Alfred Andersch
Sansibar oder der letzte Grund
Diogenes Verlag, 1972
Was ist drin?
Fünf Menschen und eine Holzfigur trotzen dem Terror der Nazis: Anderschs Roman ist ein Appell an alle, aufzustehen und zu handeln.
- Roman
- Nachkriegszeit
Worum es geht
Die Sehnsucht nach Freiheit
Selten zuvor war ein Buchtitel so irreführend: Wie viele Generationen von Schülern mögen bei Sansibar oder der letzte Grund spannende Abenteuer in tropischer Hitze erwartet haben? Stattdessen spielt die Geschichte in einem öden Ostseehafen an einem eisgrauen Herbsttag 1937. Fünf Menschen und eine Holzfigur treffen hier aufeinander: ein an Gott verzweifelnder Pfarrer, zwei enttäuschte Kommunisten, eine Jüdin auf der Flucht, ein pubertierender Junge und die Plastik des "Lesenden Klosterschülers". Außer dass sie alle durch "die Anderen" (sprich: die Nazis) bedroht werden, haben sie nicht viel miteinander gemein. Am Ende gelingt zumindest einigen von ihnen die Flucht in die Freiheit - nicht mit dem Segelschiff nach Sansibar, aber immerhin mit einem Fischkutter nach Schweden. Andersch schafft es, durch seine Erzähltechnik der parallelen Personenführung und der sich kreuzenden Perspektiven die Spannung bis zur letzten Seite aufrechtzuerhalten. Einige Leser erinnern sich vielleicht noch schaudernd an das schablonenhafte Interpretationsschema, mit dem sie den Roman während ihrer Schulzeit sezieren mussten. Nicht zuletzt aus diesem Grund lohnt es sich, noch einmal ganz unvoreingenommen diese Flucht in die Freiheit auf sich wirken zu lassen.
Take-aways
- Sansibar oder der letzte Grund festigte Alfred Anderschs Ruf als einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur.
- Das Thema des Buches ist die Flucht in die Freiheit: Flucht vor staatlichem Terror, gesellschaftlicher Enge und ideologischer Bevormundung.
- In dem Ostseehafen Rerik treffen im Herbst 1937 sechs unterschiedliche Gestalten aufeinander.
- Pfarrer Helander bittet den Fischer und Kommunisten Knudsen, die Statue des "Lesenden Klosterschülers" vor den Nazis in Sicherheit zu bringen.
- Knudsen weigert sich stur, bis der junge KP-Funktionär Gregor, den das Kunstwerk berührt, ihm die Rettung der Plastik befiehlt.
- Gleichzeitig kommt die Jüdin Judith nach Rerik, um von dort aus Deutschland zu fliehen.
- Knudsens Lehrjunge beobachtet interessiert das Geschehen. Auch er will weg - am liebsten bis nach Sansibar.
- Am Ende werden die Statue und Judith von Knudsen und dem Jungen heil nach Schweden gebracht. Gregor bleibt freiwillig in Rerik.
- In Schweden will der Junge fliehen, entschließt sich aber im letzten Moment, mit Knudsen zurückzukehren, um diesen nicht zu gefährden.
- Helander widersetzt sich der Verhaftung durch die Nazis und provoziert seine Erschießung.
- Freiheit liegt laut Andersch in der eigenverantwortlichen Tat. Er folgte damit den französischen Existenzialisten.
- Der Roman erschien 1957, ein Jahr nach der Wiederbewaffnung und dem KPD-Verbot in der Bundesrepublik. Einige Kritiker lasen ihn als Parabel auf die Adenauer-Zeit.
Zusammenfassung
Sechs auf der Flucht
In dem kleinen Ostseehafen Rerik treffen an einem kalten Herbsttag im Jahr 1937 sechs Geschöpfe aufeinander: ein Junge, der sich in dem Nest zu Tode langweilt und die weite Welt sehen möchte, sein Lehrmeister, der Fischer und Kommunist Knudsen, der seinen Glauben an die Partei verloren hat, der junge, desillusionierte KP-Funktionär Gregor, die Jüdin Judith Levin, auf der Flucht vor den Rassegesetzen der Nazis, und schließlich Pfarrer Helander, der die als "entartete Kunst" eingestufte Holzplastik des Lesenden Klosterschülers vor den Nazis in Sicherheit bringen will.
