Hermann Burger
Schilten
Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz
Nagel & Kimche, 2009
Was ist drin?
Ein moderner Klassiker der Schweizer Literatur: der wahnwitzige Bericht eines verlorenen Lehrers.
- Roman
- Nachkriegszeit
Worum es geht
Lustig bis zum Wahnsinn
Schilten liegt tief in der Schweizer Provinz. Der junge Lehrer Peter Stirner stellt dort eine Schule auf den Kopf, weil er die Nähe des Friedhofs nicht erträgt. Er unterrichtet seine Schüler in Todeskunde und lässt den Friedhof und dessen kauziges Personal von seiner „Einheitsförderklasse“ beobachten. Nach und nach verliert der Dorflehrer jedoch die Kontrolle, die Hoffnung und den Verstand; er verzweifelt an seiner Existenz und glaubt sich scheintot. Als Stirner entlassen wird, setzt er unter dem Pseudonym Armin Schildknecht zu einer Rechtfertigungsschrift an. Im „Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz“ rekapituliert er das gescheiterte Experiment und einen Großteil des absurden Schulstoffs, um wieder ins Amt gesetzt zu werden. Als er die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens einsieht, lässt er sein Pseudonym sterben und gibt auf. Das furiose Romandebüt von Hermann Burger besticht durch seine verspielte Virtuosität und die Dichte von absurdem Wissen und grotesken Einfällen. Bei aller Komik dominiert aber ein düsterer Ton: In Schilten verzweifelt jemand am Leben.
Take-aways
- Hermann Burgers Debüt Schilten gehört zu den wichtigsten Schweizer Romanen der Nachkriegszeit.
- Inhalt: Peter Stirner ist Lehrer in Schilten, einem abgelegenen Ort im Kanton Aargau. Die Nähe des Friedhofs, die Sinnlosigkeit seines Berufs und die Einsamkeit lassen ihn verzweifeln. Aufgrund seiner exzentrischen Lehrmethoden wird er entlassen, er bleibt aber trotzdem im Schulhaus und doziert vor leeren Bänken weiter. Unter dem Pseudonym Armin Schildknecht verfasst er einen wahnwitzigen Bericht für die Schulinspektoren.
- In Schilten wird die Psyche eines ganzen Landes dargestellt und karikiert.
- Der Bericht ist ein überzeichnetes, aber treffendes Bild des Dorflebens der 1970er Jahre.
- Das fiktive Dorf Schilten ähnelt dem realen Ort Schiltwald, in dessen Nachbardorf Burger aufwuchs.
- Dem Germanisten und Kunsthistoriker Burger gelang mit seinem Romandebüt der Durchbruch als Schriftseller.
- Burgers Stil – ausufernd und vollgepackt mit abseitigem Wissen – spiegelt sich in den grotesken Schullektionen seines Protagonisten.
- Burger litt an schweren Depressionen, die er überspielte, bis er sich 1989 das Leben nahm.
- Marcel Reich-Ranicki nannte ihn den „skurrilsten Humoristen der deutschen Literatur“.
- Zitat: „Der Scheintote wird von seinen Mitmenschen in eine Lage gebracht, aus der sich befreien zu wollen ihn das Leben kostet.“
Zusammenfassung
Ein Lehrer im Abstellraum
Der 30-jährige Peter Stirner ist seit zehn Jahren Schulmeister in Schilten, einem abgelegenen Dorf im Schweizer Kanton Aargau. Da gegen ihn ein Disziplinarverfahren im Gang ist, schreibt er unter dem Pseudonym Armin Schildknecht einen Bericht für die Inspektorenkonferenz. Er lädt den Schulinspektor ein, sich selbst ein Bild von den Verhältnissen in Schilten zu machen, wo Stirner alias Schildknecht als einziger Lehrer im Schulhaus selbst wohnt. Direkt daneben liegt der Friedhof Engelhof, was den Schulbetrieb behindert: Die Trauerfeiern finden in der Turnhalle statt, und Lehrer Schildknecht muss sie am Harmonium begleiten.
