wunden an den Knöcheln. György staunt über seine schnelle Vergreisung und hört auf sich zu waschen, weil er seinen nackten Körper nicht sehen will. Er hat mit Durchfall zu kämpfen und mit den häufiger werdenden Schlägen der Aufseher. Als er beim Verladen einen Zementsack fallen lässt, prügelt ihn ein Aufseher brutal nieder. Am Ende dieses Tages ist etwas in György kaputtgegangen. Bandi fragt ihn, ob er nicht mehr nach Hause wolle. Als er keine Antwort von György bekommt, wendet er sich ab und behandelt ihn fortan wie einen Muselmann.
„Ich verwandelte mich in ein Loch, in Leere, und mein ganzes Bemühen, mein ganzen Bestreben ging dahin, diese bodenlose, diese unablässig fordernde Leere aufzuheben, zu stopfen, zum Schweigen zu bringen.“ (György, S. 237)“
György fühlt Schmerzen in seinem entzündeten Knie. Ohne Betäubung wird ihm die Wunde aufgeschnitten und der Eiter herausgedrückt. Er wird ins Krankenlager verlegt, wo er eine weitere Entzündung in der Hüfte entwickelt. György friert auf seiner Pritsche, denn man hat ihm Decken abgenommen. Neben ihm stirbt ein Bettgenosse. Er muss mit ansehen, wie sich die Läuse von seiner offenen Hüftwunde ernähren, und lässt es geschehen.
Zurück in Buchenwald
Alle Krankenhausinsassen, die nicht mehr arbeitstauglich sind, werden nach Buchenwald zurückgeschickt. Man verfrachtet sie in Züge. György empfindet eine Verbundenheit mit den um ihn herum Liegenden. Er empfindet weder Schmerz noch Kälte, sondern nur noch Frieden. Die Ankunft in Buchenwald nimmt er kaum wahr. Erst als er den Duft von Suppe riecht, bemerkt er den Wunsch, doch weiterzuleben. Er wird in einen Waschraum gebracht und stellt zu seinem Erstaunen fest, dass er wirklich gebadet und nicht vergast wird. Seine Wunden werden versorgt und er wird in ein Bett mit warmen Decken zwischen Gleichaltrige gelegt. In den folgenden Tagen kümmert sich ein französischer Arzt um György, dann wird er in die saubere Krankenstation in ein Einzelbett verlegt. György rätselt, welche Experimente, die einen höheren Sinn erfüllen, man mit ihm vorhat. Mithilfe eines polnischen Pflegers, des Oberarztes und eines Helfers, der ihn mit Konserven versorgt, beginnt er sich zu erholen. Die Wunden beginnen zu heilen, György fühlt sich wohl.
„(…) in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: Ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.“ (György, S. 276 f.)“
Die Zimmernachbarn wechseln, und György vollzieht anhand der Lautsprecherdurchsagen das Geschehen im Lager nach: viele neue Transporte, viele Leichen – und schließlich näher kommender Gefechtslärm. Nachts wird bereits das Feuer im Krematorium wegen der feindlichen Flieger gelöscht. Eines Tages wird jemand aus dem Krankenlager gesucht, der mit Györgys Wunden beschrieben wird. Man will ihn wieder zur Arbeit schicken. György ist innerlich schon bereit aufzustehen, als jemand im Zimmer auf einen anderen Jungen deutet. Der bittet verzweifelt, bleiben zu dürfen – natürlich zwecklos. György beruhigt sein Gewissen.
„Auch mein Gesicht überraschte mich etwas, als ich es in einem der wohnlichen, mit einem Spiegel eingerichteten Zimmer des SS-Krankenhauses zum ersten Mal erblickte, denn von früher her hatte ich ein anderes Gesicht in Erinnerung.“ (György, S. 345)“
Die Gefechte kommen näher, die SS-Wachen verlassen das Lager und durch die Lautsprecher erklingt die Stimme des Lagerältesten: Sie alle seien nun frei. Doch erst als die Durchsage kommt, man bereite eine Gulaschsuppe, denkt György ernsthaft an Freiheit.