Hafen ohne Ausweg
Helander beschließt, Knudsen zu bitten, die Figur nachts mit seinem Fischkutter nach Schweden zu bringen. Der Kommunist Knudsen ist zwar nicht gerade ein Freund der Kirche, so die Überlegung des Pfarrers, doch zumindest haben sie in den Anderen einen gemeinsamen Feind. Obwohl die meisten Reriker Fischer zwei Tage zuvor zum Dorschfang ausgelaufen sind, liegt Knudsen noch im Hafen und wartet auf ein für den Nachmittag anberaumtes Treffen mit einem KP-Funktionär. Knudsen ärgert sich, dass er wieder einmal die Gelegenheit zum Absprung verpasst hat. In Rerik sind die ehemaligen Genossen seit Langem verstummt. Jeder Kontakt zur Zentrale könnte für Knudsen böse enden. Die Anderen haben schon einmal versucht, ihm seine Frau wegzunehmen - angeblich, weil sie geistesgestört sei. Sicher, sie erzählt schon seit Jahren immer wieder den gleichen makabren Witz. Doch er hängt an ihr und möchte sie nicht gefährden. Helanders Bitte, erst in der Nacht loszufahren und die Holzfigur mitzunehmen, lehnt Knudsen nicht zuletzt deshalb rundheraus ab. Für einen "Götzen", wie er es nennt, soll er sein Leben und das seiner Frau aufs Spiel setzen? Niemals!
„Es wäre einfacher, dachte Gregor, vom Meer abhängig zu sein, statt von den Menschen.“ (S. 8)
Inzwischen ist Judith unter Angabe eines hanseatisch klingenden Nachnamens in einem Gasthof am Hafen abgestiegen. Sie hofft, in Rerik ein ausländisches Schiff zu finden, das sie mitnimmt. Ihre an den Beinen gelähmte Mutter hat sich am Vortag das Leben genommen. Sie wollte Judith dazu bewegen, endlich von dem verschlafenen Hafenstädtchen aus die Flucht zu wagen und nicht wegen ihrer kranken Mutter eine Verhaftung zu riskieren. Beim Blick auf die tote, leere Stadt mit den sechs riesigen, roten Kirchtürmen sinkt jedoch Judiths Mut. Die Türme scheinen Augen zu haben. Und im Hafen liegt kein einziges Schiff. Könnte Rerik sich etwa als Falle herausstellen? Der fette Gastwirt ahnt offenbar, dass Judith etwas zu verbergen hat und deutet lüstern einen nächtlichen Besuch an, um sich ihren Pass anzusehen. Noch während sie schaudernd darüber nachdenkt, legt im Hafen ein schwedisches Schiff an.
Kommunisten in der Kirche
Gregor trifft wie verabredet um vier Uhr in Helanders Kirche ein, wo er einen ihm unbekannten Genossen über neue Organisationsstrategien der kommunistischen Partei aufklären soll. Insgeheim hofft er, dass der Mann gar nicht erst erscheint. Denn Gregor will über kurz oder lang ebenfalls flüchten - weg aus Deutschland und weg von der Partei. Er kann sich nicht mehr mit der rigiden Doktrin identifizieren und sehnt sich nach der Freiheit, einfach aufstehen und weggehen zu können - eine Freiheit, wie sie die Figur des in seine Lektüre versunkenen Klosterschülers vor ihm ausstrahlt. Gregor ist überwältigt: Die etwa einen halben Meter große Holzstatue ist anders als alles, was er bisher gesehen hat: Gläubig und doch kritisch, so scheint es, sitzt der Novize da und liest, was wichtig ist.