„So wie ich hier hause, doziere ich auch. Die klare Trennung von Schulsphäre und Privatsphäre existiert nur in den dumpfen Köpfen der Eltern meiner Schüler.“ (S. 7)
Auf dem Schulgelände lebt auch Hauswart Wiederkehr und dessen Halbschwester Schüpfer Elvyra. Er ist für Schule und Friedhof zugleich zuständig. Bei einer typischen Totenfeier kommt das ganze Dorf in die Turnhalle. Der Prediger Bruder Stäbli leitet den Anlass. Stets anwesend ist auch der geistig behinderte Stefan Wigger, der als Einziger der Gemeinde Schildknechts hingebungsvolles Harmoniumspiel zu schätzen scheint. Schildknecht fühlt sich in dem Raum, in dem das Harmonium gewöhnlich steht, wie ein Häftling. Trotzdem begibt er sich auch in der Freizeit in die dunkle, feuchte „Mörtelkammer“, weil er das expressive Spiel sehr liebt. Der alleinstehende Lehrer lässt sich sein Essen von Schüpfer Elvyra in der Turnhalle servieren. Beide teilen sich die Waschküche als Bad.
Drohende Entlassung
In pädagogischer Hinsicht ist Schildknecht das Gegenteil von Paul Haberstich, seinem Amtsvorgänger. Dessen Asche – er starb am Tag nach seiner Pensionierung – wird auf dem Dachboden aufbewahrt. Nach dem Unterricht schreibt Schildknecht Tag und Nacht im Lehrerzimmer an seinem Bericht. Im Raum befindet sich eine Sammlung von ausgestopften Raubvögeln, von denen er sich bedrohlich beobachtet fühlt.
„Der Mörtelkammer-Häftling (...) ist lebendig und sichtbar im Schulhaus eingemauert, Herr Inspektor.“ (S. 49)
Schildknechts Existenz als Landschulmeister gleicht dem Schicksal eines lebendig Begrabenen. Sein Unterricht besteht vor allem aus Diktieren. Seine Schüler schreiben den ganzen Stoff ins „Generalsudelheft“. Schildknecht hält Didaktik für den Todfeind des Lebens. Auf Rechtschreibung legt er keinen Wert. Die vollgeschriebenen Generalsudelhefte nimmt kein Schüler mit nach Hause: Der Lehrer braucht sie als Rohmaterial für seinen Schulbericht, dessen Reinschrift er nächtelang obsessiv vorantreibt. Sein Ziel ist es, sich zu rehabilitieren und die Entlassung abzuwenden.
Ungeheuerliches Schulhaus
Die Präsenz des Friedhofs wird immer stärker. Um die Schule gegen den Friedhof zu verteidigen, lässt Schildknecht seine Schüler alles genau beobachten und notieren. Friedhof und Schule verfügen über ein einziges, gemeinsames Telefon im Lehrerzimmer. Da Hauswart Wiederkehr ungern telefoniert, werden mehrere Schüler freigestellt, um Anrufe für ihn entgegenzunehmen. Für den Lehrer ruft nie jemand an. Weil ihn das Telefon stört, animiert Schildknecht seine Telefonwachen zu subversiven Guerilla-Rückrufen. Um das Telefon entbrennt ein regelrechter Krieg zwischen Schule und Friedhof. Aus Einsamkeit führt Schildknecht ohne konkreten Anlass Telefone mit der Auskunft. Bald entsteht aus den Beobachtungen der Klasse auf dem Friedhof eine Chronik, das „Friedhofsjournal“. Während Wiederkehr Gräber aushebt, schimpft und schuftet, schleicht das „Engelhof-Faktotum“ Wigger auf dem Friedhof herum. Der schwermütige Trottel bringt durch seine bloße Anwesenheit auf dem Friedhof Wiederkehrs Arbeitsordnung durcheinander.