Heimat
Die Rückreise nach Budapest tritt György in amerikanischer Armeehose und seinem Sträflingshemd an. Er kommt mit anderen Lagerinsassen durch zerstörte deutsche Städte und kann sich nicht darüber freuen. Etwa ein Jahr nach seiner Abreise kehrt er nach Budapest zurück. Sein Weg kreuzt die Adresse von Bandi Citrom und er sucht dessen Haus auf. György trifft auf Bandis Mutter und Großmutter und erfährt, dass sein Lagergefährte noch nicht nach Hause gekommen ist. Die Großmutter hat noch Hoffnung, die Mutter nicht. In der Bahn verlangt ein Schaffner Györgys Fahrkarte. Er hat keine und soll den Zug verlassen. Ein Fahrgast empört sich und zahlt ihm die Karte. Der Mann fragt György, was er bei sein Rückkehr nach Budapest empfinde. Seine Antwort lautet „Hass“ – auf jeden. Der Mann äußert Verständnis. Er steigt mit György aus und fragt ihn, ob er der Welt nicht über seine Erlebnisse aus der „Hölle der Lager“ berichten möchte. György kann mit dem Begriff Hölle nichts anfangen. Er erklärt dem Mann, dass sich in den Lagern alles nur Stufe für Stufe offenbare. Würde man alles in einem Augenblick durchschauen, würde man es vermutlich nicht aushalten.
Der Mann gibt sich als Journalist zu erkennen und äußert den Wunsch, einen Artikel über György zu schreiben. Er gibt ihm einen Zettel mit seinem Namen und der Adresse der Redaktion. György will sich zuerst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, wartet, bis der Journalist gegangen ist, und wirft den Zettel weg. Sein altes Zuhause steht noch. Das Haus ist unverändert, der Geruch vertraut. An der Tür der ehemaligen Wohnung trifft György auf eine fremde Frau. Sie weiß nichts von Györgys Familie. Er klingelt bei Fleischmann und trifft auf ihn und Steiner. Nun erfährt er, dass sein Vater im Lager gestorben ist, seine Mutter aber am Leben ist. Seine Stiefmutter ist mittlerweile mit Sütö verheiratet, der sie in der Zwischenzeit versteckt hat.
„Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war.“ (S. 382)“
Die Männer raten György, alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. György widerspricht. Man könne nur sein angefangenes Leben fortführen. Ob sie denn wollten, dass all seine Schritte sinnlos gewesen seien, will György wissen. Wenn es Freiheit gebe, dann sei jeder Mensch selbst das Schicksal – auch Steiner und Fleischmann, die vor einem Jahr darüber stritten, mit welchem Verkehrsmittel György nach Auschwitz fahren sollte. Die Männer sind erzürnt und meinen, György würde ihnen die Schuld geben. Doch ihm geht es nicht um Schuld, sondern um Einsicht: Man könne niemandem, vor allem ihm nicht, das Gefühl nehmen, etwas durchgemacht zu haben, kein Sieger oder Verlierer zu sein, keine Ursache oder Wirkung zu haben, indem man ihn einfach nur zum Unschuldigen stempelt. György geht unverstanden zurück auf die Straße. Es ist Abend, Györgys „liebste Stunde im Lager“, er fühlt Heimweh. Er beschließt weiterzuleben und macht sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Mutter. Jedes Leben wird mit der Zeit natürlich, selbst das in den Lagern, in denen es auch Momente des Glücks gab. Davon muss er berichten, wenn er gefragt wird.