„Mama war gestorben, damit sie, Judith, nach Rerik gehen könne. Es war ein Testament, und sie hatte es zu vollstrecken.“ (S. 19)
Knudsen tritt ein. Gregor erläutert ihm das neue Fünfergruppensystem der Partei. Der Fischer knurrt, dass er in Rerik als Einziger übrig geblieben sei und keine Lust mehr habe. Gregor wechselt das Thema und fragt nach möglichen Kurierdiensten ins Ausland, in der Hoffnung, selbst wegzukommen. Die beiden belauern einander eine Weile misstrauisch, bis sie sich gegenseitig als Deserteure beschimpfen. Da erscheint Pfarrer Helander, halb betäubt von Schmerzen: Er hat während des Ersten Weltkriegs sein Bein verloren, und wegen seines hohen Blutzuckers droht die Operationswunde nun wieder aufzubrechen. Der Anblick der beiden Kommunisten in seiner Kirche erzürnt ihn. Doch dann erkennt er, dass er in Gregor einen Verbündeten gewonnen hat. Am Ende befiehlt dieser nämlich dem perplexen Knudsen, die Figur mitzunehmen. Der Fischer bleibt stur und kündigt seine Abfahrt schon um fünf Uhr an. Gregor scheint sich seiner Sache dennoch sicher zu sein und vereinbart mit Helander, die Figur um Mitternacht gemeinsam abzubauen. Der Fischer werde warten, versichert er dem Pfarrer.
Aufruhr in der Hafenkneipe
Gregor sieht Judith am Kai stehen, als der schwedische Dampfer einläuft. Er erkennt sofort, was mit ihr los ist und worauf sie hofft. Das Schiff sieht schäbig aus. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Mannschaft das Risiko auf sich nehmen wird, eine Jüdin aus dem Land zu schmuggeln. Judith und Gregor folgen den Seemännern in den Gasthof, wo der Wirt offenbar noch immer von einem nächtlichen Schäferstündchen mit Judith ausgeht. Ein ziemlich betrunkener Schwede bietet ihr einen Schnaps an, den sie ablehnt. Die Einladung, auf einen Whisky mit aufs Schiff zu kommen, nimmt Judith jedoch an. Der Wirt ist außer sich und beschimpft sie als Flittchen. Gregor verhindert im letzten Moment eine Schlägerei, indem er den Gastwirt zu sich ruft. Judith geht mit dem jungen Schweden aufs Schiff. Diesem scheint die Sache mit zunehmender Nüchternheit immer peinlicher zu werden. Er kommt nicht an den Whisky heran, weil der Kapitän den Schlüssel zum Alkoholschrank mit an Land genommen hat. Nun möchte er seine plötzliche Eroberung nur noch loswerden und verschwindet für eine Weile. Judith gibt ihre Hoffnung nicht auf, bis er statt mit Whisky mit einem Glas Limonade zurückkommt und ihr damit unmissverständlich klarmacht, sie möge doch bitte verschwinden.
Der letzte Fluchtgrund
Knudsens Lehrling beobachtet das Geschehen um sich herum und wundert sich, dass der Fischer noch immer nicht zum Dorschfang ausgefahren ist. Niemand ahnt, dass auch der Junge auf eine günstige Gelegenheit wartet, aus Rerik zu entkommen. Erstens weil er das Städtchen zum Ersticken eng und spießig findet, zweitens weil er glaubt, dass der Ort seinen Vater umgebracht hat. Dieser galt als Säufer und kam während einer Fahrt auf die offene See hinaus um - für seinen Sohn ein Zeichen, dass er Träume hatte und höher hinauswollte. Nach langem Nachdenken fällt dem Jungen schließlich der dritte und letzte Grund zur Flucht ein: die Existenz von Sansibar, der fernen Insel am anderen Ende der offenen See.