„Der Lehrer von Schilten lebt friedhofbezogen und waldbezogen, eremitisch und totenwächterhaft zugleich.“ (S. 62)
Die Schulhausuhr ist das mechanische Herz des Schulhauses. Ihr Ticken durchdringt Schildknechts gesamtes Universum. Der Friedhof dominiert auch die Zeit in Schilten: Das Ziffernblatt der Uhr zeigt gegen den Engelhof. Das Wahrzeichen Schiltens ist das Glockentürmchen des Schulhauses, der Dachreiter. Sogar die Schulhausglocke hat eine Funktion für den Friedhof: Bei einem Todesfall wird sie je nach Alter und Geschlecht der Toten auf unterschiedliche Weise angeschlagen, eine Art letztes Erkennungszeichen. Die Klasse entwickelt Theorien über den Tod von Haberstich, der wohl durch Suizid verschieden ist, nachdem ihm die Sinnlosigkeit des Lehrerseins bewusst geworden war.
Die Schildknecht’sche Krankheit
Lehrer Schildknecht leidet an seinem Beruf und ist oft krank. Er nennt seine chronische Krankheit die „Schildknecht’sche“. Sie besteht aus inneren Verletzungen durch den Beruf und ist verpönt, weil sie keine äußeren Symptome zeigt. Die Schüler sehnen sich nach einem Unterricht in Geografie und anderen Fächern und vernachlässigen Schildknechts Neuerungen. Als der Landarzt Franz Xaver Krähenbühl bei Schildknecht auf Krankenbesuch kommt, diagnostiziert er eine schwere „Erkältung des Lebenswillens“ und gibt Ratschläge, dem Schmerz auszuweichen. Der Arzt meint, das Beste, was Schildknecht passieren könnte, wäre, zur Aufgabe des Berufs gezwungen zu werden.
„Unter Schildknecht ist die Vogelkunde in Schilten abgeschafft worden, wie überhaupt die Realien sukzessive durch Surrealien und Irrealien ersetzt worden sind.“ (S. 71)
Um den Friedhof in den Griff zu bekommen, forciert der Lehrer in der Klasse das Fach Friedhofskunde. Die Geschichte der Friedhöfe, Bräuche und Berichte über Scheintote werden aufgezeichnet, und jeder Besucher wird registriert. Mehr und mehr doziert Schildknecht über die Köpfe der Schüler hinweg.
„Was gelehrt werden kann, ist meistens nicht wert, gelernt zu werden.“ (S. 81)
Schilten ist abgelegen – in jedem Sinn. Die Verkehrswege, die in den Weiler am Ende des Schilttals führen, sind verworren. Eine direkte Verbindung zu Aarau besteht nicht, der Reisende muss zweimal auf Regionalbahnen mit unterschiedlichen Spurbreiten umsteigen. Das letzte Stück bis zur Endstation Schilten wird nur unregelmäßig von einem privaten Postautokurs bedient. Obwohl Schildknecht nie Post erhält, platzt täglich Posthalter Friedli in den Unterricht. Dieser war unter Haberstich verpflichtet, die Schulpost pünktlich und eigenhändig zuzustellen. Schildknecht beklagt sich bei Friedli über die störenden und sinnlosen Besuche und über die „postalische Diskriminierung“, die er erleidet. Er unterstellt der Post, sie sei schuld, dass er während zehn Jahren kein einziges relevantes Schreiben erhalten habe.
Der Harmoniumfreund
Die Schüler arbeiten weiter am Friedhofsjournal. Mehr und mehr Mitglieder der „Einheitsförderklasse“, die Schildknecht gegründet hat, werden zu Sonderfunktionen abkommandiert, sodass nur eine kleine Gruppe im Schulzimmer bleibt. Zum Stoff gehören etwa die Besucherstatistik des Friedhofs, Grabsteintypologie sowie Dialektkunde. Eine Devise Schildknechts lautet, stets die Fenster zu öffnen. Da diese zum Engelhof hinausführen, ist die Klasse zwangsläufig auf den Friedhof fixiert. Im „Gräber-Schnellrezitieren“ sagen die Schüler auswendig Name, Todesdaten, Standort und Inschrift jedes Grabes auf.
„Je größer das Bollwerk der Notizen, desto schriftlicher und somit unanfechtbarer meine Schulmeisterexistenz!“ (S. 87)
Schildknecht nennt sich selbst „Schulverweser“. Er glaubt nicht mehr daran, dass seine Krankheit aufzuhalten ist. In einer Rumpelkammer unter dem Dach findet er gesammelte Ausgaben der Zeitschrift Der Harmoniumfreund. Er diktiert daraus, während er am Harmonium spielt: vom Streit zwischen Vertretern der Sauglufttechnik und der Druckluftfraktion und von Harmoniumkünstlern, die am Spiel zugrunde gingen. Das empfindliche und labile Instrument eignet sich hervorragend zur Interpretation von Todesgedichten.