Zum Text
Aufbau und Stil
Roman eines Schicksallosen ist in neun Kapitel unterteilt. Der Ich-Erzähler berichtet in chronologischer Abfolge die Erlebnisse, die sich während ungefähr eines Jahres zutragen, aus der Perspektive eines 14-jährigen Jungen. Der ganze Text ist nicht vom Ende her erzählt, sondern aus Etappen innerhalb des Erzählten heraus. Die erzählten Erlebnisse scheinen jeweils kurz zuvor passiert zu sein, sodass der Eindruck eines Tagebuchs entsteht, wobei alle Erlebnisse gleichberechtigt aneinandergereiht werden. Sprachlich ist der Text relativ einfach gehalten, Fremdwörter sind selten, es wird auch nicht viel Wissen vorausgesetzt. Meistens wird in der einfachen Vergangenheitsform erzählt, kleinere Teile auch im Präsens. Auffällig sind häufige Einschübe in Gedankenstrichen, wie „so wurde versichert“, „so heißt es“ oder „das kann ich ruhig sagen“. Sie vermitteln den Eindruck eines beiläufigen oder zu sich selbst gesprochenen Vortrags. Auch relativierende Einschübe wie „das sah ich ein“ oder der sehr häufig verwendete Begriff „natürlich“ sind auffällig. Figurenrede wird überwiegend indirekt wiedergegeben, oft auch mit kurzen zitierten Einschüben in direkter Rede. Einzelne direkte Passagen sind auch in anderen Sprachen, etwa Jiddisch oder lautmalerisch in Französisch wiedergegeben.
Interpretationsansätze
- Im Buch ist der Holocaust kein Sonderfall der Geschichte, sondern integraler Bestandteil des modernen Lebens. Durch die sprachliche Gleichbehandlung aller erzählten Details verdeutlicht der Text, dass der unmenschliche Folterapparat der Nazis zeitgleich mit einer lieblichen Landschaft oder einem schönen Bahnhofsgebäude existiert. Der industrielle Massenmord kann als eine Konsequenz der Moderne gesehen werden, in der die moralischen Instanzen nicht mehr existieren.
- Die Leser wissen mehr als der Ich-Erzähler, daraus ergibt sich die starke Wirkung des Textes. Wir wissen, was Auschwitz ist, György erlebt es. Der unbeschwerte, heitere Ton, mit dem der Erzähler die ersten Eindrücke in Auschwitz beschreibt, zeigt das noch immer herrschende kindliche Urvertrauen des Menschen in andere Menschen. In der Folge ist zu beobachten, wie dieses enttäuscht und vernichtet wird.
- Der Roman macht keine Schuldzuweisung. Trotz der beispiellosen Verbrechen fragt der Text nicht nach der Schuld von Gruppen wie „den Deutschen“ oder Kollaborateuren, sondern nach der Rolle jedes Individuums – auch der Opfer.
- Der Text ist auch als Entwicklungsroman lesbar. Der Protagonist reift durch die Erfahrungen in den Lagern und ist am Schluss eine geformte Person, die im Kontrast zu ihrer Umwelt deutlich und individuell sichtbar geworden ist.
- Der Roman zeigt anhand seiner naiven Erzählerfigur das Versagen der Eltern bzw. der Schule. György und seine Freunde gehen völlig unvorbereitet in ihr Verderben. Sie haben nirgends gelernt, Unrecht zu erkennen, kritisch zu hinterfragen oder sich zu widersetzen.
- Nach Auschwitz versagt die Sprache. Im Gespräch mit Steiner und Fleischmann, aber auch mit dem Journalisten merkt György, dass er sich nicht mehr gut verständigen kann.
- Der Roman zeichnet den schriftstellerischen Weg des Autors nach: von der vorurteilsfreien Beobachtung über die existenzielle Erfahrung zu deren Verarbeitung mithilfe einer neuen Sprache.
Historischer Hintergrund
Der „Gulaschkommunismus“
Als 1956 der ungarische Volksaufstand von Truppen der sowjetischen Armee niedergeschlagen und der Hoffnungsträger und Ministerpräsident Imre Nagy inhaftiert wurde, war der für kurze Zeit moderate Kurs des ungarischen Sozialismus zunächst am Ende. Nagy wurde 1958 hingerichtet, Hunderte seiner Mitstreiter ebenfalls. Unter dem neuen Präsidenten János Kádár wurden zudem rund 20 000 politisch unliebsame Ungarn inhaftiert und mehr als 200 000 Menschen flohen aus dem Land.