Der Plan
Gregor versichert dem wütenden Wirt, dass Judith zurückkommen werde. Er möchte etwas Zeit schinden, bevor der Gastwirt sie anzeigt. Dann geht er zu Knudsen, der tatsächlich mit seinem Boot gewartet hat. Der Fischer erklärt ihm mürrisch seinen Plan: Gregor soll den Lesenden Klosterschüler nachts etwas abseits der Stadt ans Ufer bringen, wo der Junge die Statue mit dem Beiboot abholen wird. Zusammen werden sie auf die andere Seite des Haffs zu Knudsens Kutter hinausrudern. Von dort soll Gregor am nächsten Morgen zu Fuß nach Rerik zurückkehren. Gregor wartet vergeblich auf ein Angebot des Fischers, ihn nach Schweden mitzunehmen. Es ist offensichtlich, dass Knudsen ihn hasst: den Deserteur, der dem enttäuschten Genossen die eigene Fahnenflucht vor Augen führt. Gregor hat ihn daran gehindert, es sich in seinem zeitweiligen Ruhestand gemütlich einzurichten und auf eine etwaige Rückkehr der Partei zu warten.
Zwischen Angst und Aktion
Helander hat noch am gleichen Abend den Arzt kommen lassen und von ihm die Bestätigung erhalten: Er sollte wegen der Entzündung an seinem Beinstumpf unverzüglich ins Krankenhaus. Der Pfarrer sieht darin höhere Gewalt und beschließt, Gregor nicht wie abgemacht um Mitternacht in seiner Kirche zu treffen, um die "Aktion Klosterschüler" zu vollenden. Denn der Pfarrer hat Angst. Am Morgen werden die Anderen kommen. Wenn die Plastik dann nicht an ihrem Platz steht, ist er geliefert. Der Gedanke an die Folter und die Schmerzen in seinem Beinstumpf sind für ihn unerträglich. Welchen Sinn macht das Martyrium, denkt Helander, wenn man glaubt, dass Gott fern ist? Andererseits: Könnte er es wirklich fertigbringen, die Figur den Anderen zu überlassen? Und wäre er nicht, wenn er es täte, zwar vor den Anderen gerettet, aber einsamer denn je? Noch während er über diese Fragen nachsinnt, nickt Helander ein, ohne das Taxi zum Krankenhaus gerufen zu haben.
„Weil die Anderen den ,Klosterschüler’ angreifen, dachte Helander, ist er das große Heiligtum. Den mächtigen Christus auf dem Altar lassen sie in Ruhe, sein kleiner Schüler ist es, der sie stört.“ (S. 29)
Gregor fängt Judith am Hafen ab, als sie gerade entmutigt das schwedische Schiff verlässt. Ohne sie über seine Pläne aufzuklären, nimmt er sie mit zur Kirche. Er fühlt sich abwechselnd zu ihr hingezogen und von ihr abgestoßen: Judiths Jugend und fremdartige Schönheit faszinieren ihn, zugleich aber geht ihm die Verwöhntheit und Naivität dieses jungen Mädchens aus den Kreisen der Hamburger Bourgeoisie auf die Nerven. Er berichtet ihr von der geplanten Rettungsaktion für die Statue und stellt ihr in Aussicht, dass Knudsen sie möglicherweise ebenfalls mitnehmen werde. Ob er ihr denn ohne den Lesenden Klosterschüler nicht helfen würde, fragt Judith. Doch, entgegnet Gregor und nähert sich ihr zu einem Kuss - als plötzlich Helander erscheint und dem Zauber des Augenblicks ein Ende setzt. Nach seinen Anweisungen entfernen Gregor und Judith die Figur vom Sockel und wickeln sie in eine Decke ein. Auf Helanders Bitte, noch ein Vaterunser für die Flüchtenden sprechen zu dürfen, reagiert Gregor unwirsch: Dafür sei keine Zeit. Der Pfarrer betet es schließlich lautlos in der leeren Kirche.