Im Nebel verschellen
Der Pädagoge unterrichtet nun verstärkt draußen im Nebel. Der Nebel, das Anagramm für Leben, ist seine Welt; hier vermischt sich das Irreale mit dem Realen. Schildknecht gibt Nebelunterricht und Nachtunterricht auf dem Friedhof. Der Nebel schärfe die Sinne, diktiert er. Im Nebel kann man auch gut untertauchen und plötzlich verschollen sein. Schildknecht plant, selbst zu „verschellen“. Er schließt eine Lebensversicherung ab. Eine Klausel besagt, dass, sollte der Lehrer verschollen sein, seine letzten Schüler die hohe Versicherungssumme erhalten. Schildknecht benützt diesen Umstand auch als Erpressungsmittel, um die Schüler am Austritt aus der Klasse zu hindern. Aktiv zu verschellen ist jedoch rechtlich heikel, denn es braucht eine amtliche Verschollenheitserklärung. Trotzdem will er verschellen, um dem Schulleben zu entrinnen. Der Lehrer macht den Schülern den Unterschied zwischen einem Scheintoten, einem Scheinlebendigen und einem Verschollenen klar.
Schwerpunktthema Scheintod
Der Winter bricht herein. Während der kalten Jahreszeit fällt der Unterricht aus, die Schüler vergnügen sich beim Schlitteln. Schildknecht kommen Zweifel, ob er mit dem Bericht die Obhut über seine Schule zurückgewinnen kann. Er setzt aber neue Hoffnungen in das Schloss Trunz, das für ihn das Recht verkörpert. Denn dort soll die Konferenz der Inspektoren stattfinden, die über sein Schicksal entscheidet. Der Schulstoff wird immer irrealer. Zu Nacht- und Nebelunterricht und der Verschollenheitslehre kommen weitere „Irrealien“ und „Surrealien“ hinzu, etwa der Scheintod. Er ist gemäß Schildknecht die einzige Form des Todes, die am eigenen Leib zu erfahren ist. Die Schüler konzentrieren sich auf zwei Aufgaben: ein Verschollenheitsverfahren einzuleiten und einem Scheintoten Erste Hilfe zu leisten. Wie viele Dichter und Denker hat auch Schildknecht Angst vor dem Scheintod. Er lässt Gräber mit Alarmglocken einrichten. Schließlich führt er mit den Schülern ein Scheintotenpraktikum in der Turnhalle durch. Jeder legt sich in die Grube zur Aufbewahrung der Stühle unter dem Turnhallenboden und rezitiert unter Brettern das Gedicht Lebendig begraben von Gottfried Keller.
Lehrer ohne Schüler
Das neue Jahr bricht an; es bleibt kalt. Im Wald wird geholzt – Schildknecht doziert „Kahlschlagslehre“. Er hat jetzt fast keine Schüler mehr, weil die Eltern ihre Kinder von ihm fernhalten. Zum Unterricht der Restgruppe gehört eine Fahrt zum Schloss Trunz; Schildknecht will den Versammlungsort der Konferenz auskundschaften. Er malt sich einen pompösen Galaempfang für die Inspektoren aus, an dem ein Schauspieler die ganze Nacht lang die Hefte seines Schulberichts rezitiert. Am Morgen wären die Inspektoren dann so zermürbt, dass alle erhobenen Anklagen hinfällig würden. Im Februar ist die Einheitsförderklasse ganz verwaist. Schildknecht hat keine Schüler mehr, aber er bleibt im Schulhaus und referiert weiter, im leeren Schulzimmer und am Harmonium. Der Prozess scheint ihm jetzt hinfällig. Es ist Schildknecht egal, ob er rehabilitiert oder entlassen wird. Sein Lehrerleben ist verpfuscht. Die Turnhalle wird von Dorfvereinen für Proben in Beschlag genommen. Schildknecht „wiggert“ nun seinerseits im Schulhaus umher, er mutiert zum Schul-Wigger und fühlt sich dem Friedhof-Faktotum so nah wie nie.