Aus einem anfänglichen Hardliner-Regime stalinistischer Prägung wurde im Lauf der 1960er-Jahre aber mehr und mehr eine reformorientierte Variante des Sozialismus. Kádár, zunächst als Volksverräter verhasst, drängte auf Erleichterungen für die Bevölkerung im starren Korsett des von Moskau verordneten Staatssozialismus. Sein Ausspruch „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“ verdeutlichte die Abwendung vom Stalinismus. Anders als in anderen Staaten des Ostblocks entwickelte Ungarn mit der Zeit einen Sonderweg mit kleinen privatwirtschaftlichen Unternehmen, Reiseerlaubnissen, wissenschaftlichem Austausch und kultureller Vielfalt. Der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow erfand für diesen von ihm weitgehend genehmigten – und sogar finanziell unterstützten – Sonderweg den Begriff „Gulaschkommunismus“. Doch auch dieser Gulaschkommunismus hatte klare Anzeichen einer Diktatur. Dazu gehörte neben der unangreifbaren Vormachtstellung der kommunistischen Partei unter anderem die Zensur literarischer Werke. Erst Mitte der 1970er-Jahre mit dem Aufkommen einer politischen Opposition im Umfeld des Philosophen Georg Lukács wurde auch die Zensur deutlich aufgeweicht.
Entstehung
Imre Kertész begann die Arbeit an seinem ersten Roman im Jahr 1960, nachdem er sich ab den 1950er-Jahren intensiv mit deutscher und europäischer Literatur und Philosophie befasst hatte. Der Anfang der Niederschrift war offenbar sehr schwierig. In seinem Tagebuch vermerkte er 1961, alles bisher Geschriebene müsse „weggeworfen werden“. Kertész verwendete in seinem Roman seine eigenen Erlebnisse als halbwüchsiger Häftling in den Konzentrationslagern Auschwitz, Buchenwald und Zeitz – dazu zählen auch authentische Namen wie etwa Bandi Citrom. Dennoch vermied er den Ton und Eindruck einer Autobiografie. Die Entstehung des Romans ist unter anderem beeinflusst von der Lektüre Thomas Manns und Albert Camus’ sowie der Zwölftonmusik und ihrer Erläuterung durch Theodor W. Adorno. Das in der Zwölftonmusik vorherrschende Prinzip des fehlenden Grundtons übernahm Kertész für seine Erzählhaltung: kein fester Bezugspunkt, keine Möglichkeit der Reflexion, keine Moral – stattdessen nur linearer Fortschritt.
Kertész’ Erfahrungen in der kommunistischen Diktatur nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand von 1956 bestärkten ihn in dem Wunsch, das Thema Totalitarismus und Machtmissbrauch anhand seiner eigenen Erfahrung in den Konzentrationslagern literarisch fassbar zu machen. Die äußeren Lebensumstände während seiner Arbeit am Roman waren sehr beengt und dürftig; er lebte zusammen mit seiner Frau auf 28 Quadratmetern. Im Lauf der Arbeit am Manuskript änderte Kertész mehrfach den Titel. Zunächst sollte der Roman „Ferien im Lager“, dann „Muselmann“ heißen, bis er schließlich den Titel Sorstalanság („Schicksallosigkeit“) erhielt. Nach der Fertigstellung 1973 wurde der Roman zunächst vom ungarischen Staatsverlag Magvető abgelehnt, bevor ihn ein anderer Verlag – für Kertész selbst überraschend – 1975 in einer Auflage von 5000 Exemplaren veröffentlichte.