Flucht nach Schweden
Der Junge kämpft verbissen gegen die starken Böen und hohen Wellen an, als er das Beiboot über das Haff zu der von Knudsen angegebenen Stelle rudert. Obwohl die ganze Geschichte ihm mehr als rätselhaft erscheint, wittert er darin eine einmalige Chance, aus Rerik zu türmen. Gregor und Judith erreichen mit der Figur das Ufer. Der Junge erwartet sie bereits. Vorsichtig rudern sie das Ufer der Halbinsel entlang zu Knudsens Kutter, als plötzlich die Scheinwerfer des Zollbootes auf der dunklen See aufleuchten. Langsam, aber stetig nähern sie sich dem gegen den Wind ankämpfenden Boot. Als der Lichtstrahl nur noch wenige Meter von ihnen entfernt ist, erlischt er plötzlich für einige Sekunden. Kurz darauf geht das Licht wieder an, doch das Boot ist schon außer Gefahr, entdeckt zu werden.
„Gregor konnte sehr gut verstehen, warum die Anderen den jungen Mann nicht mehr sitzen und lesen lassen wollten. Einer, der so las wie der da, war eine Gefahr.“ (S. 56)
Der wartende Knudsen nimmt sich unterdessen vor, die Holzfigur einfach über Bord zu werfen und doch noch auf Dorschfang zu gehen. Wie sollte er auch den Leuten in Rerik erklären, dass er nach zweitägiger Fahrt ohne Fische zurückkehrt? Gregor stellt Judith dem Fischer vor; der weigert sich, sie mitzunehmen. Er ist überzeugt, dass der Deserteur sich auf diese Weise selbst einzuschleichen versucht. Gregor hat mit Knudsens Sturheit gerechnet. Er schlägt ihn nieder und fragt den Jungen, ob er Judith und die Figur allein nach Schweden bringen könne. Als dieser erfreut zustimmt, richtet sich der Fischer mit blutender Nase auf und gibt nach: Gregor hat in seinen Augen bewiesen, dass er nicht selbst mit aufs Schiff möchte. Nun bietet er ihm an, doch mitzukommen, aber Gregor lehnt ab und marschiert nach Rerik zurück. Während der Überfahrt erzählt der Junge Judith von seinen Fluchtplänen. Das Mädchen ist schockiert und versucht, ihn davon abzubringen: Wenn er nicht mit Knudsen zurückkehre, sei der Fischer geliefert.
Helanders Tat
Am frühen Morgen beobachtet Helander, wie Gregor sein ans Pfarrhaus angelehntes Fahrrad abholt und ihm dabei signalisiert, dass alles gut gegangen ist. Dem Pfarrer bleibt jetzt nur noch, auf die Anderen zu warten. Gott ist fern, denkt er, aber irgendwo hält er sich versteckt. Helander nimmt eine Pistole aus seinem Schreibtisch. Er sieht die vier Männer zunächst in die Kirche gehen und hört sie dann die Treppe hinaufkommen. Als der erste im Türrahmen erscheint, drückt der Pfarrer ab. In diesem Moment erblickt er an der Wand seiner Kirche eine göttliche Botschaft, die er so lange herbeigesehnt hat. Er liest sie und fühlt sich so lebendig wie nie, während die Kugeln der Anderen in ihn eindringen.
„Ein reizendes Land - man steht vor fremden Schiffen an, um es zu verlassen.“ (Gregor, S. 61)
Am Spätnachmittag legt Knudsen mit seinem Boot in der Nähe von Skillinge in Schweden an; er begleitet Judith bis zur Hauptstraße. Von dort aus soll sie allein in die Stadt gehen und dem Probst die Figur übergeben. Der Junge nutzt die Gelegenheit und entwischt durch den Kiefernwald zu einem verlassenen Holzhaus an einem See. Hier will er eine Weile bleiben und sich dann in der Stadt als politisch Verfolgter ausgeben. Er fängt zwei Fische im See, die jedoch ohne Salz nach gar nichts schmecken. Dann geht er zum Anlegeplatz zurück, um zu sehen, ob der Fischer bereits verschwunden ist. Knudsen sitzt rauchend auf seinem Boot und wartet. Der Junge spaziert schließlich zu dem Kutter zurück, als ob nichts geschehen wäre.