Schildknechts Ende
Die Generalprobe der Blasmusik Concordia vertreibt Schildknecht aus dem Schulhaus. Er irrt durch den Wald und will zu Wigger, der an der Grenze zum Luzernischen wohnt. Tief im verschneiten Schiltwald scheint ihm sein Kampf gegen den Engelhof so nutzlos wie nie, nutzloser als jedes Schulwissen. Der Schulmeister platzt in einen Maskenball in einem Gasthaus. Er selbst trägt eine Totenmaske und geht an den schrill verkleideten Tanzenden vorbei. Er kämpft sich durch die ausgelassene Menge zur Theaterbühne durch. Darunter findet eine Fasnachtsorgie statt. In einem dunklen Treppenunterraum schließt sich Schildknecht ein.
„Die Prontoordonnanz, einer der beliebtesten Posten unter meinen Schülern, übernimmt eine große Verantwortung: Sie entscheidet in eigener Kompetenz darüber, ob wir das Telefonat durchgehen lassen wollen oder nicht.“ (S. 103)
Der Lehrer wird durch Glockentöne geweckt. Er steht auf und eilt zur Turnhalle zurück, um seine eigene Beerdigung nicht zu verpassen. Er beschließt, fortan nicht mehr als Armin Schildknecht zu existieren. Zur Trauerfeier ist das ganze Dorf da; das zerstörte Harmonium spielt ganz allein. Der Lehrer will einen letzten, kurzen Appell von der Galerie an die Gemeinde richten. Er hört tosenden Applaus.
Nachwort
Im Nachwort erläutert der Inspektor einige Hintergründe des Berichts. Peter Stirner ist bereits vor drei Jahren wegen seines ausufernden Unterrichts entlassen worden. Er hat der Gemeinde danach das nicht mehr benötigte Schulhaus abgekauft. Fortan hielt er im leeren Schulhaus Geisterlektionen und verfasste seinen Bericht als Selbsttherapie. Der Inspektor bedauert, dass sich die geistige Verfassung Stirners verschlimmert hat. Der Staat übernehme aber die psychiatrischen Behandlungskosten.
Zum Text
Aufbau und Stil
Hermann Burgers Schilten ist in 20 nummerierte „Quarthefte“ eingeteilt. Ein kurzes Nachwort des Schulinspektors gibt vor, die wahnwitzige Schrift des ehemaligen Schulmeisters von Schilten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie Armin Schildknechts Unterricht lebt auch die Sprache seines „Schulberichts zuhanden der Inspektorenkonferenz“ von Abschweifungen und von der absurden Anhäufung detaillierten Wissens. Die ausufernden Lektionen des besessenen Lehrers – vollgepackt mit grotesken Einfällen, aberwitzigen Beispielen und genauen Beschreibungen des Schweizer Dorflebens – sind nicht immer leicht lesbar. Mit bewundernswerter sprachlicher Artistik zeichnet Burger ein böses Bild einer Welt am Rande des Friedhofs, das von der Detailversessenheit des Protokollanten lebt.
Interpretationsansätze
- Schilten ist das Protokoll einer Reise in den Wahnsinn, geschrieben von einem Lehrer, der in der Enge und Verlassenheit seiner Dorfschule Kontrolle, Verstand und Beruf verliert. Am Anfang scheint der Unterricht noch nahezu normal, doch im Abwehrkampf gegen die Kräfte des Friedhofs wird das Experiment „Einheitsförderklasse“ immer bizarrer.
- Schilten ist ein Modell für die Psyche eines Landes und ein wichtiges Beispiel des Regionalismus in der Literatur. Mit Hauswart Wiederkehr, Posthalter Friedli, Friedhofnarr Wigger u. a. überzeichnet der Roman typische dörfliche Figuren und karikiert sie in ihrer provinziellen Beschränktheit.