Wirkungsgeschichte
Der Roman erhielt weder ein publizistisches Echo noch eine hinreichende werbliche Anstrengung seitens des Verlags, um ihn bekannt zu machen. Im Gegenteil: Die Bücher der ersten Auflage wurden nach kurzer Zeit weitgehend aus dem Verkehr gezogen. Die politische Stimmung des kommunistischen Ungarn hatte keinen Platz für Kertész’ Art der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Erst eine Neuauflage im nun liberaleren Ungarn sorgte 1985 für Aufmerksamkeit. International begann der Roman 1990 mit der ersten deutschen Übersetzung, mehr noch aber mit der zweiten von Christina Viragh 1996 eine größere Leserschaft zu erobern. Sowohl das Lesepublikum als auch Schriftstellerkollegen und Rezensenten betonten den neuen und völlig eigenständigen Ton, den das Buch anschlägt. „Eine so entsetzliche, verständnisinnige Unschuld darzustellen, das hatte vor ihm noch keiner gewagt“, schrieb Hans Magnus Enzensberger. Die Zeit urteilte: „Der Roman sprengt bis heute alle bekannten literarischen Codes und steht einzigartig in der Landschaft der europäischen Nachkriegsliteratur.“ Roman eines Schicksallosen war 2002 der Hauptgrund für die Verleihung des Literaturnobelpreises an Kertész. 2005 verfilmte Lajos Koltai den Roman nach einem Drehbuch von Kertész selbst. Der Film erhielt den internationalen Titel Fateless. Mittlerweile ist der Roman in 65 Sprachen übersetzt und gilt als eines der bedeutendsten literarischen Werke über den Holocaust.
Über den Autor
Imre Kertész wird am 9. November 1929 in der ungarischen Hauptstadt Budapest geboren. Als einziges Kind jüdischer, kleinbürgerlicher Eltern wächst er nach deren Scheidung beim Vater und dessen neuer Frau auf. 1944 wird Kertész im Zuge der Judendeportationen über Auschwitz nach Buchenwald und in das benachbarte Konzentrationslager Zeitz verschleppt. 1945 wird er durch amerikanische Soldaten befreit. Er kehrt zurück nach Budapest, wo er bei seiner Mutter lebt und 1948 sein Abitur macht. Im Anschluss arbeitet er für eine Zeitung, die schon bald zum Parteiorgan der ungarischen Kommunisten wird. Kertész wird wegen mangelnder Gesinnung entlassen. 1951 tritt er seinen Militärdienst an, unter anderem als Aufseher in einem Gefängnis. Ab 1953 arbeitet er als freiberuflicher Autor für Musical- und Boulevardtheater. 1960 beginnt er die 13-jährige Arbeit an seinem Roman eines Schicksallosen, dem Bericht eines 14-Jährigen, der Auschwitz und Buchenwald überlebt. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Übersetzer deutscher Literatur und Philosophie, unter anderem von Nietzsche, Hofmannsthal, Freud, Canetti, Wittgenstein und Schnitzler. Roman eines Schicksallosen erscheint 1975, 1988 folgt Fiasko und 1990 Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Der internationale Durchbruch gelingt Kertész erst 1996 mit der deutschen Neuübersetzung seines Erstlingswerks. Kertész verfasst eine Reihe Erzählungen, autobiografische Schriften und Essays. 2002 erhält er nach verschiedenen anderen Auszeichnungen den Nobelpreis für Literatur. Von 2001 bis 2014 lebt er in Berlin. Der dortigen Akademie der Künste überlässt er einen Großteil seiner Manuskripte für ein Archiv unter seinem Namen. 2012 zieht Kertész, an Parkinson erkrankt, mit seiner zweiten Frau zurück nach Budapest, wo er am 31. März 2016 stirbt.
Meine markierten Stellen
Hat Ihnen die Zusammenfassung gefallen?
Buch oder Hörbuch kaufenDiese Zusammenfassung eines Literaturklassikers wurde von getAbstract mit Ihnen geteilt.
Wir finden, bewerten und fassen relevantes Wissen zusammen und helfen Menschen so, beruflich und privat bessere Entscheidungen zu treffen.
Sind Sie bereits Kunde? Melden Sie sich hier an.
Kommentar abgeben