Zum Text
Aufbau und Stil
In seinem Aufbau erinnert der Roman an ein Theaterstück oder einen Film: Die 37 Kapitel tragen als einzige Überschrift den oder die Namen der auftretenden Personen und wirken so wie Akte oder Szenen. Die besondere Spannung dieses Romans wird durch die ständig wechselnden und sich überschneidenden Perspektiven der fünf menschlichen Hauptfiguren erzielt: Auf jeden Auftritt von ein oder zwei Erwachsenen folgt ein kurzer Abschnitt, der die Beobachtungen und inneren Monologe des Jungen wiedergibt. Ein so genannter personaler Erzähler vermittelt das Geschehen aus der Sicht der Protagonisten, die durch ihre jeweilige soziale Herkunft und ihren Charakter bestimmt ist. Der Leser erhält den Eindruck, dass sie sich gegenseitig belauern, ohne einander je richtig zu verstehen, während er selbst durch seine Kenntnis aller Perspektiven den Durchblick bewahrt. Andersch führt die zunächst parallel verlaufenden Handlungsstränge in der zentralen Figur des "Lesenden Klosterschülers" zusammen. Gregors Betrachtungen lassen die Holzplastik lebendig erscheinen, sodass auch der Leser in ihren Bann gezogen wird. Die Sprache erinnert streckenweise an ein expressionistisches Gemälde: Andersch tunkt die Erzählung in blasse oder kräftige, hoffnungsvolle oder bedrohliche Farben, je nachdem welche Ereignisse geschildert, welche Gefühle beschrieben werden.
Interpretationsansätze
- Das Grundmotiv des Romans ist die Flucht in die Freiheit. Die Protagonisten haben die unterschiedlichsten Beweggründe für die Desertion: Sie müssen als Verfolgte des Regimes weg aus Deutschland oder sind vom Glauben an Gott oder den Kommunismus abgefallen. Letztendlich finden aber alle in einer gemeinsamen, solidarischen Tat zusammen.
- Die einzelnen Personen sind durch gesellschaftliche Unterschiede voneinander isoliert. Angst, Missgunst oder purer Egoismus lassen die Rettungsaktion mehrmals um ein Haar scheitern. Doch am Ende siegen Menschlichkeit und Mut zum Widerstand. Andersch schuf mit diesem Ausgang einen Gegenentwurf zur Geschichte des Dritten Reichs.
- Der Junge ist in seiner Position als Beobachter der Erwachsenenwelt vor allem für jüngere Leser eine Identifikationsfigur. Er durchlebt einen Reifungsprozess und handelt am Ende verantwortlich, indem er seine Kindheitsträume begräbt und zu Knudsens Boot zurückkehrt.
- Die Figur Gregors trägt autobiografische Züge: Alfred Andersch war vor 1933 im kommunistischen Jugendverband aktiv und von 1935 bis 1943 mit der Halbjüdin Angelika Albert verheiratet. Im Unterschied zu Gregor leistete er aber keinen Widerstand gegen die Nazidiktatur, sondern ging in eine innere Emigration.
- Der Autor, ein Anhänger Sartres und des französischen Existenzialismus, unterstrich mit dem Buch seine Auffassung, dass nur frei ist, wer eigenverantwortlich handelt - unabhängig von Religion und Ideologien aller Art.
- Für seine zentralen Ideen verwendet Andersch Symbole: Die ferne Insel Sansibar und die offene See stehen für die Befreiung von staatlicher und gesellschaftlicher Unterdrückung, der "Lesende Klosterschüler" für persönliche Entscheidungsfreiheit, und die roten Türme der Stadt symbolisieren den Terror durch den Überwachungsstaat.
- Die Chiffre "die Anderen" für die Nationalsozialisten unterstreicht die Zeitlosigkeit der Bedrohung: "Die Anderen" sind schließlich nicht mit dem Ende des Dritten Reichs verschwunden, Terror und Unterdrückung lauern überall. Einige Zeitgenossen Anderschs sahen in dem Buch deshalb auch eine Parabel auf die Situation im Nachkriegsdeutschland.