- Der Hilferuf des Pädagogen lässt sich auch in vielfältiger Weise als Brandrede lesen: gegen Autoritäten, Beamtentum, Kleinbürgerlichkeit und Unwissen.
- Im Bericht vermischen sich Wahn und Wirklichkeit. Armin Schildknechts Schulstoff ist so absurd detailliert und ausschweifend, dass man beim Lesen genüsslich und schaudernd im Wahn versinkt. Burger verschmilzt Reales und Irreales dergestalt, dass der Leser nie weiß, was sich wirklich ereignet und was sich der irre Lehrer nur vorstellt.
- Der skurrile Witz des Schulberichts ist doppelbödig: Hinter dem Komischen und Absurden verbirgt sich eine depressive Grundstimmung: So ist das Buch zugleich urkomisch und tragisch.
- Das Schreiben dient Stirner – und Burger – als Selbsttherapie der Depression: Was sein Romanheld tut, tat auch der Autor, als er sich gegen den Lehrerberuf und für die Existenz des Schriftstellers entschied. Im Buch gibt es kein Mittel gegen die „Schildknecht’sche Krankheit“, und auch Burger verlor den Kampf schließlich – er nahm sich 1989 das Leben.
- Der Schulbericht ist eine – vergebliche – Verteidigungsschrift gegen den Tod, ein ausuferndes Memento mori. Die Schule wird vom Tod quasi eingenommen. Sie hat das einzige Ziel, die Kinder auf den Friedhof zu bringen; die Schüler üben den Tod.
Historischer Hintergrund
Fortschritt und Dorfleben
In den 1970er Jahren erlebten viele Ortschaften in der Schweiz eine zaghafte Modernisierung. Wirtschaft und Kultur waren noch weitgehend bäuerlich bestimmt, die dörflichen Strukturen noch intakt, alle kannten sich persönlich, das kulturelle Leben in den Vereinen blühte. Die Kirche hatte ihren Zenit der Macht zwar bereits überschritten, war aber nach wie vor lebendig und Bestandteil des Dorflebens. Gleichzeitig verbreiteten sich Automobile, Fernsehen und Telefon und mit ihnen ein neuer Lebensstil, der den Alltag revolutionierte. Noch fand der Kommerz aber nur in den Dorfläden statt, und die Zeitungen waren das einzige Meinungsmedium.
In der Öffentlichkeit dominierte der Staat: Vor den ersten Ölkrisen und Jahrzehnte vor dem Anbruch des Computerzeitalters erlebten die staatlichen Beamtenbetriebe SBB (Bahn) und PTT (Post) ihre Blütezeit. Die Qualität des Staatsdienstes und der Machtanspruch der Obrigkeit waren noch unbestritten.
Diese Phase der relativen Unversehrtheit und des langsamen geistigen Aufbruchs spiegelte sich auch in der Schule. Die Volkswirtschaft florierte, die Dörfer wuchsen und die Gemeinden bemühten sich darum, den steigenden Schülerzahlen gerecht zu werden. Überall wurden neue Schulanlagen gebaut, während die alte autoritäre Schule mit dem Generationenwechsel des Lehrerpersonals Risse bekam.
Entstehung
Für den jungen Hermann Burger stellte die Karriere im Schuldienst eine ernsthafte Alternative dar. Gegenüber der riskanten Existenz des Schriftstellers, die er letztlich wählte, wäre der Lehrerberuf für den Germanisten die sicherere Option gewesen. Burger achtete den Beruf des Lehrers und sah Parallelen zur Schriftstellerei: Beide Tätigkeiten erforderten ein Höchstmaß an Kreativität, war er überzeugt. Der Schulbericht Schilten kann darum als die schriftstellerische Beantwortung der Frage gesehen werden, was gewesen wäre, wenn sich der Autor für den Lehrerberuf entschieden hätte.
Die Initialzündung für den Roman erhielt Burger, als er einen befreundeten Lehrer im abgelegenen Schulhaus von Schiltwald besuchte. Dieses stand tatsächlich am Waldrand neben einem Friedhof, und bei einer Beerdigung im Dorf wurde die Turnhalle für die Trauerfeier benutzt und die Kinder wurden nach Hause geschickt. Die Uhr, die Lehrerwohnung und das Glockentürmchen, all diese Details übernahm Burger fast eins zu eins für die Kulisse seines Romandebüts.
Aufgewachsen im Nachbarort Burg, kannte er das Dorfleben gut und schätzte die Lebendigkeit der kulturellen Aktivitäten in der Provinz. An diesem Schauplatz verwob Burger seinen Stoff in langjähriger Arbeit und insgesamt acht Fassungen zu seinem ersten Roman. Als besessener Rechercheur häufte er ein immenses Wissen an – etwa über die rechtlichen Fragen bei Lebensversicherungen von Verschollenen – und wob es in den Monolog seines Protagonisten ein.
Wirkungsgeschichte
Die Bewohner von Schiltwald im Aargauer Ruedertal fühlten sich durch den Roman persönlich betroffen. Die Bevölkerung entrüstete sich über die Verspottung, und Burger sah sich zu einer Replik in der Lokalzeitung veranlasst, in der er den Ort Schilten als fiktiv bezeichnete.
Trotz dieses regionalen Literaturskandals war die Kritik überwältigt vom fulminanten Auftritt des jungen Schweizer Schriftstellers. Die Rezensenten waren gleichzeitig fasziniert und irritiert von der Fülle des Stoffs und der stilistischen Brillanz. Der Tenor war, dass dieses sperrige Buch der Leserschaft zwar viel abverlange, aber sie dafür auch reich belohne.
Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki förderte Burger und wurde zu seinem Mentor. Er stellte ihn in eine Reihe mit Thomas Bernhard, den Burger selbst als sein Vorbild nannte, und bezeichnete ihn später als den „skurrilsten Humoristen der deutschen Literatur“. Mit seinem Romandebüt Schilten wurde Burger 1976 auf einen Schlag bekannt. Hier zeigte sich auch bereits das zentrale Motiv des Schriftstellers, der seine existenziellen Nöte mit künstlerischer Virtuosität zu kompensieren versuchte: das Außenseitertum. 1979 wurde der Roman von Beat Kuert an den „Originalschauplätzen“ in Schiltwald verfilmt. Heute gilt Schilten als eines der wichtigsten und witzigsten Bücher der Schweizer Literatur.
Über den Autor
Hermann Burger wird am 10. Juli 1942 im aargauischen Burg bei Menziken geboren. Er wächst in einem gutbürgerlichen Haus auf und zeigt schon früh seine künstlerische Begabung, sowohl im Schreiben und Malen als auch in der Musik. Er beginnt ein Architekturstudium, bricht aber nach vier Semestern ab und studiert stattdessen Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. 1967 erscheint eine Lyriksammlung, 1970 werden erste Prosatexte publiziert. Nach seiner Promotion und Habilitation arbeitet Burger als Privatdozent für Neuere deutsche Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Zudem gehört er zur Feuilletonredaktion des Aargauer Tagblatts. 1967 heiratet Burger Annemarie Carell, mit der er zwei Kinder hat. Sein erster Roman Schilten (1976) schildert das Schicksal eines depressiven Schullehrers und macht Burger bekannt. Der passionierte Zigarrenraucher leidet immer stärker an Depressionen, die er im autobiografisch gefärbten Roman Die künstliche Mutter (1982) thematisiert. 1985/86 hält er als bis dahin jüngster Dozent Poetikvorlesungen an der Universität Frankfurt. 1988 wird seine Ehe auf Wunsch der Frau geschieden und Burger trennt sich ebenfalls von seinem Verlag. Im gleichen Jahr publiziert er eine literarische Suizidankündigung, die von der Kritik jedoch nicht ernst genommen wird: In Tractatus logico-suicidalis schreibt er 1046 Aphorismen über den Satz: „Gegeben ist der Tod, bitte finden Sie die Lebensursache hinaus.“ Burger wird inzwischen als einer der bedeutendsten Schweizer Autoren der Literatur nach 1945 anerkannt. Für sein literarisches Werk erhält er u. a. den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis und den Ingeborg-Bachmann-Preis. Am 28. Februar 1989 nimmt er sich in seiner Wohnung im Pächterhaus von Schloss Brunegg im Kanton Aargau mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.
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