Historischer Hintergrund
Nachkriegsliteratur in Zeiten der Wiederbewaffnung
Der Roman spielt im Herbst 1937, zu einer Zeit, in der die Nationalsozialisten nach der relativen Schonzeit im Olympiajahr 1936 eine deutlich schärfere Gangart einschlugen: Adolf Hitler rüstete zum Krieg und seine Pläne zur "Eroberung neuen Lebensraums" nahmen auf einer Geheimkonferenz im November konkrete Formen an. Zugleich wuchs der Druck auf politische Gegner und zahlreiche Künstler in Deutschland. Im Juli wurde die Ausstellung "Entartete Kunst" in München eröffnet. Die Nationalsozialisten beschlagnahmten Tausende moderner Kunstwerke und zerstörten sie oder verkauften sie ins Ausland. Die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung war seit Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 juristisch verankert: Juden durften keine Nichtjuden mehr heiraten, nicht wählen und kein staatliches Amt bekleiden. Zwischen 1933 und 1939 sank die Zahl der in Deutschland lebenden Juden von über einer halben Million auf weniger als die Hälfte. Und das war erst der Anfang; es folgte die systematische Ermordung von Millionen von Juden.
Als Sansibar oder der letzte Grund 1957 in die Buchläden kam, lag noch immer ein dicker Schleier des Vergessens über der jüngsten deutschen Geschichte. Viele Ex-Nazis machten in der Bundesrepublik unter Kanzler Konrad Adenauer in Wirtschaft, Justiz und seit 1955 auch in der neu gegründeten Bundeswehr Karriere. Gegen den Widerstand der westdeutschen Friedensbewegung und der SPD setzte die CDU-Regierung die Wiederbewaffnung Westdeutschlands und den Beitritt zur NATO durch. Im August 1956 wurde außerdem die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten. Wer dagegen protestierte, darunter viele Mitglieder der von Andersch mitbegründeten Schriftstellervereinigung Gruppe 47, geriet unter den Generalverdacht des Landesverrats.
Entstehung
Auf die Frage zur Entstehung von Sansibar oder der letzte Grund berichtete Andersch in einem Interview von einer Wanderung an der mecklenburgischen Küste im Jahr 1938, die ihn zum Schreiben veranlasst habe. Die Erinnerung daran sei in "graues Licht" gehüllt gewesen und habe eine "magische Qualität" angenommen. Wer jedoch in dem realen Ostseebad Rerik nach Schauplätzen des Romans sucht, wird enttäuscht. Die im Buch beschriebenen roten Türme stehen in Wirklichkeit in Wismar, ebenso wie Helanders Kirche St. Georgen. Die 1930 entstandene und später von den Nazis als "entartet" eingestufte Holzplastik "Lesender Klosterschüler" von Ernst Barlach befindet sich in Güstrow, wo ihr Erschaffer lebte und arbeitete.
Literarisch beeinflusst wurde Andersch durch die Werke der amerikanischen Gegenwartsliteratur, darunter Ernest Hemingway, William Faulkner und John Steinbeck. Er entdeckte sie während seiner Kriegsgefangenschaft in den Vereinigten Staaten, nachdem er 1944 in Italien zu den Amerikanern übergelaufen war. Diese Flucht in die Gefangenschaft war für ihn der Schritt in die Freiheit, ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch sein Werk zieht. Andersch begann 1955 neben seiner Tätigkeit als Rundfunkredakteur und Herausgeber der Literaturzeitschrift Texte und Zeichen mit der Niederschrift des Romans. Die Arbeitsbelastung war beträchtlich. Seinem Schriftstellerkollegen Arno Schmidt schrieb er kurz vor der Veröffentlichung: "Unter uns darf ich Ihnen freilich sagen, dass ich der Sache unendlich müde bin, zurzeit auch völlig überarbeitet und aller Kurzschlusshandlungen fähig."
Wirkungsgeschichte
Der Roman erschien 1957 und wurde schnell ein Publikumserfolg. Arno Schmidt interpretierte ihn als Parabel auf die Politik unter Adenauer und fand darin eine "sachlich unwiderlegbare Anklage gegen Deutschland" sowie "Unterricht in (ja, fast Anleitung zur) Flucht als Protest". Für Andersch bedeutete der kommerzielle Erfolg seines Romandebüts tatsächlich die Möglichkeit zur Flucht aus Nachkriegsdeutschland, der "Demokratie der schmutzigen Hände", wie er es nannte. 1958 zog er mit seiner Familie in die Schweiz.
Kritisiert wurde der Roman wiederholt dafür, dass er die Nazis nicht beim Namen nannte, sondern stets als "die Anderen" bezeichnete. Der Schriftsteller und Kritiker Reinhard Baumgart nannte dies ein "lügnerisches Stilisierungsprinzip". 1993 veröffentlichte der Schriftsteller W. G. Sebald in der Zeitschrift Lettre einen Essay, in dem er Anderschs Selbstdarstellung als Deserteur und Widerständler anzweifelte und ihm u. a. vorwarf, seine Biografie "verundeutlicht" und beschönigt zu haben. Sebald hat zweifellos mit seiner Attacke den Ruf des Autors erheblich beschädigt. An Anderschs Rang als einer der Schlüsselfiguren der deutschen Nachkriegsliteratur hat das jedoch nichts geändert. In den meisten deutschen Schulen ist Sansibar oder der letzte Grund nach wie vor Pflichtlektüre. 1987 wurde das Buch von Bernhard Wicki verfilmt.
Über den Autor
Alfred Andersch wird am 4. Februar 1914 in ein rechtskonservatives, kleinbürgerliches Elternhaus in München hineingeboren. 1928 verlässt er das Gymnasium, macht eine Buchhändlerlehre und tritt 1930 in den Kommunistischen Jugendverband ein. 1933 sitzt er dafür ein paar Monate im Konzentrationslager Dachau ein. Als er ein zweites Mal verhaftet wird, wendet er sich von der Politik ab. 1935 heiratet er die Halbjüdin Angelika Albert. 1938 zieht die Familie nach Hamburg, wo Andersch als Werbeleiter in einer Fotopapierfabrik arbeitet, zusammen mit seinem Schwager, der 1938 auf Druck von Göring entlassen wird und daraufhin einen Herzinfarkt erleidet. In dieser Phase der „totalen Introversion“ verfasst Andersch erste literarische Skizzen. 1940 wird er zum Militär einberufen. Andersch drängt seine Frau zur Scheidung, da die Ehe seit einiger Zeit zerrüttet ist und er sich dadurch erhofft, endlich als Schriftsteller etwas veröffentlichen zu können. Damit überlässt er seine Frau und die gemeinsame Tochter ihrem Schicksal, der Deportation. Im Mai 1944 wird Andersch nach Italien an die Front geschickt, am 6. Juni 1944 desertiert er. Auf diesen Erlebnissen basiert die Erzählung Die Kirschen der Freiheit, die 1952 ein gewaltiges Erdbeben im deutschen Nachkriegsfeuilleton verursacht. Während der Kriegsgefangenschaft in den USA arbeitet er an der Lagerzeitung Der Ruf mit, die er später zusammen mit Hans Werner Richter wieder neu gründet. Mit ihm ruft er 1947 auch die Schriftstellervereinigung Gruppe 47 ins Leben. Andersch ist jahrelang Leiter des Abendstudios Frankfurt und setzt sich in seinen Radioessays für junge unbekannte Autoren ein, darunter Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Arno Schmidt. 1957 erscheint der Roman Sansibar oder der letzte Grund. Desillusioniert durch die westdeutsche Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauer siedelt Andersch 1958 in die Schweiz über. 1960 erscheint der Roman Die Rote. Am 21. Februar 1980 stirbt Alfred Andersch im schweizerischen Berzona.